Kitabı oku: «Kyra Kyralina»
Die französische Ausgabe erschien 1924 bei Éditions Rieder in Paris, die rumänische Ausgabe 1934 bei I.G. Hertz in Bukarest. Die Übersetzung von Oskar Pastior erschien erstmalig 1963 im Bukarester Literaturverlag; in der DDR wurde sie 1975 im Verlag der Nation aufgelegt.
E-Book-Ausgabe 2020
© 2016 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Str. 40/41, 10719 Berlin.
Covergestaltung Julie August.
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ISBN: 978 3 8031 4296 2
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3278 9
Stavru
Adrian ging wie benommen über den kurzen Maica-Domnului-Boulevard in Brăila, welcher von der gleichnamigen Kirche bis zum Stadtpark führt. Verwirrt und ärgerlich blieb er am Eingang des Gartens stehen.
»Hol’s der Teufel!« sagte er laut vor sich hin, »ich bin doch kein Kind mehr! Und ich glaube, ich habe das Recht, so übers Leben zu denken, wie ich es fühle.«
Es war sechs Uhr abends und ein Arbeitstag. Die Parkwege nach den beiden Haupteingängen hin lagen wie ausgestorben da; die untergehende Sonne vergoldete den Sand, und die Fliederbüsche tauchten in die Schatten des Abends. Fledermäuse flatterten aufgescheucht hin und her. Fast alle Bänke längs der Wege standen leer, nur in den versteckten Winkeln des Gartens saßen junge Paare zärtlich umschlungen und taten ganz harmlos, wenn unvermittelt Spaziergänger vorüberkamen. Adrian beachtete niemanden von den Leuten, die ihm begegneten. Gierig sog er die reine Luft ein, die aus dem frisch gesprengten Sand aufstieg und sich mit dem Wohlgeruch der Blumen vermischte. Er dachte über manches nach, was er nicht begreifen konnte.
Vor allem verstand er nicht, was seine Mutter gegen seine Freundschaften hatte, begriff nicht ihren Widerstand, der nun zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrem einzigen Sohn geführt hatte.
Adrian sagte sich:
Für sie ist Mihail ein Zugewanderter, ein verdächtiger Strolch, der »Bedienstete« des Krapfensieders Kyr Nikola. Und wenn schon? Was bin ich denn? Ein Häuseranstreicher, und überdies ein ehemaliger Gehilfe des gleichen Krapfensieders! Und wenn es mir morgen einfällt und ich zieh in ein anderes Land, soll ich deshalb dort als Strolch gelten?
Wütend stampfte er mit dem Fuß auf:
Hol’s der Teufel! Eine haarsträubende Ungerechtigkeit ist das gegen den armen Mihail! Ich habe diesen Menschen gern, weil er gescheiter und gebildeter ist als ich und weil er sein Elend ohne zu klagen trägt. Was? Wenn er nicht auf offenem Markt in alle Welt hinausposaunt, wie er heißt, woher er stammt, wie viele Zähne ihm fehlen, ist er dann gleich ein Taugenichts? Wie auch immer, ich will der Freund dieses Strolches sein! Und ich bin überaus glücklich dabei.
Mechanisch setzte Adrian seinen Spaziergang fort und prüfte noch einmal mit kritischem Sinn, was seine Mutter ihm gesagt hatte; alles erschien ihm widersinnig.
Und diese Geschichte mit dem Verheiraten? Ich bin erst achtzehn, und schon denkt sie daran, mir irgendeine dumme Pute an den Hals zu hängen oder so eine Häsin, die mich mit ihrer Zärtlichkeit überhäuft und aus meiner Stube ein Nest macht! Mein Gott! Man sollte glauben, es gebe nichts Gescheiteres auf dieser Erde, als Dummköpfe in die Welt zu setzen, diese mit Sklaven zu bevölkern und dabei selber der erste Sklave dieser Brut zu werden! Nein, nein! Dann schon lieber einen Freund wie Mihail, auch wenn er zehnmal verdächtig ist! Und zu dem Vorwurf, ich würde »den Leuten die Würmer aus der Nase ziehen«, muß ich sagen, daß ich bei Gott nicht weiß, warum ich die Leute so gerne ausfrage und zum Reden bringe. Wohl weil das Licht aus den Worten der Starken kommt; selbst Gott mußte sprechen, damit es Licht wurde. Die Stille dieses Frühlingsabends wurde plötzlich vom schrillen Pfiff einer Schiffssirene zerschnitten; der Junge schreckte aus seinen Gedanken auf. Ein Duft von Rosen und Nelken wehte ihn an.
