Kitabı oku: «Leben in der Spur des Todes», sayfa 2
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Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich mich in meiner neuen Welt zurechtgefunden hatte. Überall alleine hingehen, alles alleine entscheiden: Ich tat mich damit zunächst ziemlich schwer. Ich musste erst lernen, alleine zu leben. Heute weiß ich: Nur wer alleine sein kann, kann auch in einer Partnerschaft einen guten Platz einnehmen.
Die Wochenenden waren über viele Monate hinweg das Schlimmste. Wochenende ist Pärchenzeit. Der Anblick von glücklichen Paaren war mir unerträglich geworden. Ich war unfreiwillig in der Kategorie „alleinerziehend“ gelandet. Meine Freundinnen hatten alle Partner. Und das fünfte Rad am Wagen wollte ich nicht sein. Da Baden-Baden ein beliebtes Ausflugsziel am Wochenende ist, verließ ich mit den Kindern an diesen zwei Tagen meist die Stadt. Häufig in mein Elternhaus, zu meinem Vater. Er beschäftigte sich mit den Kindern, damit ich ein wenig zur Ruhe kommen konnte, denn ich trug nach wie vor sehr schwer am Leben.
Je mehr sich das „Unfalljahr 2005“ seinem Ende näherte, desto schwerer wurde mein Herz. Ich wusste, das Fest der Liebe, Weihnachten, steht vor der Tür, und ich verdrängte diese Tatsache, so gut es ging, bis mich ab Oktober die Weihnachtsdekoration in den Geschäften unfreiwillig auf dieses Ereignis vorbereitete. „Oh du fröhliche, oh du seelige...“ erklang vom Weihnachtsmarkt, den ich seit seines Aufbaues in der Nähe des Kurhauses mied, so weit es irgendwie möglich war. Mir war weder nach Glühwein noch nach Plätzchenbacken, ich wollte mir nur zu Hause die Decke über den Kopf ziehen, nichts hören, nichts sehen.
Anna und Lina brachten vom Kindergarten selbstgebastelte Weihnachtssterne nach Hause, ich schmückte für meine Mädchen ein wenig unsere Wohnung, aber zum Kauf eines Weihnachtsbaumes konnte ich mich nicht überwinden. Der Heilige Abend war kein Fest, sondern eine Zwangsveranstaltung, die ich schnell beenden wollte. Keine Kirche, kein Singen. Für meine Kinder und meinen Vater ein schönes Essen, Geschenke, dann ins Bett, damit ich meinem Schmerz freien Lauf lassen konnte.
Ich weinte die halbe Heilige Nacht.
Am nächsten Morgen war mir leichter. Ich dachte nur: „Es ist geschafft!“ Doch die nächste Hürde war eine Woche später zu nehmen – Happy New Year. Mit wem sollte ich anstoßen und auf was? Auf ein neues Jahr – zwangsweise. Es kam, ob ich es wollte oder nicht. Glücklich? Konnte es gar nicht werden. Mein Kind war tot. Mein Lebensgefährte war tot. Mein Bruder war tot. Wie sollte ich da jemals wieder glücklich werden? Es schien mir aussichtslos. Ich entschied mich, mit meinen Kindern um acht Uhr ins Bett zu gehen und einfach alles zu verschlafen. Das klappte vorerst gut, bis mich das Neujahrs-Feuerwerk am Himmel mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss und mit der Realität konfrontierte.
Ich war gezwungen, sie anzuschauen. Ein neues Jahr beginnt – ohne Kai, Karl und Stephan. Ich küsste meinen Mädchen die Stirn und wünschte ihnen ein gutes neues Jahr, nicht wissend, wie ich dieses neue Jahr schaffen sollte.
Ich war froh, als endlich die ganze Weihnachtsdekoration vor meinen Augen verschwunden und der Neujahrstrubel vorüber war. Der Frühling würde sich bald ankündigen und mein Herz erneut zerreißen. Im März wurde Karl geboren, im April 2006 wäre Kai 39 Jahre alt geworden, im Mai mein Bruder. Drei Monate hintereinander Geburtstage, keine Zeit zum Luftholen, keine Zeit zum Tränentrocknen. Ein Trauermarathon stand mir bevor. Ich spüre noch heute den Kloß in meinem Hals, wenn ich an den Geburtstag von Karl denke im Jahr 2006. Ich fuhr am Morgen meine Kinder in den Kindergarten, danach holte ich ein Herz aus roten Rosen vom Floristen ab und ging zum Friedhof. Statt Geburtstagskuchen und Geschenke eine Grabkerze. Ich stand fassungslos vor dem Grab und konnte immer noch nicht glauben, in welches Leben ich geraten war. Das Ritual mit Rosenherz und Grabkerze wiederholte sich noch zwei Mal.
