Kitabı oku: «Vera - Sklavin der Lust | Roman»
Impressum:
Vera - Sklavin der Lust | Erotischer Roman
von P.L. Winter
P.L. Winter ist ein spät berufener Autor, der erst im reifen Alter von fünfzig Jahren zur Feder griff. Geprägt von seiner naturverbundenen Kindheit und internationalen beruflichen Tätigkeit, legt er großen Wert auf detailreiche, stimmige Beschreibungen und würzt diese mit einem Schuss Humor. Die Sprache bleibt dabei stets sinnlich, anregend und gepflegt. Sein Ziel ist, den Leser zu fesseln, anzuregen und seiner Fantasie freien Lauf zu lassen – Kopfkino auf höchstem Niveau. Neben zahlreichen erotischen Kurzgeschichten gehören auch Romane zu seinem Repertoire. Hier interessiert ihn besonders die Symbiose zwischen Krimi und Erotik, in welcher er der Fantasie seiner Leser eine besondere Herausforderung bietet.
Lektorat: Marie Gerlich
Originalausgabe
© 2018 by blue panther books, Hamburg
All rights reserved
Cover: Frau: © Tverdokhlib @ bigstockphoto.com Hintergrund: © JozefArt @ bigstockphoto.com
Umschlaggestaltung: MT Design
ISBN 9783862776993
www.blue-panther-books.de
Vera lebt
Maria Wegner saß auf dem bequemen Lehnstuhl in ihrer Stube und sah zum Blumenfenster hinaus. Doch sie nahm die Umgebung nicht wahr, ihre Gedanken kreisten in der Vergangenheit, um ihren Sohn Manfred. Erinnerungen krochen in ihr hoch – Erinnerungen an seine Kindheit, das Abitur, seinen Studienabschluss, die Feier zur Beförderung zum Filialleiter einer Bank bis hin zu einer Ehrung bei der Polizei vor zwei Jahren. Sie blickte zur Kommode neben sich, auf der Fotos zu eben jenen Erinnerungen standen, mitten unter ihnen ein mit bunten Steinen verziertes goldfarbenes Kreuz, vor dem eine Kerze brannte.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Susanne stürzte herein. »Vera ist wieder da – Vera lebt!«, rief sie aufgeregt. Maria sah ihre Tochter verwundert an. Sie verstand nicht, was sie damit meinte, konnte, nein, wollte es nicht begreifen.
»Ja doch – es stimmt! Ich habe es gerade von Kurt erfahren und der weiß es von der Flughafenpolizei. Sie ist vor vier Stunden in Frankfurt mit dem Flieger aus Brasilien gelandet und auf dem Weg hierher.« Susanne, ganz außer Atem, schnappte nach Luft. Sie war die ganze Strecke von der Tischlerei bis nach Hause gelaufen – etwa anderthalb Kilometer –, um die Neuigkeit direkt zu überbringen. Am Telefon hatte sie es ihrer Mutter nicht sagen wollen, schließlich wusste sie nicht, wie Maria darauf reagieren würde. Nicht, dass sie etwas Unüberlegtes tat.
Maria sah noch immer überrascht aus. Vera, ihre Schwiegertochter, war vor mehr als zehn Monaten ohne Vorankündigung von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden, zusammen mit Manfred. Vier Monate später hatte die Familie die Information erreicht, dass er tot in Brasilien aufgefunden worden war. Von Vera fehlte seitdem jede Spur. Die Ungewissheit war für Maria die Hölle gewesen. Und dann die Information vom Tod ihres Sohnes, der lange Kampf um seine Beisetzung, die schließlich überstürzt in Brasilien erfolgt war – ohne ihre Zustimmung, und ohne dass sie die Chance gehabt hätte, daran teilzunehmen. Inzwischen war Maria eine gebrochene Frau, die nur noch von ihrem Hass und der Wut auf Veras Freundin Gerda aufrechterhalten wurde. Diese hatte nach Veras Verschwinden dreiste Behauptungen aufgestellt: Vera sei von Manfred entführt worden, nachdem er sie immer wieder vergewaltigt habe. Vergewaltigt! Wie sollte das möglich sein? Die beiden waren doch schon drei Jahre verheiratet gewesen – das ging einfach nicht in Marias Kopf, es konnte einfach nicht sein, es durfte nicht sein.