Adrian bog auf die große Allee ein, die sich am Steilufer hinzieht, das den Hafen und die Donau beherrscht. Einen Augenblick blieb er stehen, um all die tausend elektrischen Lichter zu betrachten, die auf den hier verankerten Schiffen aufblinkten; und seine Brust weitete sich vor unwiderstehlicher Sehnsucht nach der Ferne.
Mein Gott! Wie herrlich muß das sein, auf einem dieser Frachter über die Meere zu gleiten und neue Küsten, neue Welten zu entdecken!
Weil dieser Wunsch für ihn unerfüllbar war, ging er mit gesenktem Kopf weiter; da hörte er hinter sich seinen Namen rufen:
»Adrian!«
Er drehte sich um. Auf einer Bank, an der er soeben vorbeigegangen war, saß ein Mann mit übergeschlagenen Beinen und rauchte. Da Adrian kurzsichtig war und es schon dunkelte, konnte er ihn nicht erkennen. Der Mann blieb sitzen, und Adrian näherte sich ihm mit gemischten Gefühlen. Doch plötzlich rief er freudig aus:
»Stavru!«
Sie schüttelten sich die Hände, und Adrian setzte sich neben ihn.
Stavru, ein umherziehender Händler – wegen seiner Ware, die er auf den Märkten feilbot, Limonadenmann genannt –, war ein Vetter zweiten Grades von Adrians Mutter und eine ehemals sehr bekannte Erscheinung unter den leichtlebigen Burschen der Mahala. Jetzt kannte ihn dort in den Vorstadtgassen niemand mehr; denn dreißig Jahre schweigender Verachtung sind vergangen seit jenem schandbaren Zwischenfall, den sein Temperament verursacht hatte.
Er war etwas mehr als mittelgroß, aschblond, sehr mager und verwittert; seine großen blauen Augen, bald offen und ehrlich, bald verschlagen und hinterlistig, je nach den Umständen, spiegelten das ganze Leben Stavrus wider: das Leben eines durch sein absonderliches und unstetes Wesen hin und her Getriebenen, ein Leben, das ihn mit fünfundzwanzig Jahren in das erbarmungslose Räderwerk der Gesellschaft getrieben hatte (seine Ehe mit einem reichen, schönen und empfindsamen Mädchen) und das ihn ein Jahr darauf mit gebrochenem Herzen und lädiertem Charakter, mit Schande bedeckt, entließ.
Adrian kannte die Geschichte nur ungenau. Ohne auf nähere Einzelheiten einzugehen, hatte seine Mutter sie ihm als Beispiel eines abstoßenden Lebenswandels vorgehalten, aber Adrian hatte gerade die entgegengesetzten Schlüsse daraus gezogen; und mehr als einmal hatte er sich mit dem Instinkt, der aus dem Innersten seiner Seele kam, Stavru zugewandt, wie man sich über ein Musikinstrument beugt, um einen Widerhall zu erlauschen; das Instrument hatte sich ihm versagt.
Übrigens waren sie sich kaum drei- oder viermal begegnet, und immer auf der Straße. Das Haus seiner Mutter war wie alle ehrbaren Häuser für Stavru verschlossen. Und was hätte der Strolch aller Jahrmärkte dem verwöhnten und kurzgehaltenen Söhnchen auch sagen können?
Stavru galt allgemein als ein Aufschneider – und das war er auch wirklich und wollte es sein. In seinem armseligen und, selbst wenn er neu war, zerknitterten Anzug, mit dem Aussehen eines verstädterten Bauern, im ungebügelten, kragenlosen Hemd und mit der Miene eines abgefeimten Roßtäuschers stellte er sich mit Reden und Gebärden zur Schau, die alle Welt belustigten, ihm selbst aber nur Demütigungen und Verachtung eintrugen.