Über ein Jahr nach dem Unfall versuchte ich, für uns drei wieder ein Stück gemeinsame Normalität zu schaffen. Im September 2006 flog ich das erste Mal alleine mit den Kindern in den Urlaub. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Das erste Mal ohne Mann und ohne Karl. Freude vermischte sich mit Traurigkeit. Ich wählte den Robinson Club in Griechenland, weil ich die Hoffnung hatte, in diesem Club auf andere alleinerziehende Mütter zu treffen, was dann auch tatsächlich der Fall war. Uns allen tat die Wärme gut und das Wasser. Ich liebe das Meer. An keinem anderen Platz kann ich mich so gut erholen. Anna und Lina waren den ganzen Tag im Kinderpool. Es machte mir große Freude, in ihre glücklichen Augen zu sehen. Ich habe viel gelesen oder einfach nur im Sand gesessen und aufs Meer geschaut. Gerade in den ersten Jahren nach dem Unfall taten mir diese Clubreisen gut. Es gab ein Programmangebot für Anna und Lina und ich hatte Zeit, auch etwas für mich zu tun und neue Kräfte zu sammeln.
Das Leben kostete mich nach wie vor sehr viel Kraft.
Weihnachten 2006 war dann etwas harmonischer als das im Jahr davor. Ich kaufte einen Baum, buk mit den Kindern Plätzchen, und das Beisammensein am Heiligen Abend hatte nicht mehr die Schwere vom letzten Jahr. In die Kirche konnte ich jedoch immer noch nicht gehen. Ich weiß, ich hätte nur geweint, das wollte ich meinen Kinder, mir und allen um mich herum ersparen. Auch Silvester 2006 verbrachte ich auf eine neue Weise. Statt den Übergang ins Neue Jahr bewusst zu verschlafen, begann ich vor Mitternacht zu meditieren und fühlte mich Kai, Karl und Stephan sehr nah. Ich fühlte mich mit ihrer Welt verbunden. Es machte mich glücklich, es beruhigte mich. Und ich spürte, wie ich sachte begann, mich dem Leben wieder zuzuwenden. Ein wenig Hoffnung, etwas Zuversicht? Ich wusste nicht, was kommen würde, was das Leben noch für mich bereithalten würde, aber ich begann nun, meine Arme zu öffnen für das kommende Leben, ich war bereit, zu empfangen.
Der Weg meiner Ausbildungen, meiner Heilung begann.
Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Ich stärke dich, ich helfe dir, ich halte dich an meiner Hand.
Jesaia 41,10
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Im September 2009 wurden Anna und Lina eingeschult. Solch einmalige Ereignisse schmerzen mich noch heute. Es tut mir weh, dass Kai diesen wichtigen Moment nicht erleben durfte, dass meine Kinder und ich solche Erlebnisse nicht mit ihm teilen können. Ich weiß, dass Anna und Lina immer auf die Papis von den anderen Kindern schauen und traurig sind, dass ihr Papa nicht mehr da ist. Ich erzähle ihnen dann immer, dass Kai, Karl und Stephan von oben, vom Himmel aus auf sie schauen – ich weiß, es ist ein schwacher Trost, der sie nicht wirklich trösten kann.
Aber was soll ich auch sagen?
Im August 2010 schließlich erfüllte ich mir einen großen Wunsch: Ich flog mit den Kindern auf die Insel Sylt und verbrachte dort zwei Wochen Urlaub. Am fünften Todestag war ich dieses Mal auf Sylt und es war schön. Ich liebe diese Insel. Das Meer dort hat einen ganz besonderen Duft. Im Sand zu liegen, dem Meer zu lauschen und den Möwen beim Fliegen zuzuschauen, ist einfach nur schön. Ich war im September 2001 das erste Mal auf Sylt gewesen, als ich mit Karl schwanger war. Ich verliebte mich sofort in die Insel. Kai und ich waren danach noch zwei Mal mit den Kindern, mit meinem Bruder und meinem Vater dort; zuletzt, als Anna und Lina ein Jahr alt waren. Ich wäre gerne schon eher nach Sylt gefahren, aber ich hatte zu viel Angst vor den Plätzen der Erinnerung. Es war klar, dass ich irgendwann Anna und Lina die Insel noch einmal zeigen würde, wusste aber nicht, wann ich dazu in der Lage sein würde.
