Kitabı oku: «YOLO», sayfa 3
3 | Franks Bar
Henrik hatte sich mit Tobi für abends um acht zum Kino verabredet. Eigentlich wollte er den vierten Teil von Rambo sehen, doch da der Film erst ab sechzehn Jahren freigegeben war und man Tobi nicht reinlassen wollte, gingen sie stattdessen in eine Komödie mit Til Schweiger in der Hauptrolle.
Wie Henrik erwartet hatte, war der Film zum Gähnen langweilig und seine Laune daher entsprechend schlecht, als sie gegen halb elf das Kino verließen. Zu allem Übel kamen sie draußen in einen Nieselregen. Henrik hatte einen Fußmarsch von etwa einer halben Stunde vor sich. Mit dem Bus fahren wollte er nicht, da ihm das Geld dafür zu schade war. Im letzten Monat hatte man ihn bereits zweimal beim Schwarzfahren erwischt.
»Was machen wir jetzt, Keule? Der Abend ist noch lang und morgen ist Sonntag.« Tobi war bester Laune wie immer. Er hatte den Til-Schweiger-Film zum Brüllen komisch gefunden und war unternehmungslustig bis unter die Halskrause.
»Was soll’n wir schon machen?«, raunzte Henrik missmutig, den Kopf mit den nassen Haaren in den hochgeschlagenen Kragen seiner Cordjacke eingezogen. Die Hände hatte er in den Taschen seiner Jeans vergraben. »Wir machen, dass wir bei dem Mistwetter auf schnellstem Wege nach Hause kommen. Ich habe keine Lust, morgen früh mit Grippe im Bett zu liegen.« Während er sprach, beschleunigte er seinen Schritt, den Blick stur auf den Bürgersteig gerichtet.
»Ach, sei kein Spielverderber!« Tobi knuffte Henrik gegen den Arm und lachte. Er war mit seinen hundertsiebzig Zentimetern Körpergröße nicht viel kleiner als der Freund, wog aber nur fünfzig Kilo. Henrik zog ihn oft auf, indem er ihn mit Livingdeads Skelettkriegern verglich.
Tobi nahm es mit Humor. Nichts konnte ihm die Laune verderben. Mit der rostrot gefärbten Igelfrisur, dem Piercing im rechten Nasenflügel und der Lücke im Frontzahnbereich wirkte er auf seine Umgebung nicht sehr vertrauenerweckend. Insbesondere, wenn er – wie heute – das T-Shirt trug, auf dem der Schriftzug Schluck, du Luder! stand.
In Wahrheit war der Junge gutmütig und völlig harmlos. Allerdings fand Henrik, dass er für sein Alter die Klappe viel zu weit aufriss. Er hatte Tobi vor zwei Jahren kennengelernt, natürlich im KoF. Dort hatte er ihm bei einer schwierigen Quest geholfen. Seitdem verabredeten sie sich regelmäßig im Game. Eines Tages war Tobi auf die Idee gekommen, sich im Real Life zu treffen. Henrik wusste bis heute nicht, warum er darauf eingegangen war. Auf jeden Fall verabredeten sie sich zum Kinobesuch.
Obwohl Tobi ständig redete, nur Unsinn quatschte und Henrik darauf meist genervt und unfreundlich reagierte, gewöhnten sie sich schnell aneinander. Tobi lieferte immer Ideen zu irgendwelchen Unternehmungen. Egal, ob Kino, Freibad, Pizzaessen oder einfach nur in der Stadt rumhängen – Henrik ging mit. Das hielt ihn nicht davon ab, ständig an allem herumzunörgeln, doch Tobi blieb immer bester Laune und machte unermüdlich Witze.
»Komm, wir gehen ins Molocco.« Tobi zwinkerte Henrik aufmunternd zu und zog ihm am Ärmel. »Es ist gleich um die nächste Ecke. Da können wir abwarten, bis der Regen vorbei ist und uns eine Kola genehmigen.«
Henrik zögerte kurz, dann seufzte er ergeben. »Na gut. Aber nur, wenn es die Kola gratis gibt.«
Die Chancen dafür standen gut. Im Molocco arbeitete nämlich Tobis Bruder Frank als Barkeeper, weshalb auch die Türsteher Tobi gut kannten und ihn – wenn es keiner mitbekam – heimlich einließen.
