Kitabı oku: «Wenn die Götter auferstehen und die Propheten rebellieren», sayfa 2

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Das, was wir richtig oder falsch machen, verantworten wir nicht selbst, sondern wird durch allgemeingültige Prozesse gesteuert und verantwortet, die vom Menschen nicht beeinflusst werden können. Ich sterbe an Krebs, nicht weil ich das will, sondern weil meine Gene so programmiert sind (Biologismus: Selektion). Ich vergewaltige Kinder, nicht weil ich das will, sondern weil ich von meinen Eltern sexuell misshandelt wurde (Psychologismus: Trauma). Der Zweite Weltkrieg brach nicht aus, weil man das wollte, sondern wegen einer zu hohen Arbeitslosigkeit (Soziologismus/​Historismus: Wirtschaftskrise) (siehe Abb. 3).

Subjektivismus und Objektivismus haben folglich ein gemeinsames Problem: Wirkliche Gemeinschaft zwischen Menschen ist nicht mehr möglich. Beim Subjektivismus ist jeglicher gemeinsame Nenner zwischen zwei Menschen abwesend und damit weder echte Kommunikation noch gegenseitiges Verstehen oder Verantwortung gegenüber dem anderen möglich. Beim Objektivismus ist ein gemeinsamer Nenner vorhanden (bestimmte allgemeingültige Prozesse), aber dieser gemeinsame Nenner tritt als Verursacher aller menschlicher Handlungen auf und hat zur Folge, dass keine individuelle Freiheit oder Verantwortung bestehen, was Grundvoraussetzungen für echte Gemeinschaft sind.

1.3 Jeder denkt es, jeder glaubt es

Die zwei eingangs beschriebenen Beispiele (siehe 1.1) stehen stellvertretend für unser Lebensgefühl – das Lebensgefühl des modernen Menschen. Sowohl der Subjektivismus als auch der Objektivismus haben verursacht, dass die zwei Studenten und Alexandra keine wirklich großen Träume mehr haben, sondern von Lethargie begleitet werden. Für die einen verhindert die allgemeine Relativität menschlichen Denkens, Fühlens und Glaubens, dass man sich für »das« Ideal völlig einsetzt. Für die anderen wirkt sich die Tatsache, dass die erlebte Freiheit nur Illusion ist und der Mensch in Wahrheit fremdbestimmt wird, sinnentleerend aus. Hier macht sich der Mensch nicht selbst, sondern er wird gemacht (3. Person-Perspektive). Nun kann man den modernen Menschen aber nicht in Subjektivisten und Objektivisten aufteilen. Weil der Mensch nicht sinnentleert leben kann, wird er nie entschlossen reiner Subjektivist oder Objektivist sein können. Es ist gerade typisch für den modernen Menschen, dass er gleichzeitig im Subjektivismus und im Objektivismus lebt. Durch die Kombination dieser beiden Dogmen möchte er deren Nachteile überwinden. Die Nachteile des Subjektivismus (z. B. keine allgemeingültigen Regeln) kehrt der Objektivismus in Vorteile um (z. B. allgemeingültige Naturgesetze). Die Nachteile des Objektivismus (z. B. Fremdbestimmung) werden im Subjektivismus oft vorteilhaft verändert (z. B. individuelle Freiheit) (siehe Abb. 4).

Jeder moderne Mensch denkt, handelt und fühlt täglich auf der Basis dieser beiden Dogmen:

1. Wenn wir krank sind, gehen wir zum Mediziner, der die allgemeingültigen Gesetze, aufgrund deren wir krank oder gesund werden, kennt. Wenn wir nach Lösungen suchen, um den Terrorismus zu bekämpfen, gehen wir zum Historiker oder Soziologen, die uns erklären, welche sozialen Mechanismen und historischen Kontexte einen Menschen zum Terroristen machen. Der Wissenschaftler ist der Priester des modernen Menschen, denn er allein scheint Zugang zum Schicksal zu haben. Er allein kann die Zukunft vorhersagen, weil er in »Kontakt« mit den allgemeingültigen Gesetzen ist, denen sich alles Leben unterwerfen muss. Er kann uns heilen, die Gesellschaft retten und uns den Weg in eine bessere Zukunft weisen.