Ich buchte also für mich und meine Mädchen ein Familienhotel, weil in solchen Häusern Kinder auch noch Kinder sein dürfen. Die Tischzuteilung in den Restaurants war früher ein Horror für mich. „Sie sind alleine? Oder kommt noch jemand dazu?“ „Nein, es kommt niemand mehr.“ Das vierte Gedeck wurde dezent abgeräumt. Heute macht es mir nichts mehr aus, alleine in ein Restaurant zu gehen oder alleine an einem Tisch zu sitzen. Wenn Anna und Lina nach dem Essen in das Kinderparadies gehen oder mit anderen Kindern spielen, lese ich ein Buch und genieße die Zeit nach dem Essen. Ich stelle meist fest, dass ich glücklicher bin als manche Paare um mich herum. Sich anschweigen, lieblose Blicke, verlegenes Umherschauen durch den Speisesaal. Dann doch lieber alleine mit meinem Buch. Nach dem Abendessen ging ich mit meinen Kindern meist noch einmal zurück ans Meer, um den Sonnenuntergang anzuschauen. Selbst das Licht der untergehenden Sonne auf Sylt ist für mich besonders. Das waren meine Glücksmomente und sie sind es heute wieder. Ich war mit Anna und Lina an allen Plätzen, an denen ich auch mit Karl und ihrem Vater war. Ich zeigte ihnen, wo ich mit Karl ein Fischbrötchen gegessen und wo wir eine Sandburg gebaut hatten. Wir bauten genau an dieser Stelle noch einmal eine – für Karl. Eine Journalistin fragte mich einmal, wie ich das Gefühl beschreiben würde, wenn ich an Karl denke. In mir ist eine Traurigkeit, weil mein “erster Sonnenschein“ nicht länger leben durfte.
Du bist nicht gestorben
Du lebst in den wunderbaren Wehen des Windes
Du lebst in den Liedern der Vögel
Du lebst in der strahlenden Sonne
Du lebst im friedlichen Dunkel der Nacht
Du lebst auf einem Stern, der am Himmel steht
Du lebst in den Wellenbergen und -tälern des
Meeres
Du lebst im Duft von Blumen und Gras
Du lebst im schnell schwindenden Sommer
Du lebst im Schmerz meines Herzens
Du bist nicht tot, nur etwas weiter weg
Wir können dich nicht berühren.
Aus: Das Leid umarmen (von Deborah Cornell)
Irgendwann jedoch kommt der Tag X, dem niemand entfliehen kann. Dieser Tag, dem ich mich stellen musste und von dem ich wusste, dass ich ihn ganz in einem tiefen Loch verbringen würde. Dieser Tag, an dem ich die Kleider und die privaten Dinge von Kai, Karl und Stephan wegräumen musste. Egal, an welchem Platz ich mich in unserer Wohnung aufhielt: Irgendein Plüschtier oder ein Kleidungsstück schob sich immer vor meine Augen und versetzte mir ohne Ankündigung einen Stich ins Herz. Deshalb beschloss ich eines Tages, mit dem Aufzug in den Keller zu fahren und Umzugskartons zu holen. Eigentlich ist mit Umzugskartons in der Regel ein Neuanfang verbunden. Man zieht irgendwo hin und etwas Neues darf beginnen. Ich brauchte sie aber, weil etwas zu Ende gegangen war: das Leben mit Kai, Karl und Stephan.
Meine mir gewohnte, vertraute Welt war auseinandergebrochen.
Ich weiß nicht mehr, was für ein Wochentag es war, als ich anfing zu packen, ob die Sonne schien oder ob es regnete. Ich nahm um mich herum nichts mehr wahr, ich spürte mich nicht, ich spürte das Leben nicht mehr. Ich war dem Leben abgewandt. Die ersten Monate nach dem Tod meiner Familie waren alle gleich: grau und schmerzhaft. Ich packte erst einmal alles nur in Kisten und dann in den Keller. Tür zu. Dahinter, im Dunkeln, ist ein Teil meines Lebens, der weh tut.