Der Hass gegen ihre Schwiegertochter war in der langen Zeit etwas abgekühlt. Sie ging davon aus, dass Vera entweder tot war oder sich irgendwohin abgesetzt hatte und sie alle nie wieder etwas von ihr hören, geschweige denn sehen würden. Sie war ihr inzwischen schlichtweg egal geworden – Vera existierte einfach nicht mehr in dieser Welt. Auf einmal sollte sie wieder da sein? Auf dem Weg hierher, ihr gegenübertreten?
»W... w... was?«, fragte sie mit zitternder Stimme und schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Vera kommt – sie lebt und ist wohlauf! Diese Schlampe kommt hierher!«, fauchte Susanne. Auch sie war voller Hass gegen ihre Schwägerin.
»Dann ... lass sie nur kommen. Der werden wir einen Empfang bereiten, der sich gewaschen hat. Die wird sich noch wünschen, dass sie in Brasilien geblieben wäre!«
In der nächsten halben Stunde redeten sich die beiden Frauen gegenseitig in Rage. Noch einmal kamen die Erinnerungen an das Erlebte der letzten Monate hoch und ließen all die Ängste, den Frust und die aufgestaute Wut wieder lebendig werden. Sie bestätigten sich gegenseitig in ihren Vorwürfen gegen Vera und das, was sie ihrem geliebten Manfred angetan hatte, bis es an der Tür klingelte.
Susanne trat in den Flur hinaus und konnte durch die farbige Glaseinlage der Haustür erkennen, dass mehrere Personen davorstanden. Allerdings sah sie durch das strukturierte Glas nicht, wer es war. Das bunte Glas und die helle Sonne im Hintergrund erzeugten eine eigenartige, fast mystische Stimmung in dem schmalen Flur. Als sie öffnete, standen zwei Polizisten vor ihr und grüßten sie freundlich.
»Guten Tag, mein Name ist Schulze, Dietmar Schulze, und das ist mein Kollege Markus Heinrich. Wir sind von der Flughafenpolizei Frankfurt und sollen diese Frau nach Hause begleiten.« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete hinter sich. Dort stand Vera und lächelte sie freundlich an. »Sind wir hier bei Ihnen richtig?«
»Hallo, Susanne, wie geht es dir?«
Susanne war sprachlos – sie hatte sich mit ihrer Mutter so aufgestachelt, dass sie vorgehabt hatte, Vera gleich an die Gurgel zu gehen. Aber jetzt, als dieses Biest vor ihr stand, freundlich lächelnd, als ob nichts geschehen wäre, mit den beiden Polizisten an ihrer Seite, war sie vollkommen perplex. Sie hörte Schritte hinter sich, dann wurde die Haustür weiter aufgerissen.
»Du Schlampe, du dreckige Schlampe!«, fluchte Maria laut und drängelte sich mit erhobenem Gehstock an ihrer Tochter vorbei.
Susanne taumelte zur Seite, suchte Halt und sah aus den Augenwinkeln, wie Maria den erhobenen Stock wütend auf und ab wippen ließ.
»Du Schlampe, ich schlage dich tot, du hast meinen Manfred auf dem Gewissen!«, zeterte Maria erneut und ging auf Vera los, die erschrocken einen Schritt zurückgewichen war.
Im letzten Moment konnte einer der Polizisten den Hieb abfangen und Maria den Stock aus der Hand winden, während der zweite Beamte versuchte, sie zurückzuhalten. Mit vereinten Kräften schafften sie es schließlich, die Frau zu bändigen und davon abzuhalten, auf Vera einzuprügeln.
Es dauerte ganze fünf Minuten, bis sich die Situation zu beruhigen begann. Auf der Straße sammelten sich bereits neugierige Nachbarn, die – vom Geschrei angelockt – das Geschehen interessiert beobachteten.
»Entschuldigen Sie«, fragte einer der Polizisten mit ruhiger Stimme, »wäre es möglich, dass wir das drinnen klären? Hier auf offener Straße vor all den Passanten und Nachbarn ist doch nicht der richtige Platz dafür.«
Trotz der sanften Stimme, mit der er seinen gut gemeinten Vorschlag vortrug, explodierte Maria erneut und schnaubte, Vera käme nur über ihre Leiche ins Haus. Auch Susanne stimmte dem wütend zu und erklärte, dass sich im Haus ohnehin nichts mehr aus Veras Besitz befände – sie hätten bereits vor Monaten alle ihre Sachen rausgeschmissen.