Dass wir dabei schon längst dem Objektivismus verfallen sind, dem Glauben, dass alles nach Gesetzmäßigkeiten determiniert ist, und damit die menschliche Freiheit untergraben, ist uns oft nicht bewusst. Und da, wo wir uns dessen bewusst sind, schließen wir – wie Alexandra – das Forschungslabor und grenzen den Objektivismus ab. Wenn wir uns verlieben, in die Kirche gehen oder bevor wir uns bei einer politischen Partei engagieren, reden wir nicht mehr von Evolution oder Sozialisation als Erklärungsgrund für unser Handeln. An dieser Stelle trennen wir die Welten.

2. Wenn gute Bekannte sich in Holland bei der Begrüßung dreimal auf die Wangen küssen, dann beurteilen wir deren Begrüßungsritual nicht als zu intim. Wir gehen davon aus, dass es ihre Art der Begrüßung ist und diese in keiner Weise besser oder schlechter ist als z. B. die deutsche Umarmung. Wenn die jüdischen Kinder in der Wohnsiedlung fröhlich vom Purimfest erzählen, sagt mir die katholisch erzogene Nachbarin: »Ja, jeder hat eben so seine eigene Art, Spiritualität zu erleben«. Über Homosexualität wird schon lange nicht mehr aggressiv debattiert. Mein Arbeitskollege findet es zwar nach wie vor schwer nachvollziehbar, aber er sagt letztendlich: »Es gibt eben verschiedene Möglichkeiten, seine Sexualität auszuleben.« Den Papst und seine Auffassungen findet er menschenverachtend: »Der ist noch im Mittelalter stecken geblieben«, meint er.

Wir sind uns alle einig über die Unterschiedlichkeit. Während die einen Elvis vergöttern, trauern die anderen um Kurt Cobain – Musikgeschmack ist eben subjektiv. Wenn jemand noch an das Ideal oder die Wahrheit glaubt, dann nennen wir ihn Fundamentalist. Fundamentalisten glauben, dass ihr Erleben der Wirklichkeit das einzig Wahre ist, und alle anderen sich in ihrer Wahrnehmung täuschen. Auch wenn es immer mehr Fundamentalisten gibt, so sind sie doch die Minderheit in unserer Gesellschaft. Wir aber – als moderne Menschen – erkennen im Gegensatz zu den altmodischen Fundamentalisten, dass es viele unterschiedliche in sich stimmige Möglichkeiten gibt, die Welt zu erfahren. Dass wir dabei oft schon längst subjektivistisch geworden sind, ist uns oft nicht bewusst. Aber wenn wir unseren eigenen Komfort bedroht sehen, lassen wir das Dogma Subjektivismus schnell fallen und berufen uns auf medizinische Gutachten (Objektivismus), um die 37-Stunden Woche zu bewahren. Da reden wir dann nicht vom 20-Zoll-LCD-Bildschirm, den wir uns geleistet haben, der aber eigentlich nicht nötig ist.

Niemand würde verneinen, dass es allgemeingültige Gesetze gibt, die zu einem großen Teil unser Leben bestimmen, aber keiner will sagen, dass wir fremdbestimmte Maschinen sind, und Freiheit eine Illusion ist. Niemand würde verneinen, dass es individuelle Freiheit gibt, aber keiner will behaupten, dass der andere tun und lassen kann, was er will. Und bevor wir zur Maschine oder zum Tyrannen werden, entscheiden wir uns für ein unklares Leben zwischen zwei Dogmen, denen wir glauben, aber dann doch nicht vertrauen wollen. Wir sind Opfer einer Erpressung zweier Dogmen: Wir leben in der Zwickmühle. Darin liegt die Ursache für die Sinnleere, die der moderne Mensch erlebt.

1.4 Problembehandlung

Manche sind sich ihrer Opferrolle sehr, manche sind sich ihrer weniger bewusst. Aber für alle gilt, dass das Leben zwischen den Dogmen sich auf die eigene Existenz sinnentleerend auswirkt. Ein Leben mit wirklicher Überzeugung und Orientierung kann der moderne Mensch nicht leben. Was bleibt, ist Lethargie als Grundstimmung. Es mag seltsam erscheinen, aber unsere Opferrolle ist zum großen Teil selbstgemacht. Zwar haben nicht wir das Problem erzeugt, aber die Grundlagen für die Entstehung dieser modernen Sackgasse sind durch unsere Vorfahren vor ungefähr 400 Jahren gelegt worden. Und weil wir als moderne, fortschrittsliebende Menschen lieber vorausschauen, als in die primitive Vergangenheit blicken, wissen wir oft nicht mehr, warum wir heute so denken wie wir denken.