Ich war ein bisschen stolz auf mich, als ich am Abend alles weggeräumt hatte, einen Moment hatte ich die Hoffnung, ich könnte es schaffen zu überleben. Das Wegräumen der persönlichen Dinge war für mich noch einmal ein schwerer Schritt gewesen. Noch einmal alles in die Hand nehmen, noch einmal daran riechen, die damit verbundenen Erinnerungen aushalten müssen. Ich musste Stück für Stück loslassen. Etwas, das ich gar nicht wollte. Ein Annehmen, wie es ist. Ein Anerkennen der Realität. Denn heute weiß ich, dass wir niemals gegen die Realität gewinnen können. Gewinnen können wir nur mit der Wirklichkeit – durch Hingabe an das, was ist.
Ich wollte diese Realität nicht. Sie war grausam, schmerzhaft, leer und hoffnungslos. Wie sollte es mit dieser Realität jemals eine Zukunft geben? Meine Familie war am Leben gewesen. Und jetzt ist sie tot. Ein Leben ohne meinen Sohn Karl konnte und wollte ich mir immer noch nicht vorstellen.
Ich verbrachte noch ein Jahr in der gemeinsamen Wohnung. Doch sie war zu groß für mich und die Zwillingsmädchen geworden, zu still. Der Esstisch zu lang, das Sofa zu groß. Zimmer standen leer. Ich fahre noch heute manchmal an der Wohnung vorbei, weil sie so besonders war. Es war eine wunderschöne Wohnung: Jugendstil, Marmorkamin, vor dem ich oft mit Karl gesessen hatte, eine nicht einsehbare Dachterrasse mit Blick über Baden-Baden. Kai und ich verbrachten dort viele schöne gemeinsame Tage, mal mit Freunden, meist alleine – nicht ahnend, was kommen würde. Das Schicksal macht keinen Halt vor Luxus, Schönheit und Glück. Jetzt war aus meinem Nest eine „Überlebensinsel“ geworden – nicht wissend, ob ich mit ihr untergehen würde oder nicht.
Beim Umzug, für den ich mich schließlich entschied, bemerkte ich, dass ich doch nicht alles weggeräumt hatte. Wenn es etwas gab, was zu heilen begann, dann wurde es in diesem Moment wieder aufgerissen. Das Auffinden einiger Gegenstände aus Karls Leben riss mich von einer Minute auf die andere zu Boden. Ich würde es doch nicht schaffen. Meine Verzweiflung, meine Angst vor dem Leben hatte mich wieder gepackt. Ich lief weinend durch die Wohnung: „Ich schaffe das nicht, ich schaffe das nicht.“ Mitleidig schauten mich die Männer vom Umzugsunternehmen an – ich war die mit dem Unfall. Mein Vater half mir sehr, ich war nach dem ganzen Packen von Kartons über Monate hinweg total erschöpft und überfordert. Aber ich wusste, dass ich diesen Schritt tun musste, um überhaupt die Chance für einen Neuanfang zu haben. Als alles leergeräumt war, ging ich noch einmal in die Wohnung zurück. Nur ich und eine Kerze. Noch einmal Abschied nehmen. Noch einmal in das Kinderzimmer von Karl. Ich setzte mich in eine Ecke und weinte. Karl war mein erstes Kind. Ich war so glücklich gewesen, als ich erfuhr, dass ich schwanger mit ihm war. Die Schwangerschaft mit ihm war wunderschön gewesen. Ich hatte jeden Tag genossen. Seine Geburt war am 22. März 2002. Drei Jahre und fünf Monate später war er tot. Ich schaute immer wieder in die Flamme der Kerze und viele Erinnerungen wurden mir wieder bewusst. Liebe kennt keine Grenzen. Das, was durch den Verlust auseinandergebrochen ist, fügt die Liebe wieder zu einem Ganzen zusammen. Denn die Liebe heilt.
Vom ersten Tag an unseres Lebens werden wir auf Verluste vorbereitet, bis wir irgendwann unser Leben auf der Erde „verlieren“. Verluste im Laufe unseres Lebens erinnern uns meist an den ersten Verlust unseres Lebens. Wir verlassen den Mutterschoß, Freundschaften gehen auseinander, Liebesbeziehungen zerbrechen, weil irgendwo auf dem gemeinsamen Lebensweg die Liebe verlorengegangen ist. Wir erleben materielle Verluste oder auch den Verlust eines Teils unserer Gesundheit.
In dem Moment, in dem wir mit einem Verlust konfrontiert werden, sind wir vollkommen präsent, nichts lenkt uns ab, alles andere um uns herum wird unwichtig. In diesem schmerzhaften Augenblick, in dem wir aus unserer Lebensbahn geworfen werden, in dem das Denken aufhört, unser Geist sich verdunkelt, wir entwurzelt sind und uns als Fremdling fühlen – in diesem Augenblick haben wir die Chance, eine neue Dimension zu betreten, dem „Mysterium Leben und Tod“ die Hand zu reichen.