Als Maria erneut versuchte, auf Vera einzuschlagen, zogen sich die Polizisten vorsichtig mit ihr zurück. Sie waren mit der unerwarteten Entwicklung überfordert – es sei eine einfache Überstellung nach Hause, hatte man ihnen gesagt. Dass Vera von der Flughafenpolizei die 350 Kilometer von Frankfurt nach Schweitenkirchen gebracht werden sollte, hatte sie zwar gewundert, aber Befehl war nun mal Befehl und den hatten sie nicht weiter hinterfragt.
Als sie irritiert und verloren mit Vera an ihrem Wagen standen – Maria und Susanne lauthals schimpfend noch immer an der Haustür –, trat einer der Umstehenden an sie heran.
»Hallo, Vera – bist du’s wirklich? Ich kann es kaum fassen, dass du wieder da bist. Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?«
Vera schien noch immer viel zu verstört und reagierte nicht, sodass der Polizist, der sich mit Schulze vorgestellt hatte, antwortete: »Sie kennen Frau Wegner?«
»Ja, sicher, ich wohne drei Häuser weiter und kenne sie seit knapp fünf Jahren, seit sie regelmäßig hier bei Manfred aufgetaucht ist. Nach ihrer Heirat haben wir uns immer wieder mal gegenseitig zum Essen eingeladen. Wir sind gute Freunde, kann man sagen.«
»Sehr gut. Können Sie uns vielleicht erklären, was hier gerade los war?«, fragte der andere Polizist – Heinrich – nach und deutete zum Haus, in das Maria und Susanne sich gerade schimpfend zurückgezogen und die Türe hinter sich zugeknallt hatten.
»Das hängt mit dem Verschwinden von Vera und Manfred zusammen – Details sollten Sie auf der Wache nachfragen. Ihre Kollegen können Ihnen das sicher besser erklären. Vera – wo wohnst du jetzt eigentlich?«
Vera hatte sich zwischenzeitlich wieder etwas gefangen und antwortete direkt: »Hallo, Richard. Danke, mir geht es so weit gut, ich bin nur etwas erschrocken über den Empfang. Eigentlich wohne ich ja dort« – sie deutete auf das Haus von Maria und Susanne – »zumindest hatte ich das angenommen.«
»Verstehe«, meinte Richard nachdenklich, »das könnte allerdings etwas schwierig werden. Wie Maria schon gesagt hat, haben sie Anfang März plötzlich alles Mögliche rausgeworfen. Da lag ein großer Haufen direkt an der Straße und alle Leute haben sich gewundert, weil die Sperrmüllsammlung schon zwei Wochen vorher war und alles noch recht neu und brauchbar aussah. Reden konnte man zu dem Zeitpunkt mit den beiden auch nicht wirklich. So haben sich viele einfach das eine oder andere Teil von dem Haufen genommen, bis er weg war – wir eingeschlossen. Wenn du willst, kannst du das, was wir uns genommen haben, natürlich gerne wiederhaben.«
»Danke – ich wüsste derzeit aber gar nicht, wohin damit. Vielleicht später, in ein paar Wochen. Wenn ich mich wieder eingelebt habe und ich das eine oder andere vermisse, komme ich gerne auf dich zurück. Vielleicht weißt du dann, wo es geblieben ist.«
»Hast du schon mit Gerda gesprochen? Hat sie dich nicht ... vorbereitet?«, wollte Richard vorsichtig wissen.
»Gerda? Meinst du Gerda Schuster?« hakte Vera unsicher nach. »Nein, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich wollte eigentlich nur erst mal nach Hause. Mich wieder in gewohnter Umgebung einleben und herausfinden, was aus Manfred geworden ist.«
»Das solltest du doch am besten wissen – oder etwa nicht?« Jetzt war es an Richard, verdutzt zu sein. Auch die beiden Polizisten spitzten nun interessiert die Ohren und hofften auf mögliche Hintergründe zu diesem verzwickten Auftrag.