Und so müssen wir uns die historische Frage stellen, wie die Zwickmühle zwischen Subjektivismus und Objektivismus entstanden ist. Nur so werden wir unser Dilemma verstehen. Und nur dann kann in den weiteren Reflexionen sichtbar werden, wie die biblischen Schriften mit ihren Propheten eine überzeugende Gegenposition zum philosophischen Dilemma unserer modernen Zeit entwerfen.

In der folgenden Reflexion wird versucht, den Ursprung der Zwickmühle zu verstehen und die Gedanken der Vorfahren zu begreifen. Danach wird das menschliche Denken kritisch hinterfragt (Reflexion 3). In den Reflexionen 4 bis 6 wird der biblische Gegenentwurf der Propheten aufgezeigt.

1.5 Klärung

Wir haben gesehen, dass Subjektivismus und Objektivismus als Dogmen bei allen modernen Menschen als Basis für Denken, Handeln und Entscheiden funktionieren. In den meisten Fällen operieren diese Dogmen im Unterbewusstsein. Dabei lassen sie eine sinnentleerte Atmosphäre im Leben des modernen Menschen entstehen. Es ist darum wichtig, sich bewusst zu werden, wo und wie diese Dogmen im eigenen Denken und Fühlen anwesend sind.

Die folgenden Aufgaben sollen helfen, Spuren des Subjektivismus und Objektivismus im eigenen Leben und Lebenskontext aufzuspüren.

→ Untersuche, wo sich in deinem täglichen sozialen Kontext (Schule, Universität, Arbeitsplatz) Hinweise auf Subjektivismus und Objektivismus finden lassen. Du entdeckst diese Hinweise meist in Gesprächen, in denen unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen.

→Wie wird in deinem Freundeskreis das Verhältnis zwischen Evolutionismus (Objektivismus) und persönlicher Freiheit und Vorstellungskraft (Subjektivismus) verstanden? Ist die Freiheit und Vorstellungskraft das Ergebnis der Evolution oder ist die Evolutionstheorie das Ergebnis menschlicher Vorstellungskraft? Oder gibt es sogar eine dritte Möglichkeit?

→Lies zur Vertiefung Alvin Plantingas »On Christian Scholarship«. (http://www.calvin.edu/​academic/​philosophy/​virtual_library/​articles/​plantinga_alvin/​on_christian_scholarship.pdf)

→ Schaue dir einen der folgenden Filme an und erörtere, wie sich in diesem Film das Verhältnis zwischen Subjektivismus und Objektivismus darstellt: A beautiful mind, Matrix, Inception.

2 VON DER UNABHÄNGIGKEIT IN DIE GEFANGENSCHAFT

Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein.

(Weber, M. »Wissenschaft als Beruf (1919)«. In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, edited by Winckelmann, J., 582 – 613. 6th ed. Tübingen: Mohr Siebeck, 1985, 502)

Literatur: Kaufmann, W. A. Critique of Religion and Philosophy. Princeton: Princeton University Press, 1978; Nagel, T. »What Is It Like to Be a Bat?« The Philosophical Review 83, no. 4 (1974): 435 – 450; Randall, J. H. The Making of the Modern Mind: a Survey of the Intellectual Background of the Present Age. Boston, New York: Houghton Mifflin, 1926; Taylor, C. Sources of the Self: The Making of the Modern Identity. Cambridge: Harvard University Press, 2006.

2.1 Einleitung: Gegenwart nicht ohne Vergangenheit

In der letzten Reflexion wurde gezeigt, wie sich die modernen Dogmen von Subjektivismus und Objektivismus sinnentleerend auf den Menschen auswirken. Dennoch werden sie in einer gewissen Weise von jedem geglaubt und dominieren den Alltag meist unbemerkt. Die vorgeschlagenen Aufgaben zur Selbstreflexion und zur Beobachtung haben den Einfluss dieser zwei Dogmen auf das eigene Leben vielleicht noch stärker bewusst gemacht. Ich hatte allerdings darauf verwiesen, dass die Grundlagen für diese Zwickmühle selbst erzeugt sind – zwar nicht von uns, aber von unseren Vorfahren. In dieser Reflexion wird versucht zu verstehen, wie eine vergangene Generation der Konstrukteur der modernen Zwickmühle zwischen Subjektivismus und Objektivismus wurde. Danach lassen sich die Schriften des biblischen Prophetentums als sinnvoller Gegenentwurf begreifen.