Diese Erfahrungen zeigen uns, wie machtlos und ohnmächtig wir dem Leben gegenüberstehen. Das Leben nimmt und gibt – ohne uns zu fragen. Diese Erkenntnis hat mich demütig und gelassen dem Leben gegenüber werden lassen.
Was geschehen soll, wird geschehen.
Das Leben wird uns nicht folgen, sondern wir müssen ihm folgen – widerwillig oder glücklich.
Osho
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Als der Herbst kam, brauchten meine beiden Mädchen neue Kleider. Es hatte mir selbst immer viel Spaß gemacht, für meine Zwillinge Kleider auszusuchen. Rosa natürlich, alles doppelt. Selbst die Haarspangen waren identisch. Für meinen Sohn hatte ich meist blaue Hemden gekauft, kariert, gestreift blaue Pullis. Doch nach dem Unfall wurde Einkaufen zu einem regelrechten Horrortrip. Da die Jungen- und Mädchenabteilungen in Geschäften normalerweise nebeneinander sind, kommt man automatisch mit beiden Geschlechtern in Kontakt. Beim Betreten der Kinderabteilung kam ich nicht umhin, meine Augen auch zu den Buben schweifen zu lassen. Dort standen andere Mütter mit ihren Söhnen an der Hand – ein Anblick, der mir wehtat. In Gedanken kleidete ich auch meinen Sohn ein. Ich überlegte, was ihm passen würde, welche Größe er nun hätte. Vor meine Augen schoben sich blaue Hemden mit der imaginären Aufschrift „Kaufen verboten!“. Die Kleider vor meinen Augen verschwammen schnell hinter meinen Tränen.
Während einem dieser nun so quälenden, aber doch notwendigen Shopping-Ausflüge sprach mich eine ältere Dame an und bat mich um Hilfe. Sie wollte ihrem Enkelkind, einem Jungen, etwas zum Anziehen kaufen. „Er ist vier Jahre alt“, sagte sie stolz und ob ich meinte, dass der Pulli, den sie ausgesucht habe, wohl die richtige Größe habe. Unweigerlich schossen mir die Tränen in die Augen und ich konnte nur wortlos mit einem kurzen Nicken ihre Wahl bestätigen. Warum dürfen andere Kinder leben und meines nicht? Ich wollte nur noch raus! Wieder einmal Sonnenbrille auf, nichts mehr sehen, nichts hören, nicht reden, nichts kaufen – nur schnell nach Hause in meine sichere Umgebung. Der restliche Tag war gelaufen.
Es waren immer die unvorhersehbaren Momente, die so schrecklich wehtaten. Die Momente, die dafür sorgten, dass ich wieder komplett in ein abgrundtiefes Loch fiel – falls es mir einmal gelungen war, dieses für einen Moment zu verlassen. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder entspannt zum Einkaufen gehen konnte. Ich schaue heute wieder in die Jungenabteilung, aber nicht mehr mit Wehmut. Ich erfreue mich wieder an den schönen Kinderkleidern. Ich mache immer gerne zu verschiedenen Anlässen „Bubengeschenke“.
Als die Zwillinge etwa vier Jahre alt waren, entwickelten sie schon einen eigenen Kleidergeschmack. Eines Tages fragte mich Lina, ob ich die Kleider von Karl noch hätte. Als ich dies bestätigte, bettelte sie, ihr doch seine Kleider zu zeigen. Natürlich versuchte ich aus Angst vor dem Aufbrechen neuen Schmerzes dies zuerst zu umgehen, aber Lina ließ nicht locker – ich musste in den Keller gehen. Da standen sie nun, die Umzugskisten mit der Aufschrift „Karl“, sein Name mit einem Herz verziert. Ich stellte die Kiste mit Karls Kleidern in das Wohnzimmer, meine Mädchen stürmten begeistert auf den Karton zu und öffneten sie voller Erwartung. Ein Polohemd, T-Shirts, Jeans – ein Kleidungsstück nach dem anderen kam zum Vorschein.
