Kitabı oku: «Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945», sayfa 14

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DIE ZEIT
DER GROSSEN ENTTÄUSCHUNG (1927/28)

Während die Wirtschaft eine so nachdrückliche Sprache führte, hatte die Politik nicht stillgestanden, sie war 1927 nur in den Hintergrund getreten. In der Frage der Rheinlandräumung war kein Fortschritt erzielt worden. „In den letzten Monaten haben wir uns von der Erfüllung dieses Wunsches eher entfernt, als daß wir ihr nähergekommen wären“, hatte Stresemann am 22. März 1927 im Reichstag erklären müssen.

Dabei blieb es nicht nur 1927, sondern auch im folgenden Jahre. Routinemäßig folgten die Sitzungen des Völkerbundrates aufeinander. Viermal im Jahre, im März, Juni, September und Dezember, saß ich je eine Woche lang Tag für Tag vormittags und nachmittags auf meinem Stühlchen hinter Stresemann oder seinem Vertreter am Ratstisch und beobachtete den politischen Leerlauf.

Auf der Märztagung führte Stresemann den Vorsitz, und ich übersetzte ins Englische, weil er es für angebrachter hielt. Im Juni erkrankte Briand während der Tagung und mußte schleunigst nach Paris zurückreisen. Das war eine große Enttäuschung für Stresemann, der immer ungeduldiger darauf wartete, daß die Pläne von Thoiry nun endlich verwirklicht, daß das Rheinland frei und damit die deutsche Souveränität über das gesamte Reichsgebiet wiederhergestellt würde.

Häufig noch trafen sich die beiden Staatsmänner in Genf während der Ratstagungen in persönlichem Zwiegespräch, bei dem ich nun in immer steigendem Maße als einziger Dolmetscher zugegen war. Der Ton dieser Unterhaltungen blieb unverändert, eine etwas väterlich besänftigende Freundlichkeit auf seiten Briands gegenüber den immer ungeduldiger vorgebrachten Wünschen Stresemanns. Immer offener mußte Briand zugeben, daß die Stimmung in Frankreich für die in Thoiry vorgesehene Lösung ungünstiger geworden war. Das Mißtrauen gegen Deutschland war nicht geschwunden, während die noch in Thoiry so dringende Notwendigkeit, mit deutscher Hilfe, d. h. durch Mobilisierung der Eisenbahnobligationen, den französischen Haushalt auszugleichen und den Franc zu stabilisieren, nicht mehr bestand. Poincaré, der inzwischen wieder Ministerpräsident geworden war, hatte die Franc-Stabilisierung aus eigener Kraft durchgeführt. Um so mehr war dadurch sein Prestige in Frankreich gegenüber dem Briands gestiegen. Briand