2.2 Cogito Ergo Sum

In der Schule haben die meisten gelernt, dass Descartes’ Satz »cogito ergo sum« (Ich denke, also bin ich.) gewissermaßen das Fundament der Moderne gelegt hat. Warum? Descartes hatte ein abenteuerliches und von vielen Unsicherheiten geprägtes Leben. In seiner Zeit entstanden die Nationalstaaten im Trubel politischer Unsicherheit; die Spaltung der Großkirche und des Protestantismus fanden statt und riefen eine religiöse Unsicherheit hervor. Durch Entdeckungen von Wissenschaftlern wie Kepler und Kopernikus entstand eine metaphysische Unsicherheit, deren Hauptfrage war: Was ist Realität?

Als Söldner kämpfte er am Anfang des Dreißigjährigen Krieges mal für die Protestanten (Fürst Moritz von Nassau), mal für die Katholiken (Maximilian von Bayern). Descartes sah Tausende ermordete Menschen in Dörfern, Städten und auf Feldern, nur weil sie aus der Sicht der Protestanten nicht an die biblische Wahrheit glaubten. Auf der anderen Seite ermordeten Katholiken mit ganz ähnlicher Begründung Protestanten, um die christliche Wahrheit zu verteidigen. Mord wegen unterschiedlicher Auffassungen von Wahrheit! Neben dem Kriegsgeschehen tat sich in Europa aber noch mehr. Viele Ansichten, die man damals über die Natur und den Kosmos landläufig hatte, wurden durch die Entdeckungen von Kopernikus, Huygens, Kepler und Galileo Galilei überholt. Die Erde war nicht mehr Mittelpunkt des Universums (geozentrisches Weltbild), sondern die Sonne (heliozentrisches Weltbild). Zumindest deuteten darauf alle wissenschaftlichen Berechnungen. Für den wissbegierigen Descartes stellte die Nachricht darüber, dass Galileo Galilei von den Inquisitoren zur Widerrufung seiner Thesen aufgerufen wurde, eine endgültige Kehrtwende dar. Für ihn entstand die zentrale Frage: Wer hat die Autorität, sagen zu können, was Wahrheit und Wirklichkeit sind? Der Papst, Kepler oder Luther? Wann kann ein Mensch überhaupt Gewissheit darüber haben, dass sein Glaube von der Wahrheit handelt und nicht von einer Illusion? Wenn das, wofür man im Dreißigjährigen Krieg kämpfte, am Ende nur Illusion und nicht Wahrheit war, dann war noch weniger zu rechtfertigen, dass man wegen »der Wahrheit« halb Europa tötete. Wie jeder in der damaligen Zeit war Descartes gläubig und fest davon überzeugt, dass es die eine alleingültige Wahrheit gibt. Aber wenn ganz Europa sich nicht einig darüber sein kann, was die Wahrheit ist, dann scheint zumindest halb Europa einer Illusion zu glauben und sich getäuscht zu haben. Und so fand Descartes sehr schnell den Gegenstand seines kritischen Nachdenkens: Täuschung. In seinen Meditationen (Meditationes de prima philosophia) untersucht er, worin man als Mensch überall getäuscht werden kann. Freunde können einen täuschen, Gefühle können einen täuschen. Es ist gerade des Teufels Expertise, jeden einzelnen Menschen zu täuschen. Aber Descartes ist kein Pessimist. Er glaubt daran, dass absolute Gewissheit, die jegliche Täuschung überwindet, zu erreichen ist. In seinen Meditationen kommt er zum Schluss, dass das einzige, was uns von jeglicher Täuschung bewahrt, das unabhängige Denken, die neutrale Rationalität sei. Mit seinem Satz »cogito ergo sum« will er somit sagen, dass das, was den Menschen im Innersten ausmacht, seine Fähigkeit ist, rational in Unabhängigkeit zu denken. Menschen lassen sich irreführen, weil sie nicht in Unabhängigkeit denken. Wer alle Regeln der Logik anwendet und sich nur von ihnen leiten lässt, wird die Wahrheit entdecken – unabhängig von Papst, Luther oder Kepler! Gerade erst im Schulterschluss von persönlicher Unabhängigkeit (Neutralität) und Ratio (Vernunft) lässt sich Wahrheit finden.