Auf offener Straße rief er seinen Bekannten komische, treffende, aber niemals verletzende Spitznamen nach. Manche hafteten den Betreffenden für immer an. Gefiel ihm jemand, so nahm er ihn mit ins Wirtshaus, bestellte einen halben Liter Wein, und nachdem er ein Glas mit ihm getrunken hatte, ging er nach hinten auf den Hof, um »ein kleines Bedürfnis« zu verrichten, kam nicht mehr zurück und überließ es dem Gast, zu zahlen! Traf er aber einen, der ihn anödete, dann flüsterte er ihm zu: »Der und der Freund erwartet dich in dem und dem Kaffeehaus. Lauf schnell hin!«
Geradezu in Begeisterung versetzten Adrian die Scherze, die Stavru mit den Heringsköpfen und den Tabaksdosen trieb. Während eines Gespräches zog der Limonadenmann einen getrockneten Fischkopf aus der Tasche und hängte ihn seinem geschwätzigen Partner heimlich an den Rockschoß. Ging der gute Mann dann seines Weges, so führte er, zum größten Jux der Leute, den Heringskopf an seinem Rock spazieren.
Die Sache mit dem Tabak aber war das beste. Wer immer von seinen Bekannten vorbeikam, Stavru ging ihn um eine Prise Tabak an, um sich eine Zigarette zu drehen. Wenn er sich bedient hatte, ließ er die Tabaksdose, anstatt sie zurückzugeben, ohne ein Wort des Dankes in seine eigene Tasche gleiten; diese aber war zerrissen, so daß die Dose alsbald herausfiel und auf den Boden kollerte. Dann sprang er hinzu, hob sie auf, wischte sie ab, entschuldigte sich, und indem er vortäuschte, sie in die Tasche des Besitzers stecken zu wollen, ließ er sie danebengleiten, und die arme Dose, ob sie nun aus vernickeltem Metall oder aus gepreßtem Karton war, fiel abermals aufs Pflaster.
»Ach, was bin ich doch ungeschickt!«
»Oh, das tut nichts«, antwortete der Gefoppte meistens darauf und betrachtete prüfend das verbeulte Ding, während die Zuschauer sich vor Lachen bogen.
Die Tabaksdosen jedoch, denen Stavru so arg mitgespielt hatte, bekam dieser nie wieder zu Gesicht.
So hatte Adrian diesen Menschen seiner Possen wegen zu lieben begonnen. Doch trugen sich sonderbare Dinge zu, die ihn beunruhigten und verwirrten. Manchmal mitten in Scherz und Spaß wurde Stavru ernst, wandte sich ihm zu und bohrte seinen klaren, ruhigen und zwingenden Blick in Adrians Augen, so wie man in die guten, einfältigen Augen eines Kälbchens schaut. Dann fühlte sich Adrian ganz klein vor diesem Limonadenmann, diesem Analphabeten. Das mutet ihn seltsam an, und er begann ihn zu beobachten. Aber selten bot sich Gelegenheit dazu. Der sonderbare und beunruhigende Blick, den er im geheimen »den anderen Stavru« nannte, leuchtete selten auf, und dann nur für Adrian.
Eines Tages indessen – es war einige Monate vor dem Zusammentreffen im Park, und zwar als er den Limonadenmann zu dessen Spezereihändler, einem alten und wortkargen Griechen, begleitete, von dem er den Zucker und die Zitronen kaufte –, da sah er plötzlich den »anderen Stavru« auftauchen. Adrians Blicke blieben an seinen Augen haften.
In einer Ecke des schwach erleuchteten Ladens nämlich blickte Stavru, in dessen Gesicht sich alle Falten geglättet und die Züge verklärt hatten, mit strahlenden, weit offenen Augen eindringlich dem Händler in sein mürrisches, verquollenes Gesicht und redete schüchtern, aber bestimmt auf ihn ein, während dieser zustimmend mit dem Kopfe nickte.
»Kyr Margulis … Es geht schlecht … Es ist nicht heiß, und kein Mensch kauft Limonade … Meine Ersparnisse gehn drauf und auch Euer Zucker … Also, Ihr versteht wohl? Auch diesmal kann ich nicht bezahlen. Einverstanden? Es gilt wie bisher: Wenn ich sterbe, habt Ihr zehn Lei verloren.« Der Kaufmann war zwar geizig, doch ein Menschenkenner; mit einem kurzen Händedruck, so nüchtern wie sein ganzes Leben, gewährte er ihm den Kredit.
Draußen, mit der Ware unter dem Arm, mußte Stavru gleich ein paar witzige Bemerkungen anbringen, einem flüchtigen Bekannten einen Gruß nachrufen und auf einem Bein hüpfen.
»Ich habe ihn angeführt, Adrian, ich hab ihn über den Löffel balbiert!« raunte er dem Jungen ins Ohr.