So lief es auch diesmal. Das Innere des Schuppens war einer Gruft nachempfunden und daher ziemlich dunkel. Die Fackelattrappen warfen indirektes rotviolettes Licht an die schwarz gestrichenen Wände. Die Tische glichen Särgen mit Totenköpfen als Aschenbechern. Von der kuppelförmigen Decke hing ein riesiges, auf den Kopf gestelltes Holzkreuz, an dem Spots montiert waren, die im Rhythmus der Musik Lichteffekte auf die Tanzfläche projizierten.
Das Publikum war zumeist zwischen achtzehn und dreißig Jahren alt und kam überwiegend aus der Gothicszene: Nach Henriks Meinung harmlose Irre, die in gruseligen, schwarzen Klamotten umherrannten und mit den schwarz gefärbten Haaren und blassen Gesichtern wie der leibhaftige Tod aussahen.
Das Molocco war als Umschlagsplatz diverser weicher und harter Drogen bekannt. Einmal gerieten die beiden dort in eine Polizeirazzia. Tobi konnte in letzter Sekunde über ein Klofenster entkommen. Henrik dagegen wurde mit einem Joint erwischt, den Tobi ihm gedreht hatte, und musste mit aufs Revier. Die halbe Nacht hatte er dort zugebracht. Danach war Henrik stinksauer auf den Freund und beschimpfte ihn auf übelste Weise. Tobi hatte getan, was er immer tat: Er lachte sich kringelig und fand die Geschichte urkomisch.
Die Freunde wühlten sich durch die Menge und arbeiteten sich in Richtung Bartresen vor. Tobi grüßte seinen Bruder Frank mit einem kurzen »Hallo!« und bestellte dann zwei Kola.
Frank mixte einem der Gäste gerade einen »Zombie«, einen hochprozentigen, rumhaltigen Cocktail von giftig-grüner Farbe. Er bedachte die beiden mit einem spöttischen Grinsen, während er das fertige Getränk dem Kerl hinschob, der es bestellt hatte. »Na, ihr beiden Schnorrer! Ihr seid wohl ein bisschen nass geworden, was?«, stichelte er.
Tatsächlich sahen Henrik und Tobi aus wie zwei durchweichte Vogelscheuchen. Henrik blinzelte mit halbgeöffnetem Mund nervös durch seine von innen beschlagenen und von außen mit Regentropfen bedeckten Brillengläser, was ihn nicht gerade intelligent aussehen ließ, während Tobi fröhlich grinste und Grimassen schnitt. Dazu rann ihm das Wasser vom Kopf und tropfte über das Nasenpiercing auf den Boden. »Spricht man so mit seinem Lieblingsbruder und seinen treuesten Stammgästen in dieser traurigen Freakshow?«, witzelte er.
»Wer solche Stammgäste hat, braucht Bullen, Ordnungsamt und Pestilenz nicht mehr zu fürchten.« Frank zog seine buschigen Augenbrauen verärgert zusammen. Das schulterlange, schwarze Haar fiel ihm über das blasse, hohlwangige Gesicht, das nun recht bedrohlich wirkte. Doch dann grinste er versöhnlich und wies mit seinem knochigen Zeigefinger, an dem ein gigantischer Silberring in Form einer zusammengerollten Schlange steckte, in die hinterste Ecke des Etablissements. »Setzt euch da hinten hin und macht keinen Ärger. Und wenn mein Boss kommt, verpisst euch unauffällig aufs Klo! Habt ihr verstanden, ihr Spaßvögel?«
Henrik starrte weiter missmutig und schweigend mit offenem Mund Tobis Bruder an, während der Freund zwei Gläser mit Kola nahm und ihn mit einer Kopfbewegung aufforderte, ihm zu folgen.
»Alles klar, Keule!«, entgegnete Tobi, »Immer cool bleiben. Sonst gibt’s kein Trinkgeld.« Frank zeigte ihm den gestreckten Mittelfinger und raunzte: »Piss off!« Dann schenkte er den beiden keine Beachtung mehr und mixte den nächsten Cocktail.
Frank war achtundzwanzig Jahre alt und Tobis Halbbruder. Er stammte aus der ersten Ehe ihres gemeinsamen Vaters. Tobi liebte seinen älteren Bruder und sagte niemals Nein, wenn Frank ihn um einen Gefallen bat, auch wenn ihn das manchmal in Schwierigkeiten brachte. Oft handelte es sich zum Beispiel um Botengänge, bei denen es um heiße Ware ging. Oder er musste irgendwo Schmiere stehn, während der Bruder unsaubere Geschäfte abwickelte.
Frank war wegen diverser Delikte wie Diebstahl, Einbruch und Körperverletzung vorbestraft. Zuletzt musste er neun Monate Knast wegen Drogenhandels absitzen. Derzeit war er auf Bewährung frei. Henrik bezweifelte jedoch, dass dies lange so bleiben würde.