Schuhe wurden ausprobiert, Kindergartentaschen umgehängt. Nach einem kurzen Moment konnte ich mich dazusetzten und meinen Kindern erzählen, wann Karl dieses Hemd bekommen oder was ihm der Papa von jener Reise mitgebracht hatte. Lina entschied sich, einige Kleidungsstücke von Karl weiterzutragen, weil sie „cool“ waren, und legte sie in ihre Kommode zu ihren Anziehsachen. Eine ganze Weile lief sie in seinen Kleidern und erzählte auch stolz im Kindergarten, dass sie heute eine Hose von Karl, ihrem Bruder, anhabe. Manche Kinder tun dies, um dem verstorbenen Geschwister nah zu sein. So zeigen sie ihre Liebe und Verbundenheit. Nach dem Motto: „Ich trage es für dich“. Am Anfang war diese Situation etwas merkwürdig für mich, gleichzeitig war es aber auch sehr heilsam zu sehen, dass sich der Schmerz und die Traurigkeit mit der Zeit verändert hatten. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie hilft, das Unfassbare aus dem Mittelpunkt des Lebens herauszuschieben.
In der ersten Zeit nach dem Unfall waren meine beiden Töchter Anna und Lina, denen ich diese Zeilen widmen möchte, mein Antrieb, dem Leben weiter zu folgen. Bis heute verdanke ich auch ihnen viel von meiner geistig-seelischen Entwicklung. Sie leisteten und leisten noch heute einen großartigen Dienst an mir. Sie zeigen mir jeden Tag aufs Neue, wie es sich anfühlt, wenn wir bedingungslos lieben.
Drei Tage nach der Beerdigung wurden die beiden zwei Jahre alt. Wie wahrscheinlich viele andere auch, wusste ich praktisch nichts über das Todesverständnis von Kleinkindern. Ich frage mich: „Nehmen sie überhaupt wahr, was passiert ist? Und wenn ja, was genau nehmen sie wahr?“
Kinder in diesem Alter können nicht wissen, nicht verstehen, was der Tod ist. Sie haben meine Traurigkeit gespürt, meinen Schmerz, meine Ängste. Sie fühlten eine Bedrohung, aber sie konnten sie nicht einordnen, und schon gar nicht in der ganzen Tragweite begreifen. Tagsüber versuchte ich also, mich „zusammenzunehmen“, wollte tapfer sein, damit sie meine Traurigkeit nicht spürten. Heute weiß ich: Sie haben unbewusst jede meiner Stimmungen wahrgenommen. Ich kann aus heutiger Sicht aus meiner Erfahrung und aus meinem erworbenen Wissen sagen, dass eine authentische Mutter besser für sie gewesen wäre statt einer Mutter, die sich in bester Absicht, aber krampfhaft bemüht, Normalität zu leben. Den feinen Antennen seiner eigenen Kinder kann man aber auf dieser Ebene nichts vorspielen, so sehr man sich auch bemühen mag. Sich so zu zeigen, wie man sich fühlt, ist besser, denn es zeigt den Kindern Ehrlichkeit – und Ehrlichkeit schafft Vertrauen. Wenn wir Eltern wahrhaftig sind, werden unserer Kinder auch wahrhaftig. Das ist ein wichtiger Baustein für ein glückliches, gelingendes Leben.
Erst als sie drei Jahre alt waren, begannen Anna und Lina die Dinge zu erzählen, die sie zuvor gehört hatten: „Papa hat mit dem Auto ‚Bums’ gemacht“, oder: „Karl ist jetzt ein Engel.“ Sie fingen an, Fragen zu stellen. Wir schauten Fotos an von Papa, Karl und Stephan und ich erzählte ihnen mit zittriger Stimme und feuchten Augen zu manchem Bild eine Geschichte, was mir am Anfang unendlich schwerfiel. Mit ihren zarten Händen wischten dann meine Kinder mir die Tränen von den Wangen. Meist weinten sie mit.
Der Tod unserer Lieben hat unsere Seelen von einer Sekunde zur anderen zutiefst erschüttert. Der Verlust würde von nun an unser Leben prägen, so viel stand fest. Unsere Familie war auseinandergerissen worden und jeder musste erst wieder seinen – einen ganz neuen – Platz finden, doch davon waren wir alle erst einmal weit entfernt.
Es waren schwere, gravierende und erschreckende Folgen, die dieses tragische Unglück nach sich zog. In entscheidendem Maße auch für Anna und Lina, die mit ihren damals nicht einmal zwei Jahren noch nicht begreifen konnten, was wirklich passiert war. Anna und Lina konnten noch nicht sprechen, aber sie hörten, spürten, fühlten – und reagierten. Sie spürten meinen Schmerz, meine Ohnmacht. Sie spürten die Leere in den großen, vielen Räumen. Sie sahen immer wieder ihre Mama weinen, den Opa, der sich so oft die Nase putzt.