»O nein, Stavru!« protestierte Adrian, »du hast ihn nicht übers Ohr gehauen. Du wirst es ihm bezahlen!«
»Freilich, Adrian, ich werde bezahlen, wenn ich nicht sterbe … Und wenn ich sterbe, zahlt es der Teufel!«
»Wenn du stirbst … Das ist was anderes … Aber du sagst, du hättest ihn betrogen: Das hieße ja, du bist unanständig!«
»Vielleicht bin ich es ja auch …«
»Nein, Stavru, du willst mir nur was vormachen; du bist kein ehrloser Mensch!«
Stavru blieb jäh stehen, zog seinen Begleiter an einen Zaun, und indem sein Gesicht vorübergehend jenen seltenen Ausdruck annahm, der gleichzeitig scheu und unterwürfig war, schleuderte er Adrian entgegen:
»Ja, ich bin unanständig! Zu meinem Unglück, Adrian, bin ich sehr unanständig!«
Und er wollte gehen. Aber Adrian, von einer ihm unbekannten Angst erfaßt, packte ihn beim Rockaufschlag, hielt ihn zurück und rief mit erstickter Stimme:
»Halt, Stavru, bleib! Du mußt mir die Wahrheit sagen: Ich sehe zwei Menschen in dir; welcher ist der wahre? Der gute oder der schlechte?«
Stavru wehrte ab:
»Ich weiß nicht! Und indem er sich mit einem Ruck von Adrians Händen befreite, stieß er unwillig hervor: »Laß mich in Ruhe!« Dann, weil er fürchtete, den Jungen gekränkt zu haben: »Ich werde es dir sagen, wenn du trocken hinter den Ohren bist.«
Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen. Vom März bis zum Oktober klapperte Stavru die Märkte ab, und wenn der Winter kam, verkaufte er, Gott weiß wo, geröstete Kastanien. Nach Brăila kam er nur, um sich mit Vorräten zu versehen.
Als Adrian an diesem Tage Stavru auf der Bank im Stadtpark traf, war ihm so freudig zumute wie Bächen, wenn sie mit Strömen zusammenfließen, und Strömen, wenn sie in den Schoß des Meeres eingehen.
Stavru war diesmal, entgegen seiner Gewohnheit und zu Adrians größter Freude, weniger redselig als sonst. Er prüfte Stavrus Gesicht im fahlen Abendlicht und fand es unverändert. Niemand hätte sein Alter erraten können. Doch stellte Adrian fest, daß an den Schläfen das Aschblond der Haare leicht angegraut war.
»Was siehst du mich so an?« fragte Stavru unwillig. »Ich bin nicht zu verkaufen.«
»Das nicht, aber ich möchte gerne feststellen, ob du noch jung bist oder angefangen hast zu altern.«
»Ich bin jung und auch alt: wie die Spatzen.«
»Wahrhaftig, Stavru: Du bist ein loser Vogel!« Und dann nach einer kleinen Pause: »Willst du nicht meine Tabaksdose, um sie ›zufällig‹ auf den Boden fallen zu lassen? Vielleicht würde es dich daran erinnern, daß ich immer neugierig bin und wissen will, woher du kommst und wohin du gehst und wie deine Geschäfte stehen.«
»Woher ich komme und wohin ich gehe, ist gar nicht wichtig; ich kann dir aber sagen, daß meine Geschäfte nicht schlecht stehen. Und trotzdem bin ich heute sehr verdrießlich, mein munteres Fohlen.« Und er schlug Adrian mit der Hand aufs Knie.
»Das kommt bei dir nicht oft vor«, antwortete dieser. »Und weshalb bist du denn unzufrieden, Stavrache? Sind die Zitronen rar geworden?«
»Nein, nicht die Zitronen, sondern die rechtschaffenen Strolche von früher sind rar geworden.«
»Rechtschaffene Strolche?« rief Adrian verwundert aus, »das ist doch nicht möglich; Strolche können nicht rechtschaffen sein!«
»Glaubst du? Ich kenne dennoch ein paar davon.«
Stavru neigte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und starrte auf den Boden. Adrian spürte, daß die Worte ernst gemeint waren, und hätte gern noch mehr erfahren; doch er ging behutsam vor.
