Kitabı oku: «Hannes», sayfa 3

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Heute Mittag eine Weile auf dem Friedhof. Um diese Zeit sieht man da relativ wenige Leute. Da und dort eine trauernde Witwe, ein vereinsamter Senior. Oben bei der Mauer die beiden Gräber. Zwei verwelkte Kränze sind noch da, dazu frische Blumen. Es war regnerisch und kalt. Unglaublich, wie wir auf das Wetter reagieren.

In der Zeitung wieder ein Artikel über jenen Gattenmord in der Westschweiz, der vor Jahren viel zu reden gab. Der Angeklagte – in einem ersten Prozess für schuldig ­befunden und hinter Gitter gekommen – war bei einem Revisionsverfahren freigesprochen worden, der Fall vom Kassationsgericht ad acta gelegt. Als der Staatsanwalt kurz danach ein neues Gerichtsverfahren anvisierte, fragte man ihn, ob er da nicht Zwängerei betreibe. Er sagte, er sei dafür verantwortlich, dass Verbrechen aufgeklärt werden, es störe ihn, dass der Mörder frei umherlaufe. Auf die Frage eines Journalisten, ob überhaupt noch eine Erfolgsaussicht bestehe, meinte er, der Handlungsspielraum sei in der Tat schmal geworden, aber es gebe nach wie vor die Möglichkeit des Zufalls.

Ich frage Kommissar Grädel (der mich wieder zu einem Glas Bier eingeladen hat), was er darüber denke. Er hat eine Art, auf gewisse Fragen mit einem Lachen zu antworten, als wäre sein Beruf eigentlich eine heitere Sache.

«Ja, ja, der Zufall», sagt er. «Kann manchmal sehr merkwürdig sein, hat oft etwas Mysteriöses, wie ein Wink aus dem Unbekannten. Ich bin zwar nicht sehr gläubig, aber manchmal frage ich mich doch, woher die Zeichen kommen.»

***

Ich habe nicht die Absicht, in diesem Bericht mich selbst darzustellen. Die viel gerühmte Selbsterkenntnis – ich glaube nicht daran. Und sogar wenn wir sie hätten, was würde sie uns nützen? Wichtig ist nur, dass wir uns selbst akzeptieren, so wie wir sind, mit allen Schwächen und Fehlern. Letzten Endes eine Frage der Gerechtigkeit uns selbst gegenüber.

Auch ich hatte meine Jugendträume. Vor allem einen: Konzertpianist. Ich sah mich auf dem Podium, ruhig am Instrument sitzend, ohne in den Tasten zu wühlen, ohne wie die Russen mit den Armen zu fuchteln, ohne die Grimassen von Alfred Brendel, ohne wie Glenn Gould halblaut mitzusingen. Ich spielte Bach, zum Beispiel das ar­chaisch stille Präludium in es-Moll, oder «Nun kommt der Heiden Heiland». Mein Ideal war Dinu Lipatti. Die verhaltene Spannung, mit der er zum Beispiel jenes Nocturne in Des-Dur von Chopin spielte, als Zugabe; jemand hatte das am Radio aufgenommen, wobei man aus einem störenden Nebenkanal die Stimme einer hastig redenden Frau hört; ich frage mich, wer war diese Frau und was hatte sie so dringend zu sagen. Sonst kann man bei Tonträgern ­störende Geräusche entfernen, doch diese Stimme liess sich offenbar nicht ganz löschen. Man versteht zwar kein Wort, doch im Hintergrund ist sie immer da, wie für immer mit Lipatti verbunden. Er selber, unersetzlich wie wenige, starb erst 33-jährig, an Leukämie. Auserwählte, die zu früh dahingehen.

Ich betrachtete meine nervigen Hände, fragte mich, ob mir vielleicht durch sie eine Lebenschance geschenkt worden wäre. Schon als Zwanzigjähriger beherrschte ich ein ordentliches Repertoire, mit dem ich mehrere Kla­vier­abende hätte bestreiten können. Einer der Professoren, dem ich am Konservatorium Ravels «Gaspard de la nuit» vorspielte, sagte mir nachher: «Weitermachen, Mon­stein.» Wenn der das sagte, bedeutete es etwas.