Henrik und Tobi setzten sich auf eine schmale, schwarz lackierte Holzbank hinter einer Balustrade, auf der mindestens zwanzig aufgereihte Schrumpfköpfe standen. Tobi behauptete, dass die alle echt seien. Henrik glaubte ihm das zwar nicht so richtig, dennoch überlief ihn jedes Mal eine leichte Gänsehaut, wenn er in die winzigen, gequälten Schrumpfgesichter blickte.
Von ihrem Platz aus konnten sie die Tanzfläche nicht überblicken. Das war wohl auch der Grund, warum hier niemand saß. Der Vorteil bestand darin, dass sie sich ungestört unterhalten konnten.
Seufzend zog Henrik seine patschnasse Jacke aus und legte sie neben sich auf die Bank. Mit dem T-Shirt putzte er sich die Brille sauber. Tobi saß neben ihm und ruckte grinsend mit seinem Kinn im Takt zur Musik von Sisters of Mercy, während er mit den Zeigefingern auf den Tisch trommelte.
»Cooler Ring, den dein Brüderchen da trägt«, meinte Henrik, als er endlich zufrieden an seinem Strohhalm nuckelte.
»Ja, Mann«, nickte Tobi eifrig. »Ich wollte auch so einen, doch diese Bazille will mir nicht verraten, wo er ihn herhat. Er tut mächtig geheimnisvoll und erzählt mir so einen Scheiß wie: Nur würdige Diener der Schlangenmutter tragen diesen Ring. Völlig stoned ist dieser Typ.«
Henrik nickte nachdenklich. Aus irgendeinem Grund musste er plötzlich an sein Erlebnis im Gasthof von Sleepysoul denken. »Tobi, hast du schon mal von einem KoF-Charakter mit dem Namen Tulsadoom gehört?«, erkundigte er sich vorsichtig.
»Hä?« Tobi starrte ihn fragend an.
»Ein Druide im sechzigsten Level«, erklärte Hendrik. »Linker Typ, wenn du mich fragst. Hat mich heute im Game schräg angequatscht.« Er trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte.
Tobi runzelte angestrengt die Stirn, als müsse er nachdenken. Dann hellte sich seine Miene plötzlich auf und seine Zahnlücke zeigte sich in voller Pracht. »Na klar! Bin dem Kerl mal in der Arena bei einem Übungskampf begegnet. Ziemlich arrogante Schnalle. Hatte ein paar miese Tricks drauf. Er arbeitet vorwiegend mit Giftdolchen im Stealmodus.«
Henrik nickte. Stealmodus war die Fähigkeit der Druiden- und Schurkenklasse, sich fast unsichtbar an den Gegner heranzuschleichen, um ihn hinterrücks zu erledigen. Verdammt hinterhältig, dafür äußerst effektiv.
»Was wollte der falsche Fuffziger von dir?«, wollte Tobi wissen.
»Nun, du erinnerst dich doch an mein neues Armband aus der letzten Quest? Das mit der Inschrift!« Henrik blickte den Freund aufmerksam an.
Tobi schlug sich fröhlich mit der Hand vor die Stirn, als ihm die Geschichte wieder einfiel. »Ja, klaro. Das Ding, das diesem schwarzen Schattenmagier gehört.«
»Das ist jetzt mein Armband, du Schwachkopf!«, schrie Henrik und hieb Tobi die Faust auf den Oberschenkel.
Der verzog erschrocken und in unterdrücktem Schmerz das Gesicht. »Ja, ja Alter. Ist ja gut. Immer mit der Ruhe, Bruder. Und mach keinen Terror! Die Gäste werden schon auf uns aufmerksam«, zischte er.
In der Tat schauten drei Gruftis vom Nachbartisch neugierig zu ihnen herüber. Sie hatten schon seit geraumer Zeit die Mädels auf der Tanzfläche beobachtet, mit schmutzigem Grinsen getuschelt und anzügliche Witze gerissen. Henriks Ausraster war ihnen nicht entgangen und auch Frank schaute besorgt zu ihnen hin.
Tobi winkte ihm lächelnd zu und rief: »Hey, Garçon! Bitte ein Fläschchen Dom Perignon und ein Schälchen von dem guten Belugakaviar, aber vite, vite!«
Frank schüttelte ironisch lächelnd den Kopf und widmete sich weiter seiner Kundschaft.