»Nein, ich weiß gar nichts. Am Flughafen in Brasilien haben sie mir anfangs Schwierigkeiten gemacht, weil ich so lange im Land war. Mit dem Touristenvisum hätte ich eigentlich binnen drei Monaten ausreisen müssen. Über die Einreisepapiere sind sie auf seinen Namen gestoßen und wollten wissen, wo er ist, da auch er laut ihren Informationen bisher nicht ausgereist ist. Bei der Einreise in Frankfurt wurde ich zur Seite genommen und schon wieder nach ihm gefragt! Die Polizisten waren aber wirklich freundlich. Nach der Befragung haben sie mich mit den beiden Kollegen nach Hause geschickt und gemeint, ich solle mich in den nächsten Tagen zur Verfügung halten, die Kollegen vor Ort würden mich kontaktieren. Es gäbe da anscheinend etwas zu klären und sie bräuchten dazu weitere Informationen von mir.«
»Du hast also keine Ahnung davon, was hier in den letzten Monaten los war?«
»Nein! Ich weiß nicht einmal so richtig, warum ich in Brasilien war«, antwortete Vera und ihre Augen begannen wässrig zu werden.
»Dann glaube ich wirklich, es wäre das Beste, wenn du erst mal Gerda anrufst – sie kann dir das Ganze sicher am besten erklären.«
»Woher kennst du Gerda eigentlich? Wieso glaubst du, dass sie mir alles erklären kann?«
»Du machst wohl Scherze? Sie ist doch eine deiner besten Freundinnen – oder besser gesagt, wahrscheinlich derzeit deine letzte echte Freundin«, erwiderte Richard leicht verwundert und fuhr fort: »Sie war die Einzige, die sich in den letzten Monaten noch für dich ins Zeug gelegt und alle möglichen und unmöglichen Hebel in Bewegung gesetzt hat! Sie hat alles gesammelt, was sie in die Finger kriegen konnte, und hat damit als Einzige einen Überblick, so weit man den überhaupt haben kann. Du hast doch ihre Nummer?«
»Nein – leider nicht. Ich habe derzeit auch gar kein Handy. Meines hab ich wohl irgendwo in Brasilien verloren und da waren alle Nummern drin.«
»Kein Problem.« Richard zog sein Mobiltelefon aus der Tasche, wählte eine Nummer aus seinen Kontakten und hielt es Vera hin. »Nimm – ich habe schon gewählt. Sie hat uns ihre Nummer gegeben, damit wir sie erreichen können, falls es irgendwelche Neuigkeiten gibt – dass du wieder da bist, wird sie sicher von den Socken hauen!«
Vera nahm das Telefon ans Ohr und hörte es klingeln, bevor eine bekannte Stimme sagte: »Hey, Richard, wie geht’s – hast du etwas Neues?«
»Hallo Gerda. Ich bin’s, Vera.« Vom anderen Ende kam keine Reaktion, ein langer Moment betretener Stille trat ein. »Hallo – bist du noch dran? Ich bin’s! Vera!«
Nun ertönte eine weinerliche Stimme am anderen Ende: »Vera? Bist du es wirklich? Wo bist du?«
»Hier vor unserem Haus auf der Straße, bei Richard –«
»Bleib, wo du bist, geh auf gar keinen Fall weg! Ich bin in zwanzig Minuten bei dir, ich komme sofort!«, kam die erregte Antwort von Gerda. »Nein, besser du gehst mit zu Richard. Halte dich auf jeden Fall von Maria und Susanne fern! Hast du verstanden? Geh ja nicht zu den beiden – ich bin gleich bei dir, gib mir noch mal Richard – schnell!«
Aus dem Mobiltelefon ertönte plötzlich ein Scheppern, als ob etwas zu Boden gefallen wäre, ein Klirren von Metall auf Metall, das Knallen einer zugeschlagenen Tür und das laute Klappern von Absätzen auf Steinplatten.
Irritiert gab Vera das Telefon an Richard weiter. »Sie will mit dir reden.«
Schon ertönte wieder Gerdas Stimme: »Richard, Richard, du musst Vera unbedingt zu dir ins Haus nehmen. Ich bin schon unterwegs, ich komme gleich bei euch vorbei. Bring sie vor Maria und Susanne in Sicherheit – sie darf ja nicht zu den beiden ins Haus, die tun ihr noch etwas an! Hörst du: Lass sie ja nicht zu denen!« Gerda schien in heller Aufregung zu sein und hastete offenbar in Windeseile eine Treppe hinunter.