»Könntest du mir vielleicht sagen, wofür du einen solchen Strolch benötigst?«
»Dafür, daß er mich nächsten Donnerstag auf den Jahrmarkt nach Slobozia begleitet. Ehrlich gesagt, ich brauche ihn nicht für mich, aber doch so quasi … Weißt du, ich habe die Gewohnheit, mich auf den Märkten neben einen Strudelbäcker zu setzen, der auch Krapfen siedet. Die Bauern essen, werden durstig, und dann bin ich mit der Limonade bei der Hand. Ab und zu eine Handvoll Salz in den Krapfenteig … (Siehst du, wie ehrlich ich bin?) Nun, ich habe auch schon den Krapfensieder; es ist Kyr Nikola …«
»Kyr Nikola!« fuhr Adrian auf.
»Ja, euer Nachbar, dein gewesener Brotherr. Doch hier liegt der Hase im Pfeffer: Er kann seinen Backofen nicht verlassen und auf den Markt gehen. Er braucht daher einen ›rechtschaffenen Strolch‹, der seinen dienstbaren Geist Mihail begleitet und das Geld einkassiert, während der andere ihm die Krapfen siedet. Seit zwei Tagen schon suche ich nach einem solchen Strolch.« Und Stavru zog schwermütig den Schluß: »Von Tag zu Tag wird Brăila ärmer an Menschen!«
Adrian durchfuhr es heiß. Er sprang auf und stellte sich vor den Limonadenverkäufer:
»Stavru! Bin ich würdig, der rechtschaffene Strolch zu sein, den du suchst?«
Der Händler schaute auf. »lst das dein Ernst?«
»Mein Wort darauf – das Wort eines Strolches, so wie du ihn verstehst! Ich geh mit euch!«
Stavru schnellte hoch wie ein Affe und rief:
»Gib mir deine Pfote, du Sproß eines Weltenbummlers. Bist mir ein würdiger Nachfahre deiner kephaltenischen Ahnen!«
»Was weißt du denn von meinen Vorfahren?«
»Oh, das müssen sicher große Windbeutel gewesen sein!« Und indem er dies sagte, küßte er den Zimmermaler auf die Wange; dann nahm er ihn beim Arm und zog mit ihm los.
»Schnell zu Nikola mit der guten Nachricht! Spätestens morgen, Sonntag, gegen Abend fahren wir los, damit wir Dienstag früh in Slobozia sind und noch gute Plätze erwischen. Einen Tag und zwei Nächte brauchen wir mit dem Wagen. Wir lassen das Pferd traben oder im Schritt gehen, je nach seinen Kräften – und nach der Stärke des Weines, den wir in den Wirtshäusern finden.«
Das Erscheinen des Marktbummlers und seines jungen Gehilfen verursachte in der Bäckerei eine heftige Auseinandersetzung. Kyr Nikola entnahm Stavrus Geschrei, daß er einen großen Treffer gemacht habe. Stavru ließ sich in seinem türkischen Redeschwall nicht einmal zum Verschnaufen Zeit. Mihail, der in die Sache eingeweiht war, mischte sich nun, zu Adrians größter Verwunderung, auch ins Gespräch, von dem er selbst nicht ein Wort verstand. Auf einen ernsthaften Einwand Mihails hin zuckte Kyr Nikola die Schultern und Stavru beruhigte sich; doch gleich darauf rief dieser in tadellosem Griechisch aus:
»Kümmert euch nicht um das, was seine Mutter sagen wird, meine Kinder! Wenn ich mich vor fünfzig Jahren nach der Lebensweise meiner Mutter gerichtet hätte, hätte ich niemals erfahren, wie die Sonne jenseits des Grabens, der damals unsere schöne Stadt Brăila umgab, auf- und untergeht. Ihr müßt wissen, meine Lieben, die Mütter sind sich alle gleich; sie wollen in ihren Kindern ihre armseligen Freuden wie auch ihre unerfreulichen Alltagsmühen noch einmal durchleben. Und dann, sagt mir, sind wir denn schuld daran, daß wir so sind, wie uns Gott geschaffen hat? Nicht wahr, Adrian?«
Mihail legte sich erneut, diesmal ebenfalls auf griechisch, ins Mittel:
»Da magst du recht haben, mein Freund, doch wir kennen Adrians Mutter nicht; wir könnten es hier mit einer für unsere Zwecke unbequemen Ausnahme zu tun haben. Was mich betrifft, so schlage ich vor, wir schicken Adrian, sie um ihre Einwilligung zu bitten. Erhält er sie, so bin ich der erste, der sich freut. Aber ohne Wissen seiner Mutter oder gegen ihren Willen nein, so fahre ich nicht auf den Jahrmarkt!«
Diese Worte veranlaßten Adrian, sich wie der Wind davonzumachen.