2.3 Hinwendung zum Ich – Anwendung von Rationalität: ein Problem

Mit Descartes hat sich der Ausgangspunkt der Wahrheitserkenntnis grundlegend geändert. Wahrheit wird nicht mehr von außen an uns herangetragen. Nicht mehr ein Prophet, Priester oder die Tradition vermittelt oder verantwortet die Wahrheit, sondern sie erschließt sich von innen, aus mir selbst heraus (Unabhängigkeit). Durch mein Denken (Rationalität) kann ich die Wahrheit erkennen. Man spricht auch von der sogenannten »Hinwendung zum Ich/​Subjekt« oder zur 1. Person-Perspektive (»Turn to the self«).

Descartes’ Gedanken sind zu einem großen Teil gut nachvollziehbar. Seine Werke und Gedanken wurden vom Papst verboten, aber sie fanden so viele Anhänger, dass Jahrhunderte später der moderne Mensch zu einem großen Teil das Programm Descartes’ auslebt – mit all seinen problematischen Konsequenzen! Was ist das Problem?

Um der Täuschung und dem Zweifel zu entkommen, muss der Mensch sein rationales Denkvermögen in Unabhängigkeit (Neutralität) einsetzen, um Gewissheit über Wahrheit und Irrtum zu erlangen (siehe Abb. 5).

Wie gesagt, misstraut Descartes im Prinzip allem, auch den eigenen Sinnen. Würden wir den Sinnen vertrauen, würden wir denken, dass die Sonne jeden Morgen aufgeht und am Abend wieder untergeht. Aber mit Hilfe von rational-analytischen Berechnungen hat man die sinnlichen Wahrnehmungen bis in die Kleinigkeiten zu zerlegen (Dekonstruktion) und zu untersuchen. Wenn man dann alle Elemente rational wieder zusammenstellt (Konstruktion), wird man herausfinden, dass sich in Wirklichkeit die Erde um die Sonne dreht. Diese rationale Analyseprozedur hat man auf alle Gegenstände anzuwenden. Und hier liegt das große Problem: Nach Descartes’ Methode wird die Welt da draußen durch meine innen liegende Rationalität rekonstruiert. Da die eigene Logik nach den Regeln der Kausalität funktioniert, ist die »wissenschaftlich« rekonstruierte Welt auch immer eine kausale Welt. Kausal bedeutet, dass die rekonstruierte Welt keine willkürliche Natur, sondern eine geregelte Natur hat. Wenn z. B. Sonnenlicht in einer bestimmten Wellenlänge auf bestimmte kugelförmige Wassertropfen einer Regenwand stößt, entsteht immer ein Regenbogen – ohne Ausnahme. Die Realität wird damit vorhersehbar. Wenn aber die gesamte externe Welt nach den Regeln der internen Logik rekonstruiert wird, ist alles kalkulierbar. Alles! D.h. wenn ich mit meiner Rationalität wissenschaftlich herausfinden möchte, wer ich in Wahrheit bin, dann bin sogar ich kalkulierbar, berechenbar, unfrei und eine Maschine. Auf einmal komme ich mit meinen Untersuchungen nicht nur zum Schluss, dass mein Haarausfall genetisch verursacht ist, sondern auch, dass meine Liebe zu meiner Frau aufgrund bestimmter biochemischer Prozesse zustandekommt. Und genau das ist das Problem des Objektivismus: Ich bin nicht mehr frei. Wenn ich das nicht anerkennen will, bin ich einer Täuschung zum Opfer gefallen. Das Ich wird durch eine objektive 3. Person-Perspektive definiert.

Mit der Hinwendung zum Ich (Subjekt) als rationales Wesen meint Descartes einen Weg gefunden zu haben, sich von der Gewalt der 3. Person, nämlich der Fremdbestimmung des Papstes, der Tradition und anderer Kräfte, zu befreien. Ironischerweise ist das Ich bzw. der Mensch in letzter Konsequenz aber wieder unfrei. Er ist zwar nicht mehr gefangen von den alten Kräften, wird aber jetzt von neuen, noch gewaltigeren Kräften beherrscht. Descartes’ rationalistische Methode ist wie ein Zauberstab: Jedes zuvor mysteriöse Objekt, das angetastet wird, ist auf einmal verständlich, erklärbar, logisch, aber gleichzeitig auch berechenbar und fremdbestimmt (siehe Abb. 6).

