Kitabı oku: «Geschlecht und Charakter», sayfa 10
IV. Kapitel.
Begabung und Genialität
Da über das Wesen der genialen Veranlagung sehr vielerlei an vielen Orten zu lesen ist, wird es Mißverständnisse verhüten, wenn noch vor allem Eingehen auf die Sache einige Feststellungen getroffen werden.
Da handelt es sich zunächst um die Abgrenzung gegen den Begriff des Talentes. Die populäre Anschauung bringt Genie und Talent fast immer so in Verbindung, als wäre das erste ein höherer oder höchster Grad des letzteren, durch stärkste Potenzierung oder Häufung verschiedener Talente in einem Menschen aus jenem abzuleiten, als gäbe es zumindest vermittelnde Übergänge zwischen beiden. Diese Ansicht ist vollständig verkehrt. Wenn es auch vielerlei Grade und verschieden hohe Steigerungen der Genialität sicherlich gibt, so haben diese Stufen doch gar nichts zu tun mit dem sogenannten »Talent«. Ein Talent, z. B. das mathematische Talent, mag jemand von Geburt in außerordentlichem Grade besitzen; er wird dann die schwierigsten Kapitel dieser Wissenschaft mit leichter Mühe sich anzueignen imstande sein; aber von Genialität, was dasselbe ist wie Originalität, Individualität und Bedingung eigener Produktivität, braucht er darum noch nichts zu besitzen. Umgekehrt gibt es hochgeniale Menschen, die kein spezielles Talent in besonders hohem Grade entwickelt haben. Man denke an Novalis oder an Jean Paul. Das Genie ist also keineswegs ein höchster Superlativ des Talentes, es ist etwas von ihm durch eine ganze Welt Geschiedenes, beide durchaus heterogener Natur, nicht aneinander zu messen und nicht miteinander zu vergleichen. Das Talent ist vererbbar, es kann Gemeingut einer Familie sein (die Bachs); das Genie ist nicht übertragbar, es ist nie generell, sondern stets individuell (Johann Sebastian).
Vielen leicht zu blendenden mittelmäßigen Köpfen, insbesondere aber den Frauen, gilt im allgemeinen geistreich und genial als dasselbe. Die Frauen haben, wenn auch der äußere Schein für das Gegenteil sprechen mag, in Wahrheit gar keinen Sinn für das Genie, ihnen gilt jede Extravaganz der Natur, die einen Mann aus Reih und Glied der anderen sichtbar hervortreten läßt, zur Befriedigung ihres sexuellen Ehrgeizes gleich; sie verwechseln den Dramatiker mit dem Schauspieler, und machen keinen Unterschied zwischen Virtuos und Künstler. So gilt ihnen denn auch der geistreiche Mensch als der geniale, Nietzsche als der Typus des Genies. Und doch hat, was mit seinen Einfällen bloß jongliert, alles Franzosentum des Geistes, mit wahrer geistiger Höhe nicht die entfernteste Verwandtschaft. Menschen, die nichts sind als eben geistreich, sind unfromme Menschen; es sind solche, die, von den Dingen nicht wirklich erfüllt, an ihnen nie ein aufrichtiges und tiefes Interesse nehmen, in denen nicht lang und schwer etwas der Geburt entgegenstrebt. Es ist ihnen nur daran gelegen, daß ihr Gedanke glitzere und funkle wie eine prächtig zugeschliffene Raute, nicht, daß er auch etwas beleuchte! Und das kommt daher, weil ihr Sinnen vor allem die Absicht auf das behält, was die anderen zu eben diesen Gedanken wohl »sagen« werden – eine Rücksicht, die durchaus nicht immer »rücksichtsvoll« ist. Es gibt Männer, die imstande sind, eine Frau, die sie in keiner Weise anzieht, zu heiraten – bloß weil sie den anderen gefällt. Und solche Ehen findet man auch zwischen so manchen Menschen und ihren Gedanken. Ich denke z. B. an eines lebenden Autors boshafte, anflegelnde, beleidigende Schreibweise: er glaubt zu brüllen und bellt doch nur. Leider scheint auch Friedrich Nietzsche, in seinen späteren Schriften (so erhaben er sonst über den Vergleich mit jenem ist), an seinen Einfällen manchmal vor allem das interessiert zu haben, was seinem Vermuten nach die Leute recht chokieren mußte. Er ist oft gerade dort am eitelsten, wo er am rücksichtslosesten scheint. Es ist die Eitelkeit des Spiegels selbst, der von dem Gespiegelten brünstig Anerkennung erfleht: Sieh, wie gut, wie rücksichtslos ich spiegle! – In der Jugend, so lange man selbst noch nicht gefestigt ist, sucht ja wohl ein jeder sich dadurch zu festigen, daß er den anderen anrempelt; aber leidenschaftlich-aggressiv sind ganz große Männer doch immer nur aus Not. Nicht sie gleichen dem jungen Fuchs auf der Suche nach seiner Mensur, nicht sie dem jungen Mädchen, das die neue Toilette vor allem darum so entzückt, weil ihre »Freundinnen« sich so darüber ärgern werden.