Die drei Gestalten vom Nachbartisch starrten immer noch interessiert zu ihnen herüber. Sie waren zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren alt und im Vampirlook gestylt, das hieß, sie hatten lange, schwarze Haare, die Gesichter waren weiß gepudert und die Lippen rot geschminkt. Unter langen, schwarzen Ledermänteln trugen sie schwarze Jeans und T-Shirts oder Hemden.
Tobi warf ihnen einen aggressiven Blick zu und blaffte: »Na, was ist? Wollt ihr ein Passfoto, ihr Vögel?«
Die drei glotzten sich verdutzt an. Dann grinsten sie verächtlich und vertieften sich wieder in ihre Männergespräche.
Henrik redete weiter. »Also, der komische Schattenmagier nennt sich W8_4_N8. Dieser blöde MisterMister Oberclever steigt wohl immer erst nach Mitternacht ins Game ein. Angeblich will er das Armband wieder zurückhaben und ich soll das Ding einem Gildenboss – Lord Dragon – übergeben. Was hältst du von der Geschichte?«
Tobi kratzte sich nachdenklich den Igelkopf und blies seine Wangen auf. »Dieser Schattenmagier ist mir genauso ein Rätsel wie dir. Im Game ist er mir jedenfalls noch nie begegnet.« Er machte eine Pause, nippte an seiner Kola und redete weiter. »Aber Lord Dragon, der ist eine ganz große Nummer. Nicht auf dem Kontinent Arcadia – wo wir uns vorzugsweise herumtreiben –, sondern in den Ostländern des Spiels.«
Während Heavy-Metal-Klänge von Paradise Lost ertönten, erzählte Tobi weiter. »Der Typ gründete vor etwa zehn Jahren die Gilde der ehrwürdigen Schlangenmutter, die mittlerweile fast tausend Mitglieder hat. Überall triffst du auf Mitglieder der Gilde, die vor allem neue Spieler anquatschen und anwerben. Sie handeln mit magischen Gegenständen und treiben sich in allen Auktionshäusern rum, um sich bisher unbekannte, mächtige Items unter den Nagel zu reißen.«
Henrik hörte interessiert zu. Er ahnte, dass hinter der Geschichte mehr steckte als die Drohung eines beleidigten Magiers, dem ein Armreif abhandengekommen war. »Auf was für Gegenstände sind die Typen denn besonders scharf?«
Er rülpste ungeniert die Kohlensäure seiner Kola aus und tätschelte behutsam seinen Bauch.
»Oh, alles Mögliche.« Tobi schüttelte ekstatisch seinen Igelkopf zum Rhythmus der Dreadful Shadows und stampfte mit den Füßen. »Aber vor allem suchen sie nach interessanten Setgegenständen.«
Henrik runzelte fragend die Stirn. »Setgegenstände?«
»Ja, Sets.« Tobi fischte aus seinem leeren Kolaglas einen Eisklumpen und begann ihn zu lutschen. »Du weißt schon … eine Kampfausrüstung, bei der die einzelnen Gegenstände zueinander gehören. Jeder Setgegenstand, der hinzukommt, erhöht den Wert der Gesamtausrüstung mehr als es der Summe der Einzelgegenstände entspricht.«
Henrik glotzte Tobi mit offenem Mund an. »Jetzt redest du wie mein früherer Mathelehrer, der bösartige Drecksack.« Vor lauter Empörung entwich ihm ein lang gezogenes Furzen, das sogar die harten Riffs von Love like blood übertönte.
Tobi stieß ein begeistertes Kreischen aus und klatschte grölend in die Hände. Die drei Kerle vom Nachbartisch blickten verärgert und drohend zu ihnen herüber. Tobi starrte zurück und formte mit den Lippen die Worte: »Leck mich!« Dann wandte er sich wieder an Henrik.
»Also, hör zu. Das bekannteste Set heißt ›Der Zorn des Todeskriegers‹. Dazu gehören ein Dolch, ein Schild und ein Umhang. Der Dolch für sich alleine macht nicht viel her. Wenn der Schild allerdings dazukommt, verursacht auch der Dolch zusätzlichen Feuerschaden. Kommt dann noch der Umhang hinzu, ist der Dolch zusätzlich noch vergiftet und der Schild wird unzerstörbar.«
Henrik nickte anerkennend. »Wow! Ist ja stark! Ich erinnere mich jetzt auch, darüber vor Jahren in der Spielanleitung gelesen zu haben. Bisher bin ich aber noch keinem Player begegnet, der mit so einem Set auf mich losgegangen ist.«
»Na klar.« Tobi zuckte wegwerfend mit den Schultern. »So ein Set zu finden, ist wie ein Sechser im Lotto. Und einzelne Setgegenstände für sich sind nicht viel wert. Daher tauschen die meisten Player einen solchen Gegenstand schnell wieder gegen ein anderes Item ein.«
»Und dieser krumme Hund, der sich Lord Dragon nennt, versucht also im ganz großen Stil, solche Sets zu ergattern«, murmelte Henrik.