Leider zeigte der eigene Vater kein Verständnis. Sonst rannte er Solisten, Dirigenten und Sängerinnen nach, schlich sich buchstäblich in ihre Gesellschaft, schrieb ihnen Lobeshymnen, liess sich mit ihnen fotografieren, doch der eigene Sohn zählte nicht. Kein Ehrgeiz, kein Vaterstolz. Wenn jemand meine Begabung lobte, meinte er fast mitleidig: «Ach, was heisst schon Begabung? Die Konkurrenz ist heute viel zu gross. Wenn jetzt ganze Scharen hochbegabter Russen und Asiaten daherkommen, lauter Ausnahmetalente, verschwindet er daneben wie ein Schatten. Abgesehen davon ist er bereits zu alt, sein Zug ist längst abgefahren.» Und ein anderes Mal: «Man muss in Gottes Namen seine Grenzen sehen und sich bescheiden können. Warum sich zu Tode quälen, um zuletzt als braver Klavierlehrer für Anfänger bei Clementi zu landen und bei Czernys ‹Schule der Geläufigkeit›. Er kann doch zu Hause spielen, warum gleich an die Carnegie Hall denken?»

Ich schluckte wortlos Scham und Wut, doch einmal, in Anwesenheit von Abendgästen, wurde es zu viel. Ich spielte den am Tisch Sitzenden etwas vor, am Ende gab es Applaus und Lob, worauf er, wie in einer blöden Gewohnheit, mit seinem üblichen Kommentar kam, als geniesse er es geradezu, mich vor den Leuten zu demütigen. Diesmal beherrschte ich mich nicht, begann in einem Zornanfall loszuschreien, war dabei selber erstaunt, wie die Leute zusammenfuhren. Ich warf ihm vor, er behandle mich wie Dreck, er habe es darauf abgesehen, mich zu beschämen – ich war sein zufälliger Nachkomme und sonst nichts, gerade gut genug, seinen Möbelladen weiterzuführen und dabei zu verdummen wie er selbst. Ich schrie stotternd und halb weinend, sah dabei sein verstörtes Gesicht und die Betroffenheit der Gäste. Da mir zuletzt nichts mehr einfiel, ging ich die Tür zuknallend ­hinaus.

Während Tagen wechselten wir kein Wort miteinander. Am schlimmsten waren die Mahlzeiten. Als Lille zu mir kam und mich dazu bewegen wollte, ihn um Ver­zeihung zu bitten, fragte ich sie, für wie dumm sie mich halte? Sonja hielt es mit mir: «Nur nicht nachgeben! Du hast ganz recht, ohne Revolte kommst du unter die Räder. Übrigens fand ich es toll, wie du geschrien hast.»

Nur hatte die Revolte einen bitteren Geschmack, das Leben schien auf einmal verpfuscht. Ich hatte Selbstmordgedanken, fragte mich, wie gross die Angstschwelle wäre, wenn man die geladene Pistole in der Hand hielte? Wie es wäre, wenn ich mich in seinem Zimmer erschiessen würde und er mich dort am Boden fände?

Eines Nachts hatte ich einen verrückten Traum:

Zusammen mit drei anderen, die ich nicht kannte, führte man mich eine Treppe hinab und zuunterst in einen kellerartigen Raum. Jemand erklärte uns, dass wir hingerichtet werden müssten, es handle sich um ein Sühneopfer. Urteilsvollstrecker war mein Vater. Er sass grau in grau auf dem Boden, an die Mauer gelehnt, hielt in der Hand eine Pistole, mit der er leichthin spielte. Er machte mir ein Zeichen, flüsterte mir zu, er werde mich als seinen Sohn separat behandeln, ich dürfte noch für einen Augenblick ins Wartezimmer. Ich weiss nicht, wie ich dorthin gelangte, ich war einfach dort, wurde dann von einer weiss gekleideten Krankenschwester mit himmelblauen Augen abgeholt. Sie nahm gut gelaunt meinen Arm, sprach mir Mut zu, nur keine Angst, alles werde sehr schnell vonstatten gehen und dann sei die Sache erledigt. Als wir den Keller betraten, waren meine drei Schicksalskollegen bereits tot, lagen wie Bleistifte am Bo­den nebeneinander. Vater forderte mich ganz ruhig auf, nieder­zuknien. Ich gehorchte, kniete nieder, ihm den Rücken zuwendend, das Gesicht zur Mauer. Ich wartete, dass er schiesse. Wahrscheinlich zielte er schon, wobei mich plötzlich eine grauenhafte Angst befiel. Ich dachte: Wenn es Gott nicht gibt, dann beginnt hier das Nichts, und du bist für immer ausgelöscht. Fragte mich noch: Was wird Mutter sagen?, erinnerte mich dann, dass sie schon längst gestorben war. Es herrschte Totenstille, ich sagte Vater, er solle endlich schiessen. Man hörte keinen Knall, aber ich spürte, wie die Kugel in meinen Körper eindrang; ich wollte noch etwas sagen, konnte aber nicht mehr reden und fiel wie eine Stoffpuppe auf den Boden hin.