2.4 So sein wie du

Nun hat Descartes unser Problem von Subjektivismus und Objektivismus zu seinen Lebzeiten nicht mehr gesehen. Wenn er gewusst hätte, was die Folgen seiner Überlegungen sein würden, hätte er noch einmal angefangen sich zu fragen, ob er mit seinem »cogito ergo sum« nicht vielleicht einer Täuschung aufgesessen war. Für ihn war es wichtig, einen neutralen Ort zu finden, von dem aus man, ohne sich von Meinungen, Religionen oder Traditionen beeinflussen zu lassen, die echte Wahrheit entdecken kann. Und die menschliche Logik schien ihm so ein Ort zu sein. Ein Ort, den jedes Individuum für sich beanspruchen kann, denn er glaubte, dass jeder einzelne Mensch von Gott die Fähigkeit des rationalen Denkens erhalten habe. Jeder Einzelne kann sich also neutral der Welt nähern und herausfinden, was die Wirklichkeit ist.

In unserer ersten Reflexion haben wir festgestellt, dass kein Mensch nur objektivistisch leben kann. Subjektivität bleibt immer Bestandteil unseres Lebens. Das wird sichtbar in den Spannungen, die die »philosophy of mind« hervorruft: Auf der einen Seite sehen wir, dass unsere subjektiven Gedanken durch neurophysiologische Prozesse im Gehirn gesteuert werden (Objektivismus), auf der anderen Seite ist es unser Denken, das diese neurophysiologischen Prozesse erforscht (Subjektivismus). Das Geistige scheint sich nie aufs Physische reduzieren zu lassen.

Schlussendlich gehen wir alle davon aus, dass persönliche Freiheit – wenn auch unklar ist, in welcher Form und welchem Ausmaß – besteht. Zu viele menschliche Handlungen bleiben unklar, mysteriös und scheinen sich nicht wissenschaftlich erklären zu lassen. Für all diese Fälle gehen wir von der Freiheit des Menschen aus, Dinge zu tun, die dem eigenen Willen entsprechen, nicht aber allgemeinen Regeln und Normen. Darum glauben wir, dass Straftäter nicht notwendigerweise Straftäter hätten sein müssen, und verurteilen ihre Handlungen als freie und unentschuldbare Handlungen. Subjektivität ist also wesentlicher Bestandteil unserer Wirklichkeit, nur ist dieser subjektive Bestandteil per Definition nie auf dem rationalistischen Radarschirm zu sehen. Und das ist auch verständlich. Während die Rationalität eine neutrale, allgemeingültige, für jeden verbindliche, also frei von jeglicher Subjektivität existierende Methode sein will, entdeckt sie auch immer nur die allgemeingültigen, verbindlichen Gesetzmäßigkeiten, die das Leben »kontrollieren«– und damit immer nur den objektiven Teil der Wirklichkeit.

Thomas Nagel ist durch einen Artikel mit dem Titel »What is it like to be a bat« berühmt geworden. Dabei stellt er die Frage, ob wir als Menschen mit unseren wissenschaftlichen Methoden die Möglichkeit haben herauszufinden, wie eine Fledermaus die Realität erlebt. Wir können die Antwort bereits vermuten. Nagel macht ganz deutlich klar, dass das nicht möglich ist. Die Realität von subjektiven Erfahrungen kann nicht auf die allgemeingültige Schnittmenge, die verschiedene subjektive Erlebnisse haben, reduziert werden. Wenn das dennoch geschieht, hat man nicht die eigentliche subjektive Erfahrung beschrieben. Die subjektive Erfahrung ist immer mehr als ihre objektive Beschreibung. Das Problem des modernen Rationalismus ist, dass wir nach objektiver Wirklichkeit streben, aber im gleichen Moment die subjektiven, unterschiedlichen Erfahrungen verlieren, die genauso Bestandteil der Wirklichkeit sind. Wie kann ich aber wissen, wer der andere ist, wenn er mehr ist als das Produkt allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten? Wie kann ich wissen, wer ich bin, wenn ich mehr bin als das, was die Wissenschaft über mich zu sagen hat? Wenn der andere immer der Fremde bleiben wird, wie kann ich dann jemals mein Leben mit ihm teilen, ihn lieben, ihm vertrauen und ihn verstehen?