»Endlich ist bei dir der Groschen gefallen, Kumpel.« Tobi tat, als müsse er sich erschöpft den Schweiß von der Stirn wischen. »Mittlerweile soll er vier oder fünf Sets komplett haben.«
Henrik pfiff anerkennend durch die Zähne. »Kompliment. Doch was will der Schwachmat damit? Sein fetter Arsch passt doch auch nur in ein Set.«
»Wer weiß? Vielleicht hat er noch nicht das gefunden, wonach er eigentlich sucht«, meinte Tobi gleichmütig.
Henriks Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ja, so konnte es sein! Der Armreif war Bestandteil eines Sets, auf das dieser Lord Dragon scharf war. Er nickte bedächtig.
»Okay, dann werde ich mit dem Typ reden, wenn nächste Woche unser alljährliches Gildentreffen stattfindet. Vielleicht erzählt er mir nebenbei einige interessante Dinge über diesen bekifften Magier.«
Die drei Typen vom Nebentisch starrten wieder ungeniert zu ihnen herüber. Tobi starrte zurück, stand plötzlich auf, drehte sich um, zog seine Jeans herunter und streckte ihnen wackelnd den nackten Hintern entgegen.
Henrik wandte sich kopfschüttelnd ab. »Lass das doch, du blöder Penner. Ich will keinen Ärger mit diesen schwindsüchtigen Sargschläfern!«
Grinsend zog Tobi die Hose hoch und wandte sich Henrik wieder zu. Ohne auf die letzte Bemerkung des Freundes einzugehen, fragte er: »Was willst du überhaupt von dem Kerl? Du hast seinen coolen Zauberreif und das war’s, oder?«
Henrik packte Tobi wütend am T-Shirt und zischte ihm heftig ins Ohr. »Hör mal zu! Ich lasse mir von einem mondsüchtigen Magier nicht drohen, und schon gar nicht aus dem Munde dieses billigen, tuntigen Druiden. Hast du das verstanden?«
Tobi wagte nur, erschrocken zu nicken. Langsam ließ Henrik ihn los. Scheinbar ruhig sprach er weiter: »Außerdem …«, seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und Heimtücke klang aus seiner Stimme, »außerdem, wer weiß? Vielleicht hat dieser W8_4_N8 noch mehr schöne Sächelchen zu verschenken, hm?« Schweigen.
Doch als Tobi begriffen hatte, worauf sein Kumpel hinaus wollte, sprang er auf und knuffte anerkennend in Henriks Speckbauch, sodass dieser aufstöhnte. »Du bist ein Teufelskerl, Hard2drive. Wir werden es diesem geheimnisvollen Angeber schon zeigen!« Und dann drehte er sich unvermittelt zu den Kerlen am Nebentisch um und schrie: »Und euch auch, ihr blöden, blutarmen Kokser!«, wobei er sich obszön in den Schritt griff.
Gackernd und glucksend setzte er sich wieder, während Henrik nur fassungslos den Kopf schüttelte. Vom Tresen her schickte Frank besorgte Blicke in ihre Richtung. Die drei Gothicfreaks wandten sich jedoch ab und beachteten Tobi nicht weiter.
Der Rest des Abends verlief ereignislos. Die beiden Freunde blieben noch zwei Stunden sitzen, um die Zeit totzuschlagen, bis der Regen endlich nachließ, und weil sie hofften, dass Frank ihnen noch eine Kola spendierte. Da dies nicht geschah, standen sie schließlich auf und verließen das zwielichtige Lokal.
Mittlerweile hatte es tatsächlich aufgehört zu regnen. Als sie auf der nächtlich dunklen Straße standen, gähnte Tobi lange und herzhaft.
»Komm Alter, geh’n wir nach Hause! Ich muss pennen. Kann ich mit zu dir? Ich hab keinen Schlüssel dabei, meine Alten liegen bestimmt stinkbesoffen im Bett und kriegen nicht mit, wenn ich klingle.«
Henrik nickte schicksalsergeben und winkte Tobi zu, ihm zu folgen. Doch als sie um die nächste Häuserecke bogen, blieben sie vor Schreck wie angewurzelt stehen. Vor ihnen standen die drei Gothictypen.