Einmal streifte mich der Gedanke: Wie wäre es, wenn er sterben würde? Ich hatte schon davon gehört, dass Söhne den Tod des Vaters herbeiwünschten. An sich wäre es ja plausibel gewesen, in seinem Alter. Vermutlich wäre dann das Geschäft verkauft worden, ich wäre frei gewesen, meinen eigenen Weg zu gehen. Doch solange er lebte, war nicht an Verkauf zu denken, und er konnte noch lange leben. Oft dachte ich an Flucht, weg von hier, irgendwohin, in eine Weltgegend, wo man etwas Nützliches hätte leisten können, zum Beispiel in einem Kata­strophengebiet, beim Roten Kreuz, Hilfe für Notleidende und Bedrohte, auf die Gefahr hin, mit ihnen unterzu­gehen – weg von dieser dekadenten, Spass- und Luxusgesellschaft, weggehen und ihren verdammten Wohlstand samt Kultur und seichter Unterhaltung dem Teufel überlassen.

Doch ich beging nicht Selbstmord, ich floh nicht in Katastrophengebiete, ich war zu feige, zu mutlos, zu verwöhnt wie alle andern. Als ich Vater erklärte, ich hätte beschlossen, auf meine Pianistenlaufbahn zu verzichten und im Familiengeschäft zu bleiben, bekam er feuchte Augen, machte dabei ein komisches Gesicht, wie Kinder, wenn sie nicht wissen, ob sie weinen sollen oder nicht.

Aus Dankbarkeit überliess er mir, zinslos, das Ein­fa­milienhaus, das er ein halbes Jahr zuvor gekauft hatte und an dem eben ein paar Reparaturarbeiten gemacht worden waren. Zugleich durfte ich meinen Arbeitsplan so einrichten, dass mir noch etwas freie Zeit für private Interessen blieb. Ich besuchte Vorlesungen an der Uni, machte später meine ersten schriftstellerischen Versuche. Sieben bis acht Halbtage verbrachte ich im Laden.

Paolo, der Jus studierte, war jeweils in den Semesterferien auch da. Er hatte sich eine eindrückliche Hornbrille zugelegt, die er überhaupt nicht gebraucht hätte, der er aber eine suggestive Wirkung zutraute. Der Absatz stockte, vor allem die Teppiche gingen nicht, die Preise lagen im Keller. Einmal, dynamisch wie er war, fasste er den Entschluss, fortes fortuna adjuvat, neuen Schwung in die Bude zu bringen. Es sei höchste Zeit, ein effizienteres Marketing zu lancieren, die Räumlichkeiten zu moder­nisieren und vor allem, in hoc signo vinces, eine attraktive Verkäuferin anzustellen. Als die Eltern für ein halbes Jahr nach Amerika reisten, erklärte er mir, er werde das Heft in die eigene Hand nehmen und den Laden mit ei­nem Geniestreich auf Kurs bringen. Mir selber (was mir durchaus recht war) erteilte er Urlaub, um ungestört seine Strategie starten zu können – eine Inseratenkampagne lan­cieren und die Preise massiv senken, was sich rasch herumreden und die Kunden herbeilocken würde. Unterdessen hatte er auch schon ein appetitliches Empfangsfräulein gefunden, das zwar vom Geschäft nichts verstand, dafür umso gewinnender lächelte. Ihre Aufgabe bestand darin, die Kunden freundlich zu begrüssen und den Chef zu holen, der dann mit seiner Hornbrille erschien, mit den Leuten redete und ihnen das Gewünschte zeigte. Einem jungen Ehepaar – symbolische Geste eines Neubeginns – gewährte er für eine Wohnzimmermöblierung einen sagenhaften Rabatt von 33 Prozent. Zwei Tage später wiederholte er die gleiche Taktik beim Verkauf einer Büroeinrichtung mit lauter Mahagoni, dann wiederum 25 Prozent Rabatt für eine Schlafzimmerausstattung. Büchergestelle, Sessel, Treppenläufer, Fenstervorhänge, alles zu Vor­zugspreisen. Sogar Teppiche, die sonst überhaupt kaum mehr interessierten, brachte er wieder an den Mann. Vier da­von (zwei Schirwan und zwei persische Bidjar, alles Grossformat) verkaufte er, diesmal zu halbem Preis, dem befreundeten Immobilienhändler Plözzer, der ihm dafür, ebenfalls preisgünstig, eine komfortable Eigentumswohnung beschaffte.