Genie! Genialität! Was hat dieses Phänomen nicht bei der Mehrzahl der Menschen für Unruhe und geistiges Unbehagen, für Haß und Neid, für Mißgunst und Verkleinerungssucht hervorgerufen, wieviel Unverständnis und – wieviel Nachahmungstrieb hat es nicht ans Licht treten lassen! »Wie er sich räuspert und wie er spuckt …«
Leicht trennen wir uns von den Imitationen des Genius, um uns ihm selbst und seinen echten Verkörperungen zuzuwenden. Aber wahrlich! Wo hier auch die Betrachtung den Anfang nehmen möge, bei der unendlichen, ineinanderfließenden Fülle wird immer nur ihre Willkür den Ausgangspunkt wählen können. Alle Qualitäten, die man als geniale bezeichnen muß, hängen so innig miteinander zusammen, daß eine vereinzelte Betrachtung ihrer, die nur allmählich zu höherer Allgemeinheit aufzusteigen plant, zur denkbar schwierigsten Sache wird: indem die Darstellung stets zu vorzeitiger Abrundung des Ganzen verführt zu werden fürchten muß, und sich in der isolierenden Methode nicht behaupten zu können droht. Alle bisherigen Erörterungen über das Wesen des Genius sind entweder biologisch-klinischer Natur und erklären mit lächerlicher Anmaßung das bißchen Wissen auf diesem Gebiete zur Beantwortung der schwierigsten und tiefsten psychologischen Fragen für hinreichend. Oder sie steigen von der Höhe eines metaphysischen Standpunktes herab, um die Genialität in ihr System aufzunehmen. Wenn der Weg, der hier eingeschlagen werden soll, nicht zu allen Zielen auf einmal führt, so liegt dies eben an seiner Natur eines Weges.
Denken wir daran, um wieviel besser der große Dichter in die Menschen sich hineinversetzen kann als der Durchschnittsmensch. Man ermesse die außerordentliche Anzahl der Charaktere, die Shakespeare, die Euripides geschildert haben; oder denke an die ungeheuere Mannigfaltigkeit der Personen, die in den Romanen Zolas auftreten. Heinrich von Kleist hat nach der Penthesilea ihr vollendetes Gegenteil, das Käthchen von Heilbronn geschaffen, Michel Angelo die Leda und die delphische Sibylle aus seiner Phantasie heraus verkörpert. Es gibt wohl wenige Menschen, die so wenig darstellende Künstler waren wie Immanuel Kant und Joseph Schelling, und doch sind sie es, die über die Kunst das Tiefste und Wahrste geschrieben haben.