»Na, ihr zwei Turteltäubchen. Wen haben wir denn da?«, fragte der größte und offensichtlich der Anführer der drei. Er hatte einen bedrohlich aussehenden Baseballschläger in der rechten Hand, mit dem er sich demonstrativ in die linke Handfläche schlug. »Geht’s nach Hause in die Heia zum Schmusen?« Seine Kumpel stießen ein dreckiges Lachen aus und klopften sich vor Begeisterung auf die Schultern.
Henrik wurde kreidebleich. Ein Kloß steckte ihm im Hals und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er hätte tot umfallen wollen, als er hörte, wie Tobi antwortete: »Wenn du willst, kannst du mitkommen. Wir brauchen noch jemanden, der uns in den Schlaf bläst.«
Die drei hörten auf zu lachen. Der Anführer schien noch bleicher zu werden, als er ohnehin war. Speichel lief ihm aus dem rechten Mundwinkel. Er stieß ein tierisches Brüllen aus und stürzte sich, den Baseballschläger schwingend, mit seinen Begleitern auf Henrik und Tobi. Henrik blieb wie angewurzelt stehen, zu keiner Bewegung fähig. Er fühlte nur, wie seine Hose im Schritt feucht wurde. Tobi aber verschwand wie der Blitz auf Nimmerwiedersehen um die Hausecke.
Wie eine Dampfwalze brach das Unheil über Henrik herein. Der erste Schlag traf sein Nasenbein und den Oberkiefer. Er klappte wie ein Dominostein zusammen und spürte, wie ihm das Blut aus Nase und Mund quoll. Instinktiv rollte er sich zusammen und presste die Arme schützend über Kopf und Gesicht. Die Schläger traktierten ihn mit Faustschlägen und Tritten. Dabei stießen sie ein animalisches Grunzen und Keuchen aus.
Das Bombardement der Misshandlungen schien nicht enden zu wollen, doch da schrie ein Anwohner plötzlich aus einem der Fenster: »Hey, ihr besoffenen Schweine. Hört auf, Krach zu machen. Ich rufe die Polizei!«
Die drei Kerle hielten inne und schauten sich hastig um. Zwei suchten sofort das Weite. Der Anführer bückte sich mit seiner gespenstisch weißen Fratze noch einmal zu Henrik hinunter, packte ihn am Kragen der Cordjacke und flüsterte: »So geht es einem Pisser, der sich mit den Mächten der Finsternis anlegt.« Danach folgte er eilig seinen Komplizen.
Das Letzte, das Henrik registrierte, ehe er das Bewusstsein verlor, war ein Tattoo an der Innenseite des Unterarms des Gothickerls: In einem Herz, um das sich eine züngelnde Schlange wand, stand geschrieben: »For Tulsadoom in love«.
Als Henrik erwachte, verspürte er rasende Kopfschmerzen, als bearbeite der Drummer von Metallica seinen Schädel. Dann begriff er, dass er nicht mehr im Molocco hockte, sondern in einem Krankenhausbett lag. Augenblicklich setzte seine Erinnerung wieder ein. Stöhnend betastete er vorsichtig den Klumpen, der in der Vergangenheit mal Nase und Oberkiefer gewesen sein musste. Die Nase war mit einer Tamponade ausgestopft, die Oberlippe mit mehreren Stichen genäht. Mit der geschwollenen Zunge tastete Henrik in Zeitlupe den Mund aus und stellte fest, dass ein Frontzahn fehlte. Tränen der Wut und des Schmerzes schossen ihm in die Augen. Er wimmerte und wollte sich im Bett aufrichten, doch wie ein Blitz schoss der Schmerz durch seinen bandagierten Brustkorb, sodass er sich jammernd zurücksinken ließ. Mindestens eine Rippe musste gebrochen sein.
»Immer langsam, Herr Wanker. Kann ich Ihnen helfen?« Eine junge Krankenschwester beugte sich über ihn. Sie war vielleicht zwanzig Jahre alt, hatte eine blonde Kurzhaarfrisur und war ausnehmend hübsch. Ihr üppiger Busen wogte beunruhigend nahe vor Henriks geschundenem Gesicht. Routiniert griff sie nach Henriks Unterarm und tastete den Puls. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie freundlich.
»Nein, im Gegenteil«, nuschelte Henrik mühsam.
»Wie?«
»Nein, ich muss pissen!« Was allerdings klang wie: »Üsch musch püschen!«
Die Schwester verstand trotzdem, was er meinte und brachte ihm lächelnd die Urinflasche.