Seine Mutter richtete gerade das Abendessen. Er blieb mitten im Zimmer stehen, mit feuchten Augen, heißen Wangen und wirrem Haar. Er hatte nicht überlegt, was er sagen wollte. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Doch die Mutter hatte ihn schon durchschaut und kam ihm zuvor:
»Hast wieder einmal den Kopf voller Hirngespinste!«
»Ja, Mutter …«
»Hör zu: Wenn es wieder das gleiche Lied ist, so verschon mich gefälligst damit! Tu, was du glaubst verantworten zu können, aber mach mir das Herz nicht zu schwer und kümmere dich nicht um mich. Es ist besser so.«
»Es ist ja nichts, was dir das Herz schwer machen könnte, Mutter«, antwortete Adrian. »Seit acht Tagen, vielleicht auch mehr, bin ich ohne Arbeit, und ich möchte Mihail auf den Jahrmarkt nach Slobozia begleiten. Es wäre eine gute Gelegenheit, diese schöne Gegend zu sehen; und gleichzeitig verdiene ich mir dort, was mir hier an Verdienst abgeht.«
»Und werdet ihr nur zu zweit sein?«
»Ja … nein … auch Stavru wird …«
»Ausgezeichnet! Es wird ja immer besser … Der ist wohl in deinen Augen auch so ein ›Philosoph‹, nicht wahr?« Und da der Junge schwieg, setzte sie hinzu: »Na, meinetwegen! Du kannst mitfahren!«
»Ohne dich zu kränken, Mutter?«
»Ohne mich zu kränken, mein Lieber.«
Sie fuhren noch am Sonntag ab, und die Weiber aus der Grivița-Straße, wo der Krapfensieder wohnte, schauten zu und riefen ihnen Scherzworte nach. Stavru war gegen vier Uhr nachmittags mit seinem Wagen angerückt, auf dem er seinen ganzen Kram hatte: die Wassertonne und darin die Gefäße, Zucker, Zitronen, die Gläser usw. Vor dem Backhaus lud er mit Hilfe von Kyr Nikola und Mihail die zur Krapfensiederei nötigen Utensilien auf: einen Tisch, ein Kohlenbecken und eine große Pfanne, ferner zwei Säcke mit Mehl, mehrere Kanister mit Öl und auch Werkzeug. Und dann machten sie einen Sitz für drei Personen zurecht.
Um Adrian das Gespött der Vorstadtweiber zu ersparen, ging seine Mutter eine halbe Stunde vor Stavrus Ankunft mit ihm voraus. In der Galațer-Straße trennten sie sich; sie ging zu einer Freundin, während er sich der Landstraße zuwandte, auf welcher der Wagen kommen mußte. Sie umarmte ihr Kind und sprach:
»Siehst du, Adrian, ich füge mich deinem Willen; doch eines Tages wirst du bereuen, was du heute tust. Die Fahrt, zu der du dich anschickst, wird dir Lust machen auf längere und immer längere Fahrten. Du wirst mir nicht sagen können, welches Glück dich erwartet – ich aber kann dir jetzt schon versichern, daß wir eines Tages alle beide weinen werden. Doch ich will nichts Böses gesagt haben!«
Er wollte ihr antworten, aber sie ging davon. Wie angewurzelt blieb Adrian stehen und folgte ihr mit dem Blick: Sie ging gerade und aufrecht ihres Weges, so wie ihr Leben war, aufrecht, einfach, schmerzvoll. Den einzigen Fehltritt, dessen sie sich schuldig gemacht hatte, bedauerte sie nicht, obgleich sie an den Folgen so schwer zu tragen hatte: Es war das Kind. Mit ihrem dünnen Kopftuch, der Bluse aus billigem Kattun, dem Taschentuch in der rechten Hand stand sie da und hob leicht mit der Linken das zu lange Kleid an, das durch den Staub schleifte, den Blick richtete sie zu Boden, als suche sie etwas, was sie noch nicht verloren hatte, aber im Begriff war zu verlieren …
Du mein armer Freund Adrian! Du zitterst … Im Wagen, der auf der Landstraße einsinkt, sitzt du aufs Polster gekauert neben Stavru, der, zu deiner Rechten, das Pferd antreibt und ein armenisches Lied vor sich hin singt, und mit der linken Seite lehnst du dich an Mihails Schulter, der raucht und schweigt – ja, du zitterst, mein armer Freund; doch nicht vor Kälte. Sollte es Angst sein? Oder erschauerst du – zwischen diese beiden Dämonen deines Lebens gezwängt – unter dem Hauch des Schicksals, das dich nicht nur dem Jahrmarkt in Slobozia entgegentreibt, sondern auch dem großen Jahrmarkt deines Daseins, das eben erst beginnt?