Um nun einen Menschen zu erkennen oder darzustellen, muß man ihn verstehen. Um aber einen Menschen zu verstehen, muß man mit ihm Ähnlichkeit haben, man muß so sein wie er, um seine Handlungen nachzubilden und würdigen zu können, muß man die psychologischen Voraussetzungen, die sie in ihm hatten, in sich selbst nachzuerzeugen vermögen: einen Menschen verstehen, heißt ihn in sich haben. Man muß dem Geist gleichen, den man begreifen will. Darum versteht ein Gauner nur immer gut den anderen Gauner, ein gänzlich harmloser Mensch wieder vermag nie jenen, stets nur eine ihm ebenbürtige Gutmütigkeit zu fassen; ein Poseur erklärt sich die Handlungen des anderen Menschen fast immer als Posen und vermag einen zweiten Poseur rascher zu durchschauen als der einfache Mensch, an den der Poseur seinerseits nie recht zu glauben imstande ist. Einen Menschen verstehen heißt also: er selbst sein.
Danach müßte aber jeder Mensch sich selbst am besten verstehen, und das ist gewiß nicht richtig. Kein Mensch kann sich selbst je verstehen, denn dazu müßte er aus sich selbst herausgehen, dazu müßte das Subjekt des Erkennens und Wollens Objekt werden können: ganz wie, um das Universum zu verstehen, ein Standpunkt noch außerhalb des Universums erforderlich wäre, und einen solchen zu gewinnen, ist nach dem Begriffe eines Universums nicht möglich. Wer sich selbst verstehen könnte, der könnte die Welt verstehen. Daß dieser Satz nicht nur vergleichsweise gilt, sondern ihm eine sehr tiefe Bedeutung innewohnt, wird sich aus der Darstellung allmählich ergeben. Für den Augenblick ist sicher, daß man sein tiefstes eigenstes Wesen nicht selbst verstehen kann. Und es gilt auch wirklich: man wird, wenn man überhaupt verstanden wird, immer nur von anderen, nie von sich selbst verstanden. Der andere nämlich, der mit dem ersten eine Ähnlichkeit hat und ihm in anderer Beziehung doch gar nicht gleich ist, dem kann diese Ähnlichkeit zum Gegenstande der Betrachtung werden, er kann sich im anderen, oder den anderen in sich erkennen, darstellen, verstehen. Einen Menschen verstehen heißt also: auch er sein.
Der geniale Mensch aber offenbarte sich an jenen Beispielen eben als der Mensch, welcher ungleich mehr Wesen versteht als der mittelmäßige. Goethe soll von sich gesagt haben, es gebe kein Laster und kein Verbrechen, zu dem er nicht die Anlage in sich verspürt, das er nicht in irgend einem Zeitpunkte seines Lebens vollauf verstanden habe. Der geniale Mensch ist also komplizierter, zusammengesetzter, reicher; und ein Mensch ist um so genialer zu nennen, je mehr Menschen er in sich vereinigt, und zwar, wie hinzugefügt werden muß, je lebendiger, mit je größerer Intensität er die anderen Menschen in sich hat. Wenn das Verständnis des Nebenmenschen nur wie ein schwaches Stümpchen in ihm brennte, dann wäre er nicht imstande, als großer Dichter in seinen Helden das Leben einer mächtigen Flamme gleich zu entzünden, seine Figuren wären ohne Mark und Kraft. Das Ideal gerade von einem künstlerischen Genius ist es, in allen Menschen zu leben, an alle sich zu verlieren, in die Vielheit zu emanieren; indes der Philosoph alle anderen in sich wiederfinden, sie zu einer Einheit, die eben immer nur seine Einheit sein wird, zu resorbieren die Aufgabe hat.