Kinder, die noch nicht sprechen können, müssen sich auf andere Weise ausdrücken, wenn sie etwas mitteilen oder ihr Unwohlsein ausdrücken möchten. Lina wählte den Weg des Schreiens. Anna nicht. Vielleicht war es für Lina die einzige Möglichkeit, ihren Schmerz auszudrücken. Anna dagegen zog sich in sich zurück, schaute hilflos zu – genau wie ihre Mutter es tat.
Anna und Lina sind zweieiige Zwillinge, vom Aussehen und ihrem Charakter her sehr unterschiedlich. Während Anna eher introvertiert ist, nimmt Lina mit ihrer fordernden Art viel Raum ein. Lina und Karl hatten bereits von Anfang an eine besonders tiefe seelische Bindung, sie waren unzertrennlich. Entsprechend heftig reagierte sie demnach darauf, dass er nun nicht mehr da war.
Nach dem Unfall nahm ich Anna und Lina in mein großes Bett. Sie brauchten meinen Körperkontakt und ich ihren. Eng aneinandergedrückt schliefen wir jede Nacht zusammen.
Und jede Nacht wurde Lina mehrfach wach – und schrie aus Leibeskräften. Zuerst dachte ich, sie habe immer wieder schlimme Träume, die ihr Angst machten, doch ich konnte sie nicht beruhigen, nicht trösten. Sie weinte nicht – sie schrie. Immer wieder und immer wieder. Jede Nacht.
Dann streckte sie die Hände in den Himmel, stand aus unserem gemeinsamen Bett auf, lief durch das Haus und schrie. Zuerst „nur“ eine halbe Stunde. Dann konnte ich Lina in den Arm nehmen, etwas trösten und wieder hinlegen. Meist legte ich sie auf meinen Bauch, bis sie endlich wieder eingeschlafen war.
Doch nach wenigen Stunden wurde Lina wieder wach, fing wieder an zu schreien. Wieder der gleiche Ablauf. Ich lief ihr durch die Wohnung hinterher, Anna im Schlepptau, aber nicht wirklich im Blick, denn ich war viel zu sehr mit Lina beschäftigt. Mir wurde klar, dass ich sie in dem Moment, in dem Lina in ihrem Schmerz gefangen war, nicht erreichen konnte. Sie hörte meine Worte nicht, sie drückte meine Hand weg, wenn ich sie streicheln oder auf den Arm nehmen wollte. Das Einzige, was mir blieb, war, hilflos abzuwarten, bis sie nach einer Weile von selbst auf mich zukam.
Das ganze Szenario wiederholte sich bis zu sechs Mal in der Nacht. Sechs Mal in einer einzigen Nacht. Und das etwa jede zweite Nacht. Manchmal weinte ich mit aus lauter Hilflosigkeit und Verzweiflung. Ich fand keine Lösung, wusste nicht, wie ich ihr in dieser Situation helfen konnte. Mir fehlte die Kraft, um stehen zu bleiben – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Am nächsten Morgen war ich immer völlig erschöpft, die schlaflose Nacht stand mir ins Gesicht geschrieben und hatte auch in meinem Mutterherz jedes Mal mehr und tiefere Spuren hinterlassen.
Die Situation aber wurde noch schlimmer: Was anfangs nur nachts war, wurde später dann auch tagsüber sichtbar. Unterschiedliche Situationen brachten Lina immer wieder in die für mich „unerreichbare Welt“. Freundinnen, die solche Momente miterlebten, schauten hilflos und sprachlos zu. Sie bemitleideten mich, gaben Ratschläge, von denen keiner half. Sie bewunderten meine Geduld, die ich Lina entgegenbrachte, aber Fremde schüttelten verständnislos den Kopf. In ihren kritisch blickenden Augen glaubte ich, eine Anklage zu sehen. Die Anklage wegen Versagens, Unfähigkeit und Inkonsequenz in der Kindererziehung.
Linas Schreien jedoch war das Ergebnis einer Traumatisierung, die das Kind nicht verarbeiten konnte. Es war ein spontaner Ausdruck ihres körperlichen wie seelischen Unwohlseins, und es war zu jenem Zeitpunkt ihre einzige Möglichkeit, sich und ihren Schmerz zu artikulieren.