Innerhalb von vier Monaten hatte sich der Absatz fast verdoppelt. Die zwei Angestellten merkten mit Staunen, dass der Laden wieder lief. Doch als die Eltern heim­kamen und der Vater bei einem Einblick in den Geschäftsgang feststellte, was da passiert war, ging ein Gewitter los: «Du bist ja wahnsinnig!», schrie er. «Was fällt dir ein? Das ist ja billigster Ausverkauf – ein Verlust von ein paar hunderttausend Franken! Willst du mich mit Schleuderpreisen ruinieren?»

Paolo versuchte umsonst, seine Strategie zu rechtfertigen, indem er auf den gesteigerten Absatz hinwies und zudem meinte, man könne die Preise jederzeit wieder sach­te anziehen. Doch der Alte, ausser sich vor Zorn, war unerbittlich, erklärte ihm klipp und klar, er solle den Laden von nun an nicht mehr betreten, sonst sei der Konkurs vorprogrammiert.

Die von Plözzer günstig erworbene Wohnung wurde nicht erwähnt. Paolo verreiste. In einem Brief aus Mallorca bat er Vater um Verzeihung: Er gab zu, die Lage falsch eingeschätzt zu haben, obwohl er nur das Beste gewollt hatte. Am Schluss hiess es: «Ich gehöre zu jenen Unglücklichen, die ihre Fehler erst im nachhinein erkennen, ich gleiche meinem Namensvetter Paulus, der von sich sagte: ‹Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht will …› Ich gebe meine Fehler offen zu. Welch Glück, dass Ihr zu Hause keine Sünder seid.»

Nach seiner Heimkehr richtete er sich in seiner neuen Wohnung ein. Wochenlang sahen wir ihn kaum. Später, auf Lilles Wunsch, schloss er mit dem Alten Frieden, kam jeweils auch zu den Mahlzeiten. Er war stiller geworden, ging wieder täglich zur Uni. Nach seinen Examen arbeitete er eine Zeit lang in einem Advokaturbüro, bestand seine Anwaltsprüfung und eröffnete mit zwei Kollegen eine eigene Praxis.

Ein Jahr später verliess auch ich den Familienbetrieb und ging zu Dr. Rehberg, Druck und Verlag AG, unter anderem als Mitarbeiter der von ihm und der Verlegerin Raïssa Höhne gegründeten FAVILLA. Vater war enttäuscht, doch als kurz danach Fräulein Lina Rauch, eine 45-jährige, gewinnende Bündnerin, die Leitung des Geschäfts übernahm, heiterte er sich rasch auf und fand meinen Berufswechsel durchaus sinnvoll. Unter vier Augen erklärte er mir auch, dass ich das Einfamilienhaus weiterhin behalten dürfe und auch solle; das sei für ihn wichtig, zumal Paolo, mit mütterlicher Hilfe, schon Anspruch auf Mitbesitz angekündigt habe.

Mein Haus (das natürlich nach wie vor ihm gehört) ist achtzig Jahre alt. Fünf Zimmer und zwei Mansarden, grosser Garten, bevorzugte Lage mit Blick in die Alpen. Unweit von hier, oben am Waldrand, befindet sich ein Bauernhof mit weidenden Kühen und Pferden. Sonja besitzt den Hausschlüssel, kommt oft auch unangemeldet, je nachdem auch wenn ich nicht da bin. An sich könnten wir ohne weiteres zusammenleben, Platz wäre genug vorhanden, doch sie will entschieden nicht. Einmal wöchentlich ist die Putzfrau da, Alicia, eine Spanierin; die Gartenar­beit besorgt ein Gärtner.