Diese Proteus-Natur des Genies ist, ebensowenig wie früher die Bisexualität, als Simultaneität aufzufassen; auch dem größten Genius ist es nicht gegeben, zu gleicher Zeit, etwa an einem und demselben Tage, das Wesen aller Menschen zu verstehen. Die umfassendere und inhaltsvollere Anlage, welche ein Mensch geistig besitzt, kann nur nach und nach, in allmählicher Entfaltung seines ganzen Wesens sich offenbaren. Es hat den Anschein, daß auch sie in einem bestimmten Ablauf gesetzmäßiger Perioden zum Vorschein kommt. Diese Perioden wiederholen sich aber im Laufe des Lebens nicht in der gleichen Weise, als wäre jede nur die gewöhnliche Wiederholung der vorhergegangenen, sondern sozusagen in immer höherer Sphäre; es gibt nicht zwei Momente des individuellen Lebens, die einander ganz gleichen; und es existiert zwischen den späteren und den früheren Perioden nur die Ähnlichkeit der Punkte der höheren mit den homologen der niederen Spiralwindung. Daher kommt es, daß hervorragende Menschen so oft in ihrer Jugend den Plan zu einem Werke fassen, nach langer Pause im Mannesalter das Jahre hindurch nicht vorgenommene Konzept einer Bearbeitung unterziehen und erst im Greisenalter nach abermaligem Zurückstellen es vollenden: es sind die verschiedenen Perioden, in die sie abwechselnd treten und die sie stets mit anderen Gegenständen erfüllen. Diese Perioden existieren bei jedem Menschen, nur in verschiedener Stärke, mit verschiedener »Amplitüde«. Da das Genie die meisten Menschen mit der größten Lebendigkeit in sich hat, wird die Amplitüde der Perioden um so ausgesprochener sein, je bedeutender ein Mensch in geistiger Beziehung ist. Hochstehende Menschen hören daher meist von Jugend auf von Seiten ihrer Erzieher den Vorwurf, daß sie fortwährend »von einem Extrem ins andere« fielen. Als ob sie sich dabei besonders wohl befinden würden! Gerade beim hervorragenden Menschen nehmen solche Übergänge in der Regel einen ausgesprochen krisenhaften Charakter an. Goethe hat einmal von der »wiederholten Pubertät« der Künstler gesprochen. Was er gemeint hat, hängt innig mit diesem Gegenstande zusammen. Denn gerade die starke Periodizität des Genies bringt es mit sich, daß bei ihm immer erst auf sterile Jahre die fruchtbaren und auf sehr produktive Zeiten immer wieder sehr unfruchtbare folgen – Zeiten, in denen er von sich nichts hält, ja von sich psychologisch (nicht logisch) weniger hält als von jedem anderen Menschen: quält ihn doch die Erinnerung an die Schaffensperiode, und vor allem – wie frei sieht er sie, die von solchen Erinnerungen nicht Belästigten, herumgehen! Wie seine Ekstasen gewaltiger sind als die der anderen, so sind auch seine Depressionen fürchterlicher. Bei jedem hervorragenden Menschen gibt es solche Zeiten, kürzere und längere; Zeiten, wo er in völliger Verzweiflung an sich selbst sein, wo es bei ihm zu Selbstmordgedanken kommen kann, Zeiten, wo zwar auch eine Menge Dinge ihm auffallen können, und vor allem eine Menge Dinge sich ansetzen werden für eine spätere Ernte; wo aber nichts mit dem gewaltigen Tonus der produktiven Periode erscheint, wo, mit anderen Worten, der Sturm sich nicht einstellt; Zeiten, in denen wohl über solche, die trotzdem fortzuschaffen versuchen, gesagt wird: »Wie der jetzt herunterkommt!« »Wie der sich völlig ausgegeben hat!« »Wie der sich selbst kopiert!« etc. etc.
Auch seine anderen Eigenschaften, nicht bloß ob er überhaupt, sondern auch der Stoff, in welchem, der Geist, aus welchem heraus er produziert, sind im genialen Menschen einem Wechsel und einer starken Periodizität unterworfen. Er ist das eine Mal eher reflektierend und wissenschaftlich, das andere Mal mehr zu künstlerischer Darstellung disponiert (Goethe); zuerst konzentriert sich sein Interesse auf die menschliche Kultur und Geschichte, dann wieder auf die Natur (man halte Nietzsches »Unzeitgemäße Betrachtungen« neben seinen »Zarathustra«); er ist jetzt mystisch, nachher naiv (solche Beispiele haben in jüngster Zeit Björnson und Maurice Maeterlinck gegeben). Ja, so groß ist im hervorragenden Menschen die »Amplitüde« der Perioden, in denen die verschiedenen Seiten seines Wesens, die vielen Menschen, die in ihm intensiv leben, aufeinander succedieren, daß diese Periodizität auch physiognomisch sich deutlich offenbart. Hieraus möchte ich die auffallende Erscheinung erklären, daß bei begabteren Menschen der Ausdruck des Antlitzes viel öfter wechselt als bei Unbegabten, ja daß sie zu verschiedenen Zeiten oft unglaublich verschiedene Gesichter haben können; man vergleiche nur die von Goethe, von Beethoven, von Kant, von Schopenhauer aus den verschiedenen Epochen ihres Lebens erhaltenen Bilder! Man kann die Zahl der Gesichter, die ein Mensch hat, geradezu als ein physiognomisches Kriterium seiner Begabung ansehen. Menschen, die stets ein und dasselbe Gesicht völlig unverändert aufweisen, stehen auch intellektuell sehr tief. Hingegen wird es den Physiognomiker nicht wundern, daß begabtere Menschen, die auch im Verkehr und Gespräch immer neue Seiten ihres Wesens offenbaren, über die darum das Nachdenken nicht so bald ein fertiges Urteil gewinnt, diese Eigenschaft auch durch ihr Aussehen bewahrheiten.