Fazit: Wer ich bin, wer du bist, bleibt dem objektiv-rationalistischen Denken verborgen. Ich und Du sind mehr als das, was die Wissenschaft mit ihrer 3. Person-Perspektive über uns zu sagen hat.

2.5 Neuauflage des ewigen Götterstreits

Aus der rationalistischen Methode Descartes’ folgt nicht nur, dass ich nie herausfinden kann, wer ich bin und wer der andere ist. Es ergibt sich ein neues Problem: Während viele Biologen erklären, dass jedes Handeln der Menschen letztlich evolutionistisch zu erklären ist (Ich verliebe mich, weil ich instinktiv das Überleben meiner Gene sichern muss.), widersprechen Historiker dieser Idee und zeigen auf, dass die evolutionistische Philosophie ein Zeitgeist-Phänomen ist, das seine Wurzeln in der Aufklärung suchen muss (damals wurde die biblische Eschatologie säkularisiert). Für den Historiker wird die Evolutionsidee darum als Zeitblüte wieder vergehen. Der Psychologe hingegen erklärt, dass der Versuch der Historiker, die Weltgeschichte zu systematisieren, als auch der Versuch des Biologen, menschliches Handeln auf biologische Prinzipien zu reduzieren, auf die Struktur der menschlichen Psyche zurückzuführen sind. Diese Struktur versucht ständig, komplexe Zusammenhänge auf einfache Systeme zu reduzieren. Es kommt zum Disziplinenstreit.

Wir sehen, dass es innerhalb der Wissenschaft sehr unterschiedliche rationalistische Ansätze gibt, Phänomene reduktionistisch zu erklären. Unser Beispiel hat drei Wissenschaftszweige (Biologie, historische Wissenschaft, Psychologie) in Konkurrenz gezeigt. Während für den einen die Evolutionsidee subjektiv und historisch bedingt ist (Historismus), ist für den anderen der Historismus subjektiv und psychisch bedingt (Psychologismus), und für einen weiteren sind die entwicklungspsychologischen Abläufe selbst nur Produkt der Evolution (Biologie). Eine Art Kampf um Objektivität findet statt. Der Kampfschauplatz ist die Arena der Universität. Während wir glaubten, dass wissenschaftliches Denken uns ein objektives Bild von der Wirklichkeit zeichnen kann, spricht jede Wissenschaft einen Subjektivitätsverdacht über die anderen Wissenschaften aus. Es gibt nicht die eine wissenschaftliche Stimme, die uns die objektive Wahrheit erzählt, sondern viele, in Konkurrenz stehende, rationale Stimmen. In diesem Kontext spricht Max Weber von der Wiederauferstehung der Götter. Jeder versucht, Einfluss bei den Menschen zu gewinnen, aber keiner kann wirklich überzeugen und siegen. Das einzige, was die Götter unserer modernen materialistischen Zeit von den antiken unterscheidet, ist, dass sie unpersönlich und rationalistisch sind. Aber wie früher haben diese Götter ihre Priester (Biologen, Psychologen, Historiker) und ihre Gläubigen (die modernen Menschen). Die Konkurrenz um die Wahrheit zwischen den Wissenschaften hat dazu geführt, dass es immer mehr interdisziplinäre Initiativen gibt, um herauszufinden, welche Berechtigungen und welche Art von Wissen jede einzelne Wissenschaft hat. Dieses Bemühen ist sehr wichtig, aber solange es modernistisch bleibt, ist die Problematik nicht zu überwinden.

Fazit: Die Wissenschaft hat nicht die Antwort auf die Fragen des Lebens. Viele verschiedene wissenschaftliche Theorien stehen miteinander im Konflikt.