Ab und zu lade ich Bekannte zu einem gemütlichen Abendessen ein. Einer meiner regelmässigen Gäste ist Leon W., ein ehemaliger Klassenfreund, jetzt seit Jahren Dozent für Komparatistik. Er hat etwas Asketisches, kurz geschnittenes Haar und stahlblaue Augen. Übrigens der beste Gesprächspartner, den ich je hatte. Das liegt nicht nur an seiner Intelligenz, sondern an einer natürlichen Dialog-Begabung, die man bei so vielen vermisst, oft auch bei Studierten. Er stellt Fragen, oft unerwartete, er kann auch schweigen, kann vor allem aufmerksam zuhören, nicht nur aus Anstand, sondern aus menschlicher Neugier. Einmal hatte er mich an die Uni zu einem Kollo­quium eingeladen, hin und wieder schenkte er mir ein interessantes Buch, einmal eine Eintrittskarte für eine Opernaufführung. Ich schätze seine Offenheit, seine Spon­taneität, doch trotzdem muss ich gestehen, dass unsere Beziehung manchmal ein bisschen gefährdet war. Ich spüre seine intellektuelle Überlegenheit, leider oft auch seine Übellaunigkeit, einmal ist er freundlich, ein andermal unterschwellig gereizt, als ginge ich ihm auf die Nerven. Alles in allem ein ambivalentes Verhältnis, sodass ich mich manchmal frage, ob wir eigentlich Freunde oder Feinde sind. Nur ist es vielleicht so, dass eine Freundschaft von vornherein den Konflikt in sich birgt. Meine literarischen Erzeugnisse, etwa Zeitungsartikel, Kolumnen oder Skizzen, scheinen ihn nicht zu interessieren, jedenfalls erwähnt er sie nie, was ich ihm nicht übel nehme. Trotzdem muss ich sagen, dass mir gerade von seiner Seite eine kleine, wenn auch nur angedeutete Aufmerksamkeit guttun würde.

Dankbar, wie gesagt, bin ich für dieses wohnliche Haus, nur wird mir klar, wie schwierig es ist, allein zu leben. Manchmal, besonders abends, sterbe ich vor Einsamkeit. Man stirbt ein Leben lang. Seit dem Ende meiner Pianistenträume spiele ich seltener Klavier, übe auch nicht mehr konsequent. Meistens bleibt es bei einfachem Improvisieren. Keine Sturmsonate mehr, keine Appassionata, kein Gaspard de la nuit. Irgendwie ist mir die Lust vergangen, und ohne Lust geht nichts. Vielleicht wäre ich neben jungen Russen, Polen, Chinesinnen und Chinesinnen doch chancenlos. «Entbehren sollst du, sollst entbehren …», auf Tourneen verzichten, auf fremde Länder und Menschen, auf Metropolen und Begegnungen. Verzichten, vor allem auf die Frau. Seit meinem Erlebnis mit Gertrud habe ich auch hier kapituliert. Was zuletzt bleibt, ist der bittere Likör der Resignation. Ich versuche, die paar kleinen Dinge zu geniessen, die für mich erreichbar sind – das tägliche Frühstück, die Morgenzeitung, die erste Pfeife, arbeiten, wandern, ein paar Bekannte, eine Plauderei.

Und so, mittelmässig und bedeutungslos wäre das Leben dahingegangen, wenn ich nicht Franziska begegnet wäre.

***

Eigentlich passte sie besser zu Paolo als zu mir. Paolo sagte zwar von sich selbst, er sei ein Mensch des erfüllten Augenblicks, weshalb eine definitive Bindung für ihn unerträglich wäre; sobald ihm eine Frau zu nahe komme, rege sich in ihm gleich sein Abwehrinstinkt. Ich weiss nicht, ob er diesen Instinkt auch Franziska gegenüber spürte. Wieso es dazu kam, dass Franziska mich und nicht ihn suchte, das verstehe der Himmel. Ich weiss auch nicht, wieso Paolo, als er sie kennenlernte, ihr geradezu emphatisch von seinem Stiefbruder erzählte und mich als eine Art Phänomen hochstilisierte; ich sei zwar als Typus ein asymmetrischer Mensch, doch dessen ungeachtet ein ­faszinierender Kerl, hochintelligent, übrigens ein fabelhafter Pianist, dessen hoffnungsvolle Karriere der Vater ahnungslos verhindert habe. Sie sollte einmal hören, wie ich die Mondscheinsonate oder Franz Liszts «Liebestraum» spiele, daneben seien Horowitz und sogar eine ­Argerich geradezu Dilettanten usw. Das alles hat mir Franziska später erzählt. Ich bin überzeugt, dass Paolo bei solchen Lobhudeleien gar nicht an mich dachte, sondern mich einfach als Thema für eine seiner Tiraden verwen­dete.

Zum ersten Mal sah ich sie eines Abends bei den Eltern, als ich zum Essen kam. Obwohl etwas verspätet, setzte ich mich im Salon kurz an den Flügel und modulierte ein paar Akkorde, weil ich wusste, dass am Nachmittag der Klavierstimmer dagewesen war. Als ich hierauf das Esszimmer betrat, sass da eine jüngere Frau mit der Familie am Tisch. Wir wurden einander vorgestellt, wobei sie leichthin sagte: «Sie spielen grossartig.»