Man wird vielleicht mit Entrüstung die hier entwickelte vorläufige Vorstellung vom Genie zurückweisen, weil sie als notwendig postuliere, daß ein Shakespeare auch die ganze Gemeinheit eines Falstaff, die ganze Schurkenhaftigkeit eines Jago, die ganze Rohheit eines Caliban in sich gehabt habe, somit die großen Menschen moralisch erniedrige, indem sie ihnen das intimste Verständnis auch für alles Verächtliche und Unbedeutende imputiere. Und es muß zugegeben werden, daß nach dieser Auffassung die genialen Menschen von den zahlreichsten und heftigsten Leidenschaften erfüllt und selbst von den widerlichsten Trieben nicht verschont sind (was übrigens durch ihre Biographien überall bestätigt wird).
Aber jener Einwurf ist trotzdem unberechtigt. Dies wird aus der späteren Vertiefung des Problems noch hervorgehen; einstweilen sei darauf hingewiesen, daß nur eine oberflächliche Schlußweise ihn als die notwendige Folgerung aus den bis jetzt dargelegten Prämissen betrachten kann, die vielmehr allein schon sein Gegenteil mehr als wahrscheinlich zu machen genügen. Zola, der den Impuls zum Lustmord so gut kennt, hätte trotzdem nie einen Lustmord begangen, und zwar darum, weil in ihm selber eben so viel anderes noch ist. Der wirkliche Lustmörder ist die Beute seines Antriebes; in seinem Dichter wirkt der ganze Reichtum seiner vielfältigen Anlage dem Reize entgegen. Er bewirkt, daß Zola den Lustmörder viel besser als jeder wirkliche Lustmörder sich selbst kennen, daß er aber eben damit ihn erkennen wird, wenn die Versuchung wirklich an ihn herantreten sollte; und damit steht er ihr bereits gegenüber, Aug' in Auge, und kann sich ihrer erwehren. Auf diese Weise wird der verbrecherische Trieb im großen Menschen vergeistigt, zum Künstlermotiv wie bei Zola, oder zur philosophischen Konzeption des »Radikal-Bösen« wie bei Kant, darum führt er ihn nicht zur verbrecherischen Tat.
Aus der Fülle von Möglichkeiten, die in jedem bedeutenden Menschen vorhanden sind, ergeben sich nun wichtige Konsequenzen, welche zur Theorie der Heniden, wie sie im vorigen Kapitel entwickelt wurde, zurückleiten. Was man in sich hat, bemerkt man eher, als was man nicht versteht (wäre dem anders, so gäb' es keine Möglichkeit, daß die Menschen miteinander verkehren könnten – sie wissen meistens gar nicht, wie oft sie einander mißverstehen); dem Genie, das so viel mehr versteht als der Dutzendmensch, wird also auch mehr auffallen als diesem. Der Intrigant wird es leicht bemerken, wenn ein anderer ihm gleicht; der leidenschaftliche Spieler sofort wahrnehmen, wenn ein zweiter große Lust zum Spiele verrät, während dies den anderen, die anders sind, in den meisten Fällen lange entgeht: »der Art ja versiehst du dich besser«, heißt es in Wagners »Siegfried«. Vom komplizierteren Menschen aber galt, daß er jeden Menschen besser verstehen könne als dieser sich selber, vorausgesetzt, daß er dieser Mensch ist und zugleich noch etwas mehr, genauer, wenn er diesen Menschen und dessen Gegenteil, alle beide, in sich hat. Die Zweiheit ist stets die Bedingung des Bemerkens und des Begreifens; fragen wir die Psychologie nach der kardinalsten Bedingung des Bewußtwerdens, der »Abhebung«, so erhalten wir zur Antwort, daß hiefür die notwendige Voraussetzung der Kontrast sei. Gäbe es nur ein einförmiges Grau, so hätte niemand ein Bewußtsein, geschweige denn einen Begriff von Farbe; absolute Eintönigkeit eines Geräusches führt beim Menschen raschen Schlaf herbei: Zweiheit (das Licht, das die Dinge scheidet und unterscheidet) ist die Ursache des wachen Bewußtseins.