Lange, sehr lange fuhren sie so in einen von Wetterleuchten erfüllten gewitterschwangeren Abend hinein auf der Landstraße, die sich wie ein gespanntes Seil zwischen Baumreihen und Weizenfeldern dahinzog. Stavru sang mit klagender Stimme armenische Lieder. Mihail und Adrian lauschten ihm lange; sie verstanden nichts, aber erfühlten alles. Dann hüllte die Nacht sie ein, sie und ihre Gedanken.
Dörfer und Weiler folgten auf Dörfer und Weiler, vom Dunkel verschlungene und von der Welt vergessene Nester, armselig in ihrer Trauer und armselig in ihrer Zufriedenheit. Das zitternde Licht, das an der Wagenkette hin und her pendelte, enthüllte nächtliche Bilder eines erbarmungswürdigen Landlebens, die es einen Augenblick lang beleuchtete und die dann für immer verschwanden: ein wütend bellender Hund; ein Vorhang am Fenster, etwas zur Seite geschoben, um ein menschliches Gesicht freizugeben, das herauszublicken versuchte; alte Hütten mit schiefen, verwitterten Dächern; Höfe und zerbrochene Zäune.
Sowie Stavru in ein Dorf einfuhr, hielt er vor der Herberge, wischte dem Pferd die Augen aus, zog es an den Ohren, gab ihm den Hafersack, legte ihm die Decke über und trat, von seinen beiden Weggenossen gefolgt, lärmend ins Wirtshaus. Hier wurde er wieder geschwätzig, leichtsinnig und spaßhaft, warf mit lustigen Spitznamen um sich und erlaubte sich auch, dem einen oder dem anderen Bauern einen freundschaftlichen Klaps auf die Mütze zu verabreichen. Dann, indem er einen Liter und ein »Glas für den Meister da« bestellte, bat er diesen höflich um die Tabaksdose, drehte sich eine Zigarette und ließ dann, mit der ernsthaften Miene eines Papstes, die Dose des Betreffenden zum Dank auf den Boden fallen.
Adrian bemerkte, wie Mihail, der Stavru erst seit zwei Tagen kannte, diesen insgeheim ständig beobachtete. Er benutzte die kurze Abwesenheit des Limonadenverkäufers und sagte auf griechisch zu seinem Freund:
»Die reinste Schrotmühle! Wieviel Lärm um nichts und wieder nichts!«
Mihail flüsterte ihm zu:
»Dieser Lärm soll irgendwo irgendwas übertönen; ich seh noch nicht klar … Jedenfalls, der Mann verbirgt was.«
Nach sieben Stunden Fahrt, die fast ständig im Trab vor sich ging, holperte der Wagen gegen Mitternacht schwer in ein großes Dorf. Ein feiner Sprühregen hatte eingesetzt, der die drei nichts anderes mehr wahrnehmen ließ als das Gekläff von ein paar tobsüchtigen Hunden, die das Pferd wütend ansprangen. Stavru schlug ohne Erbarmen mit der Peitsche auf sie ein und lenkte den Wagen sicher auf ein Hoftor zu, so daß der Gaul in der Dunkelheit mit dem Kopf dagegenstieß und es fast umgerissen hätte.
»Grigore! He, Grigore!« Und als dann nach langem Warten ein schwarzer Schatten auftauchte und öffnete, fuhr er fluchend fort:
»Kreuzhimmeldonnerwetter und in drei Teufels Namen! Wirst doch nicht wollen, ich soll Krapfen und Limonade aus Regenwasser zubereiten: Mach auf, du Hornochse!«
Der auf diese Weise Angeredete brummte etwas vor sich hin und faßte das Pferd am Halfter. Stavru spannte aus und schob den Wagen unters Wetterdach.
Dann befanden sich die drei Reisenden zusammen mit dem Wirt in einem jener rumänischen Wirtshäuser, die dem des Moș Anghel ähneln und in denen gegessen und geraucht wird, in denen man gute und schlechte Dinge bespricht, je nach den Menschen, ihrem Alter und der Herzhaftigkeit des Weines.