»Üsch glaube, Schü müschen mür helfen, Schweschter«, nuschelte er lüstern.
»Selbstverständlich, Herr Wanker«, antwortete sie. »Ich bin gleich wieder da.« Sie wandte sich um und verließ das Zimmer.
Nach kurzer Zeit kam sie in Begleitung eines ebenfalls weiß gekleideten, etwa vierzigjährigen, gut ein Meter achtzig großen und hundert Kilo schweren Mannes mit Halbglatze und dichtem, schwarzen Vollbart zurück. Mit seiner dicht behaarten Pranke ergriff er die Urinflasche.
»Das ist Oberpfleger Marco. Er wird Ihnen behilflich sein, Sie Armer«, sagte die Schwester und verschwand erneut.
»Äh … ich …«, stammelte Henrik. »Ich glaube, das kann ich doch alleine«, und nahm dem Pfleger die Flasche ab.
»Wie Sie wollen«, antwortete der Dicke gleichmütig. »Übrigens: Wenn Sie fertig sind – draußen wartet Besuch auf Sie.« Der Pfleger ließ ihn ohne ein weiteres Wort allein.
Wahrscheinlich war seine Mutter gekommen, die blöde Kuh. Als er die letzten Tropfen mit einer schüttelnden Bewegung in die Flasche drückte, dachte er bitter, dass sie ihm mit Sicherheit wieder Vorwürfe machen würde, weil er sich in Bars rumtrieb. Und dass er ihr absichtlich nur Ärger machen wollte.
Aber es war nicht die Mutter. Zwei uniformierte Polizisten betraten sein Zimmer. Sie nickten Henrik kurz zu, zogen zwei Stühle neben sein Bett und nahmen unaufgefordert Platz.
»Ich bin Polizeihauptmeister Bauer«, stellte sich der eine vor und wies dann auf seinen Kollegen: »Das ist Polizeimeister Wagner. Wir werden Ihnen einige Fragen zur letzten Nacht stellen.« Er räusperte sich, öffnete sein Notizbuch und zückte einen Stift. »Ihr Name?«
Henrik schaute ihn misstrauisch an. »Was soll das heißen: mein Name? Ihr Kollege hat doch meinen Personalausweis in der Hand.« Er zeigte auf Wagner und vermied dabei jede hastige Bewegung, die erneut zu Schmerzen hätte führen können.
Bauer räusperte sich erneut. »Die Fragen stellen wir. Ich darf Sie jetzt bitten zu kooperieren und mir zu antworten.« Seine Worte klangen unwillig, fast schon unfreundlich.
»Na gut, Marshall Dillon. Immer locker bleiben.« Henrik setzte zu einem Grinsen an, gab den Versuch aber schnell mit einem leisen Stöhnen wieder auf. »Mein Name ist Henrik Wanker, geboren am dreiundzwanzigsten November 1985, Sternzeichen Schütze, Schuhgröße dreiundvierzig. Ich liebe Französisch und Fesselspiele. Alles kann, aber nichts muss …«
Der Polizist Wagner stand langsam und bedächtig von seinem Stuhl auf und beugte sich so nah zu Henrik hinunter, dass diesem der üble Mundgeruch des Beamten entgegenschlug – Mettbrötchen mit Zwiebeln.
»So, du Spaßvogel«, flüsterte Wagner drohend, »du bist jetzt ein lieber Junge und hörst mit deinem Blödsinn auf, oder ich stopfe dir dein Pinkelfläschchen mit dem noch warmen Inhalt ins Maul.« Wortlos setzte sich Wagner wieder auf seinen Platz.
»Okay, okay …« Henrik drückte eingeschüchtert seinen Kopf so weit wie es ging ins Kissen zurück. »War nicht so gemeint. Ich gebe jetzt ordnungs- und wahrheitsgemäß meine Anzeige zu Protokoll, Special Agent Bauer. Also, es war so …« Henrik wollte zu einer folkloristischen Schilderung des Überfalls in der vergangenen Nacht ansetzen, aber er wurde von Bauer unterbrochen. »Wir wollten uns eigentlich mit Ihnen vor allem über die Anzeige gegen Sie unterhalten, Herr Wanker.«
»Hä? Was soll das denn heißen?« Henrik war fassungslos.
»Es liegt eine Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung vor. Ein Anwohner hat sich beschwert.« Ohne während des Sprechens den Blick zu heben, kritzelte der Beamte Notizen aufs Papier.