Darum kann niemand sich selbst verstehen, wenn er auch sein ganzes Leben ununterbrochen über sich nachdächte, und immer nur einen anderen, dem er zwar ähnlich, aber der er nicht ganz ist, sondern von dessen Gegenteil er ebensoviel in sich hat wie von ihm selbst. Denn in dieser Verteilung liegen die Verhältnisse für das Verstehen am günstigsten: der früher erwähnte Fall Kleistens. Endgültig bedeutet also einen Menschen verstehen soviel als: ihn und sein Gegenteil in sich haben.
Daß sich ganz allgemein stets Gegensatzpaare im selben Menschen zusammenfinden müssen, um ihm das Bewußtwerden auch nur eines Gliedes von jedem Paare zu gestatten, dafür liefert die Lehre vom Farbensinn des Auges mehrere physiologische Beweise, von denen ich nur die bekannte Erscheinung erwähne, daß die Farbenblindheit sich immer auf beide Komplementärfarben erstreckt; der Rotblinde ist auch grünblind, und es gibt nur Blaugelbblinde und keinen Menschen, der blau empfinden könnte, wenn er für gelb unempfänglich wäre. Dieses Gesetz gilt im Geistigen überall, es ist das Grundgesetz alles Bewußtwerdens. Zum Beispiel wird, wer immer sehr zum Frohmut, auch zum Umschlag in Trübsinn eher veranlagt sein als ein stets gleichmäßig Gestimmter; und wer für jederlei Feinheit und Subtilität so viel Sinn hat wie Shakespeare, auch die ungeschlachteste Derbheit, weil gleichsam als seine Gefahr, am sichersten empfinden und auffassen.
Je mehr menschliche Typen und deren Gegensätze ein Mensch in seiner Person vereinigt, desto weniger wird ihm, da aus dem Verstehen auch das Bemerken folgt, entgehen, was die Menschen treiben und lassen, desto eher wird er durchschauen, was sie fühlen, denken und eigentlich wollen. Es gibt keinen genialen Menschen, der nicht ein großer Menschenkenner wäre; der bedeutende Mensch blickt einfacheren Menschen oft im ersten Augenblick bis auf den Grund, und ist nicht selten imstande, sie sofort völlig zu charakterisieren.