2.6 Problembehandlung

Die Konstrukteure des modernen Dilemmas wurden vorgestellt und ihr Verlangen nach Mündigkeit deutlich gemacht. Sie wollten frei werden vom Wahrheitsdiktat verschiedener Kräfte und ihre ethische Verantwortung ernst nehmen, indem sie versuchten zu verhindern, dass länger im Namen der Wahrheit gemordet wird. Aber leider haben sie einen Weg eingeschlagen, der die Menschen schlussendlich in eine noch düsterere Gasse geführt hat. Zwei Probleme sind dabei ständig präsent: (1) Die Beantwortung der Frage nach dem »Wer bin ich? Was ist der Mensch?« rückt immer ferner, je moderner wir werden. (2) Die Antwort auf die Frage nach der objektiven Wirklichkeit scheint nicht durch neutrales rationalistisches Denken möglich. Der moderne Mensch ist nicht im Stande, diese Probleme zu lösen. Und so dominieren Subjektivismus und Objektivismus sinnentleerend weiter den modernen Alltag.

Es klärt sich in unserer Zeit immer mehr, dass ein Rückzug aus der Sackgasse nur mit einer Abwendung vom »cogito ergo sum« und den Denkkonzepten der Moderne geschehen kann. Aber wie soll das geschehen, wenn wir nicht wieder in einem Dreißigjährigen Krieg enden wollen?

In den nächsten vier Reflexionen (3 bis 6) wollen wir versuchen, unserem modernen Dilemma aus der Perspektive der biblischen Propheten zu begegnen. In dieser Konfrontation tut sich ein unerwarteter Weg auf, der es vermag, uns wieder an den Sinn und die Wirklichkeit des Lebens hinzuführen. In der nächsten Reflexion wird aus einer biblischen Perspektive erläutert, was passiert, wenn wir wissenschaftlich/​rational denken und arbeiten, und weshalb die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen gleichsam dem alten Götterkampf miteinander um die objektive Sichtweise kämpfen. Dabei sollen auch die Propheten zu Wort kommen. Daran anschließend wird in der Reflexion 4 skizziert, wie die Frage nach dem »Wer bin ich?« im Pentateuch (5 Bücher Mose) behandelt wird. Dort lässt sich eine Vision vom Leben finden, die den Menschen zurückführen will in die Selbstbegegnung und der Begegnung mit dem Mitmenschen. In Reflexion 5 wird in den prophetischen Zugang zur Objektivität eingeführt, ohne dass damit der Objektivismus als Bedrohung einhergeht. In Reflexion 6 wird gezeigt, wie aus prophetischer Perspektive Subjektivität und Objektivität in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen.

2.7 Klärung

Wir haben gesehen, dass da, wo versucht wird, Dinge verständlich werden zu lassen, indem sie in logischer Kausalität erklärt werden, die Freiheit des Menschen sehr schnell verdrängt wird. Das wird vor allem sichtbar, wenn man sich mit der Vergangenheit beschäftigt. So wird – ganz zurecht – der Aufstieg des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Kaiserreichs und der sich daran anschließenden, unverhältnismäßig hohen Reparationszahlungen an die Siegermächte nach dem 1. Weltkrieg erklärt (Versailler Vertrag). Des Weiteren haben die brutale Oktoberrevolution in Russland und die dramatische Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre die Bevölkerung in der nationalsozialistischen Bewegung Hoffnung auf die Sicherung von Gerechtigkeit, Recht und Freiheit suchen lassen.

Diese historischen Rekonstruktionen der Abläufe und ihrer Dynamiken auf die Entscheidungen der Menschen zu verstehen, hilft, das erneute Aufkommen eines grausamen Nationalsozialismus zu verhindern. Aber genau hier fängt unser Problem an: Wo die Vergangenheit als eine kausale Kette von Ereignissen und Entscheidungen verstanden wird, kann schnell davon ausgegangen werden, dass der Nationalsozialismus unausweichlich war. Es hätte also gar nicht anders kommen können: A erzeugt B (nach A kommt nicht C). Wenn man allerdings anfängt so zu denken, gibt man die menschliche Freiheit auf. Schnell ist man dann geneigt zu sagen: »Mein Großvater hatte gar keine andere Möglichkeit, als der NSDAP beizutreten.« Menschliches Handeln, Entscheidungen und Überzeugungen sind dann nur noch Produkte der Umstände. Dass das aber nicht der Fall ist, wird immer dann klar, wenn der nächste Schritt aus der Gegenwart in die Zukunft gegangen wird. Deutlich wird, dass als Reaktion auf A neben B1 auch B2, B3 und Bn bestehen.

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23 aralık 2023
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9783815026182
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