»Schon gut, Gerda, ja, wir gehen zu mir. Brauchst keine Angst haben, sie war schon bei Maria und –«
»Was? Seid ihr wahnsinnig, die beiden flippen doch total aus, wenn Vera bei denen aufkreuzt! Die Alte ist imstande und bringt Vera eigenhändig um ...«
»Gerda, beruhige dich – so beruhige dich doch. Sie war mit zwei Polizisten am Haus und die haben das Ärgste verhindert. Jetzt komm erst mal in Ruhe her, dann wird sich alles klären. In Ordnung? In Ruhe habe ich gesagt. Vera ist bei uns in Sicherheit, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, komm einfach her –«
»Polizisten? Wieso Polizisten ...?«
Schließlich brach die Verbindung ab.
Richard wandte sich an die wartenden Polizisten: »Ich glaube, wir sollten wirklich lieber zu mir ins Haus gehen – wollen Sie mitkommen?«
»Eigentlich sind wir hier mit unserer Aufgabe fertig, alles Weitere fällt nicht mehr in unsere Zuständigkeit«, gab Schulze zurück. »Wenn Sie es wünschen, können wir zur Sicherheit die Kollegen von der Wache bitten, vorbeizukommen und nach dem Rechten zu sehen. Wir werden sie jedenfalls darüber informieren müssen, was hier vorgefallen ist – nur damit sie Bescheid wissen.«
»Ich glaube nicht, dass es notwendig sein wird, dass jemand herkommt. Dass Sie die Kollegen informieren, finde ich gut. Diese können uns ja auch erreichen, wenn sie etwas wissen wollen«, antwortete Richard und verabschiedete sich von den beiden Uniformierten. Er griff nach Veras kleinem Trolley und bedeutete ihr, vorzugehen. Sie verabschiedete und bedankte sich ebenfalls bei den Polizisten und schritt hinter ihm durch die sich vor ihr teilende Menge.
Gerda
Auf dem Weg zu Richards Haus versuchte Vera, ihre Gedanken etwas zu ordnen. Gerda war eine Studienkollegin, sie hatten sich schon mit zwanzig kennengelernt – also vor gut vierzehn Jahren. Während des Studiums waren sie dicke Freundinnen gewesen und hatten viel gemeinsam unternommen. Gerda war stets ihre Beichtmutti gewesen, bei der sie sich immer hatte ausweinen können, wenn sie wieder einmal der Liebeskummer gequält hatte, was bei Vera recht oft vorgekommen war. Die ersten beiden Jahre nach dem Studium hatten sie noch regelmäßig in Kontakt gestanden, sich aber im Laufe der Zeit aus den Augen verloren. Als Vera im Mai vor zwei Jahren beruflich in München gewesen war, hatten sie sich zufällig beim Mittagessen getroffen und daraufhin abends ein großes Wiedersehen gefeiert. Dabei hatten sie festgestellt, dass sie gar nicht so weit voneinander entfernt arbeiteten und wohnten.
Gerda war Juristin und arbeitete bei einem angesehenen Notar etwa zwanzig Kilometer von Schweitenkirchen entfernt. In der Folge hatten sie sich ab und zu getroffen, wenngleich sich Vera nicht ganz sicher war, wie oft. In ihren Erinnerungen klaffte ein großes Loch und sie hatte keinerlei Erklärung, warum und wann genau es begonnen hatte.
»Da wären wir, herein in die gute Stube!«, unterbrach Richard ihre Gedanken und deutete mit einer ausholenden Geste in den Hausflur. »Simone ist noch mit den Kindern unterwegs, sie sollten in etwa zwei Stunden wiederkommen. Ich mache dir erst einmal einen Tee – magst du noch immer Hagebutte?«
»Äh – ich glaube schon. Ehrlich gesagt, habe ich schon seit Langem keinen mehr getrunken.«
»Du hast ... keinen Tee mehr getrunken?«, fragte Richard und sah sie verwundert an. Vera war eine leidenschaftliche Teetrinkerin und mochte am liebsten Hagebutte, genau wie seine Frau Simone. Immer, wenn Vera bei ihnen zu Besuch gewesen war, hatte sie mehrere Tassen getrunken.