Ich entschuldigte mich für die Verspätung, worauf mich Vater fragte, warum ich dann, wenn schon verspätet, vorher noch Klavier spiele? Paolo nahm mich in Schutz, ich hätte vermutlich schauen wollen, wie der Flügel jetzt tönt. Und zum Fräulein: «Das ist ein Bösendorfer, schon siebzig Jahre alt und dementsprechend ein bisschen heiser.»

«Ja, heiser», sagte Vater, «aber das nennt man Patina. Davon versteht ihr nichts. So ein Instrument wird immer edler.»

«Da hast du recht, Papa», sagte Paolo, «das ist wie bei alten Herren.»

Ich erinnere mich, dass während der Mahlzeit unter anderem von unserem Bauerngut in Falön, Unterengadin, die Rede war, von unserem Pächter, von Bergbauern und ihrem harten Leben. Sonja fragte sich, ob man dem Mann nicht den Pachtzins erlassen könnte, damit er mit der Familie überhaupt existieren könne und nicht eines Tages davonlaufe; heute müsse man froh sein, einen zuverlässigen Landwirt gefunden zu haben. Paolo erzählte dem Fräulein die Geschichte von Falöns Feuersbrunst, das heisst von jenem Bauernknecht, der mit der Tochter des Meisters verlobt war und dann, als sie ihm untreu wurde, den Verstand verlor, eines Nachts das Haus in Brand steckte und dadurch eine grössere Feuersbrunst auslöste.

«An sich eine fantastische Geschichte», sagte er. «Das wäre ein Thema für dich, Hannes – das grosse Feuer als Symbol des allmächtigen Eros.»

Sie, die Besucherin, war offenbar Physiotherapeutin. Zuerst, erzählte sie, habe sie in einer organisierten Praxis gearbeitet, sich dann bald selbständig gemacht – aus Freiheitsdrang. Nur nicht gebunden und von andern abhängig sein! Sie wäre gern Tierärztin geworden, scheute aber das mühsame Studium. Tiere liebte sie nach wie vor, vor allem Pferde. Reiten war ihre Leidenschaft …

Sie sass mir am Tisch schräg gegenüber. Eine gut ­aussehende Brünette, ihr plastisches Gesicht sonnengebräunt; sie hatte starke, leicht flache Lippen, braune Goldglanzaugen. Übrigens wirkte sie an diesem Abend eher still, jedenfalls keine Schwatzbase. Während hin und her geplaudert wurde, fiel mir einmal auf, wie sie mich halb abwesend betrachtete. Auch später, als ich vom Teller aufschaute, traf mich wieder die Stille dieser Augen.

Zum Dessert, erinnere ich mich, gab es Apfelstrudel mit Vanillesauce. Die Geschichte mit der Feuersbrunst von Falön kannte ich seit Langem. Ich dachte an den Bauernknecht, der zum Brandstifter wurde, ins Gefängnis kam, jedoch seine Tat erst auf dem Sterbebett beich­tete.

Während wir noch beim Dessert sassen, erschien Philipp, Sonjas Exmann. Sie hatten sich, wie gesagt, scheiden lassen, ohne den Kontakt abzubrechen; wahrscheinlich standen sie einander näher, als sie es in der Ehe gedacht hatten. Von Zeit zu Zeit tauchte er auf, ein bisschen wie ein Hund, den man weggegeben hat und der nachher immer wieder da ist.

Später sassen wir bei Kaffee und Kuchen im Salon. Vater war jetzt gut gelaunt, offenbar gefiel ihm das Fräulein. Auf Lilles Wunsch holte er seine Fotografien, auf denen man ihn mit prominenten Leuten abgebildet sah. Er hatte, wie schon erwähnt, die Begabung, Berühmtheiten ken­nenzulernen, ohne selber eine zu sein. Er korrespondierte mit Künstlern und Schriftstellern, lobte ihre neuesten Werke, gratulierte zu einem Preis. Traten in der Stadt bekannte Interpreten auf, so war er immer der erste, der nach dem Konzert ins Solistenzimmer eilte und Lob spendete – dies mit bestimmten Floskeln, die mir (weil er mich oft mitnahm) von klein auf bekannt waren: «Mein Gott, wie Sie zu Werke gehen! Sie sind ein Rubinstein re­divi­vus!» Zu einem Cellisten: «Sie spielen wie ein Casals re­divivus!» Dieses «redivivus» kam immer wieder. Oder zu einem Sänger, von Ergriffenheit erschlagen: «Grossartig! Mir fehlen die Worte. Ich habe einst noch den unvergesslichen Wunderlich gehört, aber Sie singen mindestens so schön.»

Bei einer japanischen Geigerin ging es leider daneben. Er hatte von einem Tokioter Kunsthändler ein ja­panisches Kompliment notieren lassen und dieses auswendig gelernt; doch als er abends nach dem Konzert als Erster im Künstlerzimmer erschien und seinen Spruch vorbrachte, starrte ihn das zierliche Fräulein an, legte die Hand an den Mund und unterdrückte ein nervöses Lachen. Sie lachte noch, während bereits andere Leute hereinkamen und er wie ein begossener Pudel davonging. Nachträglich fragte er sich, was ihm der freundliche Japaner aufgeschrieben hatte.

Schon sein Vater, Grossvater André, war ein Verehrer berühmter Leute gewesen. Von ihm hatte Vater eine Autografensammlung geerbt – unter anderem ein Dankschreiben von Jaspers, eines von Musil, ein paar Zeilen von Paul Klee, ein signiertes Foto von Wilhelm Kempff; Max Brod zeigte sich erfreut über eine ihm zugesandte Broschüre, in der ein Spezialarzt Brods Wirbelsäulenverkrümmung beschrieb. In einem Brief von Thomas Mann, der für eine Einladung dankte, stand zu lesen: «Wir schiffen uns nächstens nach Amerika ein und sind froh, wenn es vorher noch für Hermann Hesse reicht. Doch wenn der Welt dieses bescheidene Mass von Ruhe, das wir Friede nennen, erhalten bleibt, dann sage ich, Gesundheit vorausgesetzt: wir werden uns noch sehen.» Die gleichen Sätze, wörtlich, empfing offenbar kurz danach auch ein Feuilletonredaktor, der sie dann in der Sonntagsbeilage seines Blattes abdruckte.

Fanden irgendwo Musikwochen statt, so weilte Vater tagelang dort, war bei Empfängen und Banketten dabei, unterhielt sich mit Musikern und Sängerinnen, die den weisshaarigen Herrn für einen der Organisatoren halten mochten. Auf den Fotos sah man ihn im Gespräch mit Maurizio Pollini oder Heinz Holliger, irgendeiner Sän­gerin die Hand küssend. Auf einem älteren Bildchen (da war er noch relativ jung), stand er, in Gstaad, zwischen Menuhin und Karajan, die ihm freundlich den Arm hielten. Dieses schwarz-weisse Foto gab er jeweils nur halb aus der Hand, aus Angst, man könnte es ihm entwenden.

«Mein Gemahl ist Weltmann», sagte Lille. «Wie du es nur anstellst, an diese Grössen heranzukommen.»

«Das tust du ja auch», sagte er. «Du hast sogar den Barenboim heimgesucht. Übrigens sind das Menschen wie wir. Vor Gott sind alle gleich.»

«Stimmt nicht», sagte Paolo. Auf der Toilette mögen sie alle gleich sein, aber vor Gott? Ich glaube, Gott ist sogar sehr parteiisch, sonst hätten nicht die einen immer Glück und andere immer Pech.»

Lille holte Paolos Porträt, ein noch nicht ganz fertiges Werk von Jean Möcklin. Sie stellte das Bild ins Licht. Franziska war aufgestanden.

«Für mich ist er fertig», meinte Lille, «aber vielleicht will er ihm mit zwei Pinselstrichen noch etwas einhauchen.»

«Vielleicht die Seele», sagte Sonja.

«Er hat aber schon Seele, das sieht man doch.»

Franziska zu Sonja: «Ich glaube, Sie malen doch auch? Da hätten doch Sie Paolo porträtieren können.»

«Wir wollten eben einen richtigen Künstler», sagte Lille. «Sonja kann schon etwas, aber ihre Bilder sind immer so düster.»

Nachher spielten sie Karten. Philipp war gegangen, ich selber sass mit Sonja im kleineren Nebenzimmer, dessen Schiebetür immer offenblieb. Sie erklärte mir anhand des Atlasses eine Skandinavienreise, die sie mit zwei Freundinnen plante, teils mit Schiff, teils mit Reisebus, durch Norwegen und Schweden bis nach Lappland hinauf, dann durch Finnland zurück. Sie wünschte von mir touristische Ratschläge, die ich ihr, noch nie in Skandinavien gewesen, beim besten Willen nicht geben konnte. Zudem war ich etwas zerstreut. Den Namen des Fräuleins hatte ich vergessen oder gar nicht recht mitbekommen.

Paolo, auf seine Karten schauend, fragte mich, ob ich nicht etwas spielen möchte auf unserem Patina-Flügel, zum Beispiel Liszts Liebestraum. Ich mochte jetzt weder Liszt noch Träume. Ich blätterte in Sonjas Reiseführer, betrachtete die Karte von Skandinavien, bemerkte wieder einmal, wie die Besucherin herüberschaute. Im Licht der Deckenlampe hatte sie dunkel umschattete Augen. Sonja fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen zu kommen? Etwas später wieder Paolo: «Gaspard de la nuit, wo bleibt die Musik?»

Als das Telefon läutete, ging ich hinaus. Es war Rehberg, mein Chef, der sich, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, wieder einmal einsam fühlte. Ich erklärte ihm, ich könne leider nicht weg, wir hätten den Besuch einer ungewöhnlichen Frau, die vermutlich nur meinetwegen da sei. Vielleicht sei ich der Mann ihres Lebens.

Er sagte: «Sie witzeln natürlich, aber passen Sie auf. Mit Frauen soll man nicht scherzen.»

Als ich aufgelegt hatte, wusste ich nicht, ob ich bleiben oder gehen solle. Um etwas zu tun, begab ich mich ins Badezimmer und wusch mir die Hände, blickte flüchtig in den Spiegel, kam wieder heraus, zog meine Jacke an und ging geräuschlos davon.

Draussen nieselte es. Während ich heimwärts wanderte, hörte ich Sonja rufen, sah sie mit ihrem Hund kommen. Ich wartete.

«Du hast dich nicht einmal verabschiedet», sagte sie. «Bist du geflohen?»

«Wieso geflohen?»

Sie hatte sich eingehängt, nur war das für beide ­unbequem, weil sie Harro an der Leine führte und man immer wieder warten musste. Zudem redeten wir aneinander vorbei – sie von der Besucherin, ich vom Schnüffelinstinkt der Hunde.

Sie begleitete mich bis nach Hause, wollte aber nicht hereinkommen. Ich ging ins Wohnzimmer, zog die Jacke aus, setzte mich ans Klavier, doch ohne die Tasten zu berühren. Musik geht nicht immer. Ich zündete eine Zi­garette an, stand dann eine Weile am offenen Fenster. Draussen nach wie vor Nieselregen, leichtes Tropfen im Laub der Bäume. Ich sah den Rauch meiner Zigarette entschweben, bald hell, bald dunkel. Dann immer wieder dieses Gesicht. Ich rauche sonst praktisch, ohne zu inhalieren; diesmal tat ich es, spürte dabei, wie das süsse Aroma in mich drang. Zuletzt warf ich den Stummel hinaus, setzte mich aufs Sofa. Vor mir mein komfortables Wohnzimmer, Steinway, Fernseher, Stereoanlage, Bücher und Stehlampe, daneben das von meiner Mutter geerbte Eisbärenfell. Ich wusste nicht recht was tun. Es war erst halb zehn, ich überlegte, ob ich doch noch Rehberg aufsuchen sollte. Aber eigentlich mochte ich jetzt mit niemandem reden. Endlich stand ich auf, zog wieder die Jacke an, den Regenmantel, verliess das Haus, wanderte auf nassen Strassen umher. Beim Elternhaus brannte nach wie vor Licht. Vielleicht spielten sie noch immer. Irgendwo betrat ich eine Beiz, bestellte ein Bier und blieb dort bis um Mitternacht.

Am nächsten Tag kamen die erwarteten Vorwürfe. Es sei nicht gerade vornehm, meinte Vater, sich einfach sang- und klanglos davonzustehlen.

«Ich will aber nicht vornehm sein», sagte ich, «das überlasse ich euch.»

Lille fand es schade, dass ich nicht etwas vorgespielt hatte, zum Beispiel das Regentropfenprélude. Paolo hatte Franziska nach Hause begleitet, wobei sie ihm gesagt hätte, sie fände mich merkwürdig.

«Das ist ihr gutes Recht», sagte ich, «die soll mich finden, wie sie will. Was habe ich mit der Person zu schaffen?»

Ich tat, was ich nicht sollte: Ich suchte sie, vor allem in der Fussgängerzone. Fragte mich dabei, ob ich sie überhaupt wiedererkennen würde. Es war so, dass ich mir ihr Gesicht nicht mehr vorstellen konnte. Und falls wir uns begegneten, was würde ich zu ihr sagen? An einem Kiosk kaufte ich Zigaretten, irgendwo trank ich im Freien Kaffee, die Zeitung lesend. Sie kam nicht.

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