Diesmal war Stavru kurz angebunden:
»Essen wir was Ordentliches, aber vertrödeln wir die Zeit nicht mit unnötigem Getratsch. Wir bleiben bis morgen früh und ziehn dann weiter. Das Schwerste haben wir hinter uns. Morgen, wenn wir ausgeruht und frisch an Leib und Seele sind, fahren wir immer am Wasser entlang, erzählen uns dabei Geschichten und sehen zu, wie die Sonne aufgeht, deren erste Strahlen gerade in die Augen des Pferdes fallen. Morgen wird schönes Wetter sein.«
Man setzte ihnen Rührei aus zwölf Eiern vor, dazu Speck, Käse und einen Wein, daß einem das Messer in der Tasche verrosten konnte.
Der Wirt fragte Stavru, als er mit ihm anstieß:
»Fährst du zum Jahrmarkt nach Slobozia?«
Dieser nickte. Der Wirt begann ihn aufzuziehen:
»Und tust du in dein Gesöff noch immer Sacharin statt Zucker und Zitronensäure statt Zitronen?«
Stavru blickte ihm in die Augen und kaute weiter. Dann antwortete er:
»Und du, altes Schwein, panschst du auch noch immer deine Ţuică mit Brennspiritus und Brunnenwasser und vergiftest die Bauern, wobei sich dein Geldbeutel füllt?«
Adrian fiel ihm verwundert ins Wort:
»Aber Stavru, ich hab doch selbst gesehen, wie du Zucker und Zitronen gekauft hast; war das nicht für die Limonade?«
»Nein, mein Lieber, damit streue ich den Durstigen nur Sand in die Augen!« antwortete Stavru. Und auf griechisch fügte er hinzu: »Da kannst du wieder sehen, daß ich unanständig bin! Und das ist noch nichts, ich kann’s noch viel ärger treiben.«
Mihail und Adrian tauschten verständnisvolle Blicke, und die Augen des einen antworteten den fragenden Augen des anderen: Es steckt etwas dahinter.
Die drei Männer erhoben sich. Der Schankwirt nahm eine Schachtel Zündhölzer und eine Kerze und führte sie auf den über dem Stall gelegenen Heuboden, der noch halb voll war. Dort breiteten sie eine große Matte auf den Brettern aus und warfen sich alle drei angezogen und mit vollem Magen hin, benommen vom Wein und von der Müdigkeit.
»Wenn ihr raucht, seht euch vor mit dem Feuer«, sagte der Wirt, aber Kerze und Streichhölzer nahm er trotzdem mit. Nach fünf Minuten schliefen alle drei.
Wieviel Uhr mochte es wohl sein? Adrian wußte es nicht, doch er fühlte mitten in der Nacht eine Hand, die ihn berührte, zuerst die Schultern und dann das Gesicht. Schlaftrunken schlug er die Augen kurz auf, erinnerte sich dunkel, daß er nicht zu Hause, sondern auf dem Heuboden lag, und schlief sofort wieder ein. Doch siehe da, wieder strich ihm diese fremde Hand übers Gesicht, und unversehens brannte ihm ein heißer Kuß auf der rechten Wange. Diesmal wurde Adrian hellwach. Er war starr, begann zu überlegen. Was zum Teufel konnte das sein? Ins Dunkel blinzelnd, vergegenwärtigte er sich die Situation: Rechts von ihm, also in der Mitte, lag Stavru; auf der anderen Seite Mihail. Und er dachte:
Wie, sollte Stavru mich geküßt haben? Was hat das zu bedeuten?
Eine widerwärtige Vorstellung bemächtigte sich seiner, so widerwärtig, daß er sie sofort zu verscheuchen suchte und sich sagte: Nein … Sicher habe ich nur geträumt! Es ist ja nicht möglich!
Doch wenige Minuten später fühlte er deutlich Stavrus Hand, die mehrmals seine Brust berührte. Befremdet fragte er mit gepreßter, aber dennoch laut vernehmlicher Stimme:
»Suchst du meine Tabaksdose, Stavru?«
Die Frage hallte in der stillen Nacht wie unter einer Kuppel. Keuchend packte ihn der Limonadenverkäufer am Arm und flüsterte ihm, vor Erregung zitternd, ins Ohr:
»Halt den Mund!«
»Aber was wolltest du vorhin? Hast du mich geküßt?« drang Adrian auf ihn ein, während sein Entsetzen wuchs.
»Schweig, schrei doch nicht so!« zischte der andere und preßte ihm den Arm.