»Ruhestörung?« Henriks Empörung ließ ihn seine schmerzenden Rippen und den dröhnenden Kopf fast vergessen. »Ich wurde von drei beschissenen Zombies fast zu Tode geprügelt und ihr Staatsschergen sagt dazu Ruhestörung? Wie nennt ihr es dann, wenn jemand vor den Zug geschmissen wird? Gefährlicher Eingriff in den Schienenverkehr?«
Wagner wollte sich wieder von seinem Stuhl erheben, doch Bauer gab ihm ein Zeichen sitzen zu bleiben. »Beruhigen Sie sich bitte, Herr Wanker«, sagte er. »Wir sind sonst gezwungen, Sie aufs Revier vorzuladen. Also: Was haben Sie gestern Abend in der Molocco-Bar gemacht?«
»Kola getrunken«, antwortete Henrik.
Bauer und Wagner sahen sich an. Wagner schüttelte verächtlich den Kopf.
»Was passt Ihnen an meiner Antwort nicht?«, knurrte Henrik. »Kann ein rechtschaffener Bürger nicht nach getaner ehrlicher Arbeit ein belebendes Getränk in einem angesehenen Lokal der Stadt zu sich nehmen?«
Bauer blickte ihn emotionslos an. Seine Stimme hatte allerdings an Schärfe gewonnen, als er antwortete: »Erst einmal, Herr Wanker, ist dieses ›angesehene Lokal‹ ein Umschlagplatz für Drogen und Hehlerware. Zweitens bestehen berechtigte Zweifel daran, dass es sich bei dem ›belebenden Getränk‹ um Kola gehandelt hat. Aber in dieser Hinsicht werden uns sicher Ihre Blut- und Urinproben weiterhelfen. Drittens wurde der ›rechtschaffene Bürger Wanker‹ bereits einmal wegen unerlaubten Drogenbesitzes während einer Razzia in dem angeblich angesehenen Lokal festgenommen. Und viertens …«
Henrik fühlte sich, als könnten Bauers Blicke ihn in Asche verwandeln. Was kam jetzt? Er schluckte.
»Viertens waren Sie, nach Angaben von Zeugen, in Begleitung eines minderjährigen Jungen, in der eindeutigen Absicht, diesen zu verführen und sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen. Als Sie mit Ihrem Opfer auf dem Nachhauseweg waren und die Zeugen Sie zur Rede stellen wollten, sind Sie gewalttätig geworden, sodass sich die Zeugen in einer Notwehrsituation befanden.«
Henrik wurde plötzlich speiübel und schwindlig. Aber Kotzen hätte bei seinen gebrochenen Rippen sicher sehr weh getan. So beschränkte er sich auf ein kurzes Würgen. Ermattet und hilflos lag er in den Kissen. »Und was sagt der Junge zu all dem?«, fragte er vorsichtig.
Bauer räusperte sich verhalten. »Das ist das Problem. Er ist ja weggelaufen. Darum fragen wir Sie, Herr Wanker, wie der bedauernswerte Minderjährige heißt.«
Henrik hatte plötzlich einen Einfall. Er begann theatralisch zu stöhnen, fasste sich an den Kopf und verdrehte die Augen. »Oh, mir ist schlecht!«, keuchte er. »Wo bin ich? Es verschwimmt alles.« Durch halbgeschlossene Lider sah er Bauer an. »Bist du’s, Vater?« Wiederum fabrizierte er ein lautes, lang gezogenes Stöhnen. Und wirklich kam die junge Krankenschwester ins Zimmer geschossen.
»Was ist passiert?«, rief sie und beobachtete beunruhigt, den jammernden Patienten. »Oh Gott! Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte sie die Polizeibeamten vorwurfsvoll.
Bauer und Wagner waren aufgestanden und warfen sich ratlose Blicke zu.
Die Schwester legte ihre Hand auf Henriks Stirn, tastete wieder nach seinem Puls. Der Patient lächelte verzückt, was ihm aufgrund des fehlenden Frontzahnes ein idiotisches Aussehen verlieh. »Mutter?«, flüsterte er.
In energischem Ton wandte sich die Schwester an die Beamten. »Wie Sie sehen, meine Herren, braucht Herr Wanker absolute Ruhe. Er leidet offensichtlich an einer Amnesie. Ich bitte Sie, umgehend das Zimmer zu verlassen, sonst muss ich den Doktor rufen.« Sie machte eine eindeutige Handbewegung in Richtung Tür.
Achselzuckend setzten sich die Polizisten in Bewegung. Bevor sie die Tür erreichten, drehte Wagner sich noch einmal um und sagte: »Wir werden uns wieder bei Ihnen melden, Wanker. Da können Sie sicher sein.«