Nun hat aber unter den meisten Menschen der eine für dies, der andere für jenes einen nur mehr oder minder einseitig entwickelten Sinn. Dieser kennt alle Vögel und unterscheidet ihre Stimmen aufs feinste, jener hat von früh auf einen liebevollen und sicheren Blick für die Pflanzen; der eine fühlt sich von den übereinandergeschichteten tellurischen Sedimenten erschüttert (Goethe), der andere erschauert unter der Kälte des nächtigen Fixsternhimmels (Kant); manch einer findet das Gebirge tot und fühlt sich gewaltig nur vom ewig bewegten Meere angesprochen (Böcklin), ein zweiter kann zu dessen immerwährender Unruhe kein Verhältnis gewinnen und kehrt unter die erhabene Macht der Berge zurück (Nietzsche). So hat jeder Mensch, auch der einfachste, etwas in der Natur, zu dem es ihn hinzieht, und für das seine Sinne schärfer werden denn für alles übrige. Wie sollte nun der genialste Mensch, der, im idealen Falle, diese Menschen alle in sich hat, mit ihrem Innenleben nicht auch ihre Beziehungen und Liebesneigungen zur Außenwelt in sich versammeln? So wächst in ihn die Allgemeinheit nicht nur alles Menschlichen, sondern auch alles Natürlichen hinein; er ist der Mensch, der zu den meisten Dingen im intimsten Rapporte steht, dem das meiste auffällt, das wenigste entgeht; der das meiste versteht, und es am tiefsten versteht schon darum, weil er es mit den vielfältigsten Dingen zu vergleichen und von den zahlreichsten zu unterscheiden in der Lage ist, am besten zu messen und am besten zu begrenzen weiß. Dem genialen Menschen wird das meiste und all dies am stärksten bewußt. Darum wird zweifellos auch seine Sensibilität die feinste sein; dies darf man aber nicht, wie es, in offenbar einseitigem Hinblick auf den Künstler, geschehen ist, bloß zu Gunsten einer verfeinerten Sinnesempfindung, größerer Sehschärfe beim Maler (oder beim Dichter), größerer Hörschärfe beim Komponisten (Mozart) auslegen: das Maß der Genialität ist weniger in der Unterschiedsempfindlichkeit der Sinne, als in der des Geistes zu suchen; anderseits wird jene Empfindlichkeit oft auch mehr nach innen gekehrt sein.
So ist das geniale Bewußtsein am weitesten entfernt vom Henidenstadium; es hat vielmehr die größte, grellste Klarheit und Helle. Genialität offenbart sich hier bereits als eine Art höherer Männlichkeit; und darum kann W nicht genial sein. Dies ist die folgerechte Anwendung des im vorigen Kapitel gewonnenen Ergebnisses, daß M bewußter lebe als W, auf den eigentlichen Ertrag des jetzigen Kapitels: dieses gipfelt in dem Satze, daß Genialität identisch ist mit höherer, weil allgemeinerer Bewußtheit. Jenes intensivere Bewußtsein von allem wird aber selbst erst ermöglicht durch die enorme Zahl von Gegensätzen, die im hervorragenden Menschen beisammen sind.
Darum ist zugleich Universalität das Kennzeichen des Genies. Es gibt keine Spezialgenies, keine »mathematischen« und keine »musikalischen Genies«, auch keine »Schachgenies«, sondern es gibt nur Universalgenies. Der geniale Mensch läßt sich definieren als derjenige, der alles weiß, ohne es gelernt zu haben. Unter diesem »Alleswissen« sind selbstverständlich nicht die Theorien und Systematisierungen gemeint, welche die Wissenschaft an den Tatsachen vorgenommen hat, nicht die Geschichte des spanischen Erbfolgekrieges, und nicht die Experimente über Diamagnetismus. Aber nicht erst aus dem Studium der Optik erwächst dem Künstler die Kenntnis der Farben des Wassers bei trübem und heiterem Himmel, und es bedarf keiner Vertiefung in eine Charakterologie, um Menschen einheitlich zu gestalten. Denn je begabter ein Mensch ist, über desto mehr hat er immer selbständig nachgedacht, zu desto mehr Dingen hat er ein persönliches Verhältnis.