»Tee schon, aber soweit ich weiß, keine Hagebutte, die gibt es in Brasilien anscheinend nicht – oder sie heißt anders und ich weiß es nicht. Ist jedoch völlig egal, kann auch gerne ein Kaffee sein ...«
»Kaffee? Du trinkst Kaffee? Das glaube ich jetzt nicht – den hast du doch immer konsequent verweigert, sei dir viel zu herb und bitter. ›Ein grauenhaftes Getränk, nur etwas für Koffein-Junkies, die sich damit wach halten müssen‹, hast du immer gemeint.«
Vera machte ein verdutztes Gesicht. »Offensichtlich habe ich mir das in Brasilien angewöhnt. Die dortigen cafezinhos sind einfach köstlich!«
»Cafe-was?«
»Cafezinho – heißt wörtlich übersetzt so viel wie kleiner Kaffee, also Kaffeechen. Hat etwa die Größe eines Mokkas, ist sehr stark und wird meist mit viel Zucker getrunken.«
»Aha. Ich sehe schon, du wirst eine Menge zu erzählen haben – sprichst du jetzt etwa auch Brasilianisch?«
»Ja. Äh, nein – die sprechen Portugiesisch, oder genauer gesagt eine Art portugiesischen Dialekt. Soll angeblich anders sein als das Portugiesisch in Europa, haben sie mir erklärt. Ja, ich habe es drüben gelernt – lernen müssen – und kann mich inzwischen auch recht flüssig unterhalten.«
»Also was jetzt – Tee oder Kaffee?«
»Bleiben wir lieber bei Tee. Nach dem, was ich so am Flughafen und unterwegs in der Raststätte bekommen habe, sollte ich meine Meinung über Kaffee noch einmal überdenken. Zumindest, was den hier bei uns angeht.«
»Gut so, bleiben wir beim altbewährten Tee«, erwiderte Richard lachend und ging in die Küche. »Mach’s dir inzwischen im Wohnzimmer gemütlich, du kennst dich doch noch aus – oder?«
»Ich glaube schon.«
Nachdem Richard mit dem Tee zurückgekommen war, saßen sie zusammen und Vera gestand ihm ihre Erinnerungslücken. Auf der einen Seite wusste sie gar nicht, wie sie nach Brasilien gekommen und was dort genau geschehen war, andererseits kamen andere Erinnerungen plötzlich und unerwartet zurück. Langsam wurde das Loch kleiner, ohne dass sie es kontrollieren konnte. Erinnerungen an ihre Vergangenheit, als sie gemeinsam mit Manfred hier zu Besuch gewesen war, überrollten sie. An die regelmäßigen Streitereien, die sich dabei mit Manfred immer wieder ergeben hatten und bei denen sich Richard meist auf ihre Seite schlug, während Simone sich immer herauszuhalten versuchte. Vera wusste, dass sie sich auf Richard verlassen konnte.
Es klingelte an der Tür. Richard hatte sie gerade mal einen Spaltbreit geöffnet, als sich Gerda an ihm vorbeidrängte und ins Wohnzimmer stürmte, wo sie Vera um den Hals fiel.
»Vera, du bist es wirklich! Ich konnte es einfach nicht glauben! Du siehst gut aus, so richtig gut siehst du aus!« In Gerdas Augen zeigten sich Tränen – Tränen der Freude, Tränen der Erleichterung und Tränen der Befreiung. Sie hatte schon fast alle Hoffnung aufgegeben, ihre Freundin je wiederzusehen, und jetzt stand sie gesund und munter vor ihr.
»Komm, setz dich zu uns und trink auch einen Tee. Dann können wir in Ruhe über alles reden«, schlug Richard vor.
Die drei setzten sich an den kleinen Tisch, der im Wohnzimmer zwischen der Couch und den beiden Sesseln stand. Richard goss den blutroten, dampfenden Tee in eine weitere Tasse und füllte auch die kleine Schale mit den Keksen nach, die mitten auf dem Tisch stand und von Vera zuvor unbewusst geradezu geplündert worden war.
Zuerst erzählte Richard von den Vorkommnissen vor Marias Haus, anschließend Vera von ihrer Ankunft in Frankfurt. Der junge Mann bei der Passkontrolle war etwas überfordert gewesen, weil sein Display irgendetwas Unerwartetes angezeigt hatte, und hatte sie in einen Nebenraum gebeten. Dort war ihr schließlich mitgeteilt worden, dass sie laut Computer als vermisst galt und man ihre Identität überprüfen müsse. Nachdem dies erledigt, die Fingerabdrücke mit denen in ihrem Reisepass abgeglichen und auch ihre persönlichen Angaben bestätigt waren, wurden ihr die beiden Flughafenpolizisten vorgestellt, die sie nach Hause bringen sollten.
»Und jetzt rück du endlich damit raus, was mit Manfred ist – irgendwie gehen alle in Deckung, sobald ich seinen Namen nenne«, forderte Vera schließlich.
»Details gibt es später – jetzt erst mal so viel: Offensichtlich ist er tot!« Gerda musterte Vera gespannt. Es war sicher nicht die feine englische Art, einer Frau auf diese plumpe Weise mitzuteilen, dass ihr Ehemann tot war, doch Gerda war für ihre provokante und direkte Art bekannt und sie wollte Veras Reaktion testen.
»Tot?«, flüsterte Vera und sah betreten zu Boden. Es dauerte fast eine Minute, bevor sie wieder aufsah und mit leiser Stimme fortfuhr: »Es stimmt also wirklich – tot ... in Brasilien? Wie? Wann?«
Gerda konnte den Ausdruck in Veras Gesicht nicht wirklich deuten. Da war etwas von Trauer, aber auch Genugtuung, Dankbarkeit – und auch Überraschung. »Ja, in Brasilien. Wir wurden Mitte Januar informiert, dass dort eine Leiche mit Manfreds Papieren gefunden worden war. Vor ein paar Wochen bekamen wir allerdings einen Hinweis, dass die Papiere nicht bei ihm, sondern im Handschuhfach eines Wagens gelegen hatten und auch mit den Zahnunterlagen eventuell etwas nicht ganz stimmte. Das waren jedoch nur unbestätigte Meldungen – offiziell ist er jedenfalls tot und auch schon begraben – in Brasilien. Damit ist auch der Haftbefehl gegen ihn zurückgezogen worden.«
»Haftbefehl? Was für ein Haftbefehl?«, fragte Vera erstaunt, die Augen weit aufgerissen.
»Das gehört zu den Details, die ich dir später erklären werde – da sollte auch Thomas dabei sein ...«
»Thomas? Welcher Thomas? Du meinst doch nicht etwa meinen Ex-Thomas? Was hat er damit zu tun?« Jetzt war Vera wirklich verblüfft. Thomas war ein Ex-Freund aus der Studienzeit und an ihre Verflossenen wollte sie sich nicht erinnern. Das war ein sehr unangenehmes Thema. Irgendetwas sagte ihr jedoch, dass sich in Bezug auf Thomas etwas geändert hatte – nur was genau das war, wusste sie nicht.
»Ja, Thomas Schennach, dein Ex und jetziger Anwalt!«, versuchte Gerda zu erklären, wurde aber von Vera verdutzt unterbrochen: »Mein Anwalt, wieso Anwalt und wieso meiner?«
»Anfangs war er nur dein Scheidungsanwalt, allerdings nachdem sich –«
»Scheidungsanwalt?«, unterbrach Vera erneut die Fülle an neuen unerwarteten Informationen, die über sie hereinbrachen. Sie war kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Wieso Scheidungsanwalt? Seit wann das? Und warum? Was um Himmels willen ist hier eigentlich los?« Vera klang verunsichert, ihre Stimme war belegt und in ihren Augen schimmerten erste Tränen.
»Erinnerst du dich nicht mehr? Etwa zwei Wochen, bevor du verschwunden bist, hattest du dich dazu durchgerungen, die Scheidung einzureichen. Thomas sollte dich dabei vertreten. Du hattest die Vollmacht schon unterschrieben. Nach deinem Verschwinden konnten wir dadurch in deinem Namen deine Interessen wahren und haben dabei ganz schön Staub aufgewirbelt, sonst hätten die von der Polizei ihre Hintern nie in Bewegung gesetzt. Allerdings sind das – wie gesagt – Details, die besprechen wir später.«
Vera umklammerte Halt suchend mit beiden Händen die Tasse und nippte an ihrem Tee. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und das Gefühl der Hilflosigkeit zu unterdrücken. Zumindest konnte sie das Loch in ihrem Kopf etwas eingrenzen – es musste irgendwo in den letzten Wochen vor ihrem Brasilienurlaub beginnen, und zwar mit den angeblichen Scheidungsbemühungen.
»Also gut«, hörte sie wieder Gerdas Stimme, »du wohnst erst einmal bei mir, zumindest bis sich die ganze Angelegenheit geklärt hat. Ich habe auch ein paar von deinen Klamotten und den Dingen, welche die beiden Furien herausgeworfen haben – zum Teil selbst aufgesammelt, zum Teil haben mir einige deiner Nachbarn etwas vorbeigebracht, als ich mich nach deinen Sachen erkundigt habe. Richard hat auch ein bisschen was. Wo der Rest abgeblieben ist, wissen wir größtenteils auch, falls du alles zurückhaben willst.«
»Vorläufig nicht – lass mal gut sein. Irgendwie bekomme ich langsam, aber sicher den Eindruck, dass ich in ein vollkommen neues Leben zurückkehren muss. Trotzdem bin ich euch sehr dankbar, dass ihr euch die große Mühe gemacht habt. Danke!«
»Ist doch selbstverständlich«, gab Richard zurück. »Ich habe übrigens deinen Dokumentenordner gerettet.« Er stand auf, ging zu einem der Schränke und nahm eine große braune Mappe heraus, die er Vera überreichte.
»Ja, das ist super, den werde ich sicher brauchen. Danke dir!« Sie nahm die Mappe entgegen und überflog den Inhalt. Auf den ersten Blick schien alles komplett – angefangen von ihren Schul- und Unizeugnissen sowie Weiterbildungszertifikaten über die Geburts- und Staatsbürgerurkunde bis hin zur Eheurkunde, welche ganz hinten eingereiht war.
»Am Montag sollten wir auch gleich in der Früh gemeinsam mit Thomas zu deiner Bank gehen«, meinte Gerda. »Sie haben dein Konto gesperrt und mussten dir formell kündigen. Das sollten wir gleich in Ordnung bringen, damit du wieder an dein Geld herankommst. Die aktuellen Kontodaten hat Thomas, er hat auch alles für dich verwaltet und darauf geachtet, dass nichts schiefläuft. Die zwei Furien wollten natürlich Zugriff auf dein Konto – für die Kreditrückzahlungen der Haussanierung, für die du und Manfred die Raten gezahlt habt. Da das Haus allerdings formell auf Maria und der Kredit auf Manfred lief, hat schließlich auch die Bank eingesehen, dass du als Ehefrau nicht für ein Haus zahlen musst, welches du de facto wohl nie bekommen wirst. So haben sie den Dauerauftrag von deinem auf das gemeinsame Konto, von dem der Kredit bedient wurde, gestoppt – sehr zum Ärger der beiden.« Gerda konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
»Dann haben wir offensichtlich ein volles Programm. So hatte ich mir meine Rückkehr nicht vorgestellt, aber was soll’s. Was erledigt werden muss, muss man erledigen.« Vera hatte sich zwischenzeitlich wieder etwas gefasst, ihre Stimme klang nun wieder fest und bestimmt.
Sie blieben noch eine knappe Stunde bei Richard, bevor Gerda vom Hunger getrieben zum Aufbruch drängte. Auch Vera spürte, dass die ganze Aufregung an ihren Reserven genagt hatte und sie etwas zum Essen vertragen konnte – die Kekse, welche sie komplett vernichtet hatte, hatten den knurrenden Magen nicht besänftigt. Richards Angebot, auf Simone und die Kinder zu warten und bei ihnen gemeinsam zu Abend zu essen, schlugen die beiden Frauen dankend aus. Vera hatte keine Lust, alles noch einmal mit Simone durchzugehen. So bedankten sie sich bei Richard für alles, versprachen, ihn auf dem Laufenden zu halten und ihn bald wieder zu besuchen.
Gerda wohnte in Freising, etwa zwanzig Kilometer entfernt. Dort lebte sie in einer großzügigen Eigentumswohnung samt großer Dachterrasse ganz in der Nähe ihres Arbeitsplatzes – einem angesehenen Notariat, in dem sie als Assistentin arbeitete und darauf wartete, endlich zur Junior-Partnerin befördert zu werden. Thomas’ Wohn- und Arbeitsort – seine eigene Rechtsanwaltskanzlei – war ebenfalls dort.
Vera war sichtlich erschöpft und Gerda musste sich in der Dämmerung auf den Verkehr und möglichen Wildwechsel konzentrieren, den es auf der Strecke immer wieder gab, auch wenn jetzt im Sommer die Gefahr noch nicht ganz so groß war. So verlief die Fahrt ruhig. Vera döste auf dem Beifahrersitz und ließ ihre Gedanken schweifen.