Lina schrie weiter. Jetzt, im Alter von drei Jahren, konnte sie sprechen. Sie redete jetzt auch, wenn sie schrie, weil sie in den Himmel wollte! Sie wollte zu Karl, ihrem geliebten Bruder. Die Sehnsucht nach Karl, aber auch nach ihrem Papa, trieb sie um, ließ sie nicht schlafen, machte sie aggressiv. Zum Schreien kam das Schlagen hinzu. Lina begann damit, um sich zu schlagen – auch nachts. Dauer und Intensität des Schreiens nahmen weiter zu: „Ich will zum Papa“, „Lass mich! Geh weg! Ich will zum Karl!“ Und immer wieder streckte sie die Arme in Richtung Himmel. Es gab Tage und Nächte, da konnte ich besser damit umgehen, an manchen Tagen weinte ich mit, schrie zurück, drohte... Nach etwa zwei Stunden war es dann überstanden.
Manchmal schlich ich mich erschöpft in mein Zimmer, setzte mich in einer Ecke auf den Boden und weinte vor lauter Verzweiflung und Hilflosigkeit. Wo sollte das alles hinführen? Wann sollte das alles ein Ende finden? Würde es überhaupt wieder Normalität geben? Meine Kinder klopften an meine Tür. „Mama, bist du da drin?“ Anna und Lina setzten sich dann zu mir auf den Boden. Anna schaute in meine verzweifelten Augen und ich in ihre. Lina wischte meine Tränen weg. Es war vorbei – bis zum nächsten Mal. Dieser Ablauf wiederholte sich im Durchschnitt alle zwei Tage. Ich stand permanent unter Druck, denn es konnte jederzeit wieder losgehen.
Ich suchte verzweifelt nach Hilfe, es durften aber keine Tabletten sein, keine chemischen Beruhigungsmittel. Deshalb suchte ich nach Alternativen. Heilung auf der Seelenebene. Ich begann nach Wegen zu einer solchen Heilung zu suchen, aber ich fand vorerst keine Lösung. Es sollte noch sehr lange dauern.
Das Schreien von Lina wurde immer intensiver und somit mehr und mehr zu einer Belastung, nicht nur für meine Tochter Anna und mich, sondern auch für unser Umfeld. Denn Lina ließ ihrer Wut, ihrer Verzweiflung jetzt ja auch tagsüber freien Lauf. In der Öffentlichkeit wurde ich mitleidig oder böse angeschaut, wenn es wieder einmal losging. Manche Mitmenschen zeigten sich verständnislos, andere wiederum schimpften auf mich: Ich stand als Mutter da, die nicht in der Lage war, ihr Kind zu beruhigen. Doch ich konnte mir und meinen Kindern wohl kaum ein Schild um den Hals hängen mit der Aufschrift: „Wir sind traumatisiert!“
Da Lina ein sehr forderndes und vereinnahmendes Kind war, das schon in frühen Jahren kleine und größere Machtspiele sehr gut verstand, wurden mir falsche Erziehungsmethoden unterstellt. Egal, wie ich erzog, ob konsequent und streng, ob geduldig und mit viel Liebe: Das Schreien blieb. Die Auslöser für das Schreien waren ganz unterschiedlicher Art, es war überhaupt kein Muster zu erkennen: Mal hatte eine Freundin nicht das gespielt, was sie wollte, mal konnte sie ihren Kopf nicht durchsetzen, oder sie fing an zu schreien, weil ich ihr etwas verbot. „Das hört sich doch alles ganz normal an. Da schreit ein Kind schon mal, reine Erziehungssache“ – denkt man. Mag sein, aber nicht in dieser Häufigkeit und in den unterschiedlichsten Situationen, und schon gar nicht an einem Stück zwei Stunden lang, in denen sie unerreichbar für mich war und ich für sie.
Als Lina ungefähr fünf Jahre alt war, schrie sie immer noch. Ich versuchte durch Gespräche mit ihr herauszufinden, warum sie schreit und was sie in diesem Moment braucht. Ich fragte sie, ob ich sie das nächste Mal halten dürfte, wenn sie wieder schreien würde. Sie bejahte das, konnte es in der Situation aber dann doch nicht zulassen.
Mit sechs Jahren hatte sich die Situation immer noch nicht gebessert, allerdings mit dem einen Unterschied, dass Lina sich nach jedem Schreianfall entschuldigte: „Mama, es tut mir so leid. Ich kann nichts dafür, ich will gar nicht schreien. Ich verspreche dir, dass ich es jetzt schaffe, drei Mal zu schlafen ohne zu schreien.“
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