Die Lehre von den Spezialgenies, die es gestattet, z. B. vom »Musikgenie« zu reden, das »in allen anderen Beziehungen unzurechnungsfähig« sei, verwechselt abermals Talent und Genie. Der Musiker kann, wenn er wahrhaft groß ist, in der Sprache, auf die ihn die Richtung seines besonderen Talentes weist, genau so universell sein, genau so die ganze innere und äußere Welt durchmessen wie der Dichter oder der Philosoph; solch ein Genie war Beethoven. Und er kann in ebenso beschränkter Sphäre sich bewegen wie ein mittelmäßiger wissenschaftlicher oder künstlerischer Kopf; solch ein Geist war Johann Strauß, den es merkwürdig berührt, ein Genie nennen zu hören, so schöne Blüten eine lebhafte, aber sehr eng begrenzte Einbildungskraft in ihm auch getrieben hat. Es gibt, um nochmals darauf zurückzukommen, vielerlei Talente, aber es gibt nur eine Genialität, die ein beliebiges Talent wählen und ergreifen mag, um in ihm sich zu betätigen. Es gibt etwas, das allen genialen Menschen als genialen gemeinsam ist, so sehr auch der große Philosoph vom großen Maler, der große Musiker vom großen Bildhauer, der große Dichter vom großen Religionsstifter sich sonst unterscheiden mögen. Das Talent, durch dessen Medium die eigentliche Geistesanlage eines Menschen sich offenbart, ist viel mehr Nebensache, als man gewöhnlich glaubt, und wird aus der großen Nähe, aus welcher kunstphilosophische Betrachtung leider so oft erfolgt, in seiner Wichtigkeit meist weit überschätzt. Nicht nur die Unterschiede in der Begabung, auch die Gemütsart und Weltanschauung kehren sich wenig an die Grenzen der Künste voneinander, diese werden übersprungen, und so ergeben sich dem vorurteilsloseren Blick oft überraschende Ähnlichkeiten; er wird dann, statt innerhalb der Musikgeschichte, respektive der Geschichte der Kunst, der Literatur und Philosophie nach Analogien zu blättern, lieber ungescheut z. B. Bach mit Kant vergleichen, Karl Maria v. Weber neben Eichendorff stellen, und Böcklin mit Homer zusammenhalten; und wenn so die Betrachtung reiche Anregung und große Fruchtbarkeit gewinnen kann, so wird das auch dem psychologischen Tiefblick schließlich zugute kommen, an dessen Mangel alle Geschichtsschreibung von Kunst wie von Philosophie am empfindlichsten krankt. Welche organischen und psychologischen Bedingungen es übrigens sind, die ein Genie entweder zum mystischen Visionär oder etwa zum großen Zeichner werden lassen, das muß als unwesentlich für die Zwecke dieser Schrift beiseite bleiben.
Von jener Genialität aber, die, bei allen oft sehr tief gehenden Unterschieden zwischen den einzelnen Genies, eine und dieselbe bleibt und, nach dem hier aufgestellten Begriffe, überall manifestiert werden kann, ist das Weib ausgeschlossen. Wenn auch die Frage, ob es rein wissenschaftliche, und ob es bloß handelnde, nicht nur künstlerische und philosophische Genies geben könne, erst in einem späteren Abschnitt zur Entscheidung gebracht werden soll: man hat allen Grund, vorsichtiger zu verfahren mit der Verleihung des Prädikates genial, als man dies bisher gewesen ist. Es wird sich noch deutlich zeigen: will man überhaupt vom Wesen der Genialität eine Vorstellung sich bilden und zu einem Begriffe derselben zu gelangen suchen, so muß die Frau als ungenial bezeichnet werden; und trotzdem wird niemand der Darstellung nachsagen dürfen, sie hätte im Hinblick auf das weibliche Geschlecht irgend einen willkürlichen Begriff erst konstruiert und ihn nachträglich als das Wesen der Genialität hingestellt, um nur den Frauen keinen Platz innerhalb derselben gönnen zu müssen.
Hier kann auf die anfänglichen Betrachtungen des Kapitels zurückgegriffen werden. Während die Frau der Genialität kein Verständnis entgegenbringt, außer einem, das sich eventuell an die Persönlichkeit eines noch lebenden Trägers knüpfte, hat der Mann jenes tiefe Verhältnis zu dieser Erscheinung an sich, das Carlyle in seinem noch immer so wenig verstandenen Buche Hero-Worship, Heldenverehrung, genannt und so schön und hinreißend ausgemalt hat. In der Heldenverehrung des Mannes kommt abermals zum Ausdruck, daß Genialität an die Männlichkeit geknüpft ist, daß sie eine ideale, potenzierte Männlichkeit vorstellt16; denn das Weib hat kein originelles, sondern ein ihr vom Manne verliehenes Bewußtsein, sie lebt unbewußt, der Mann bewußt: am bewußtesten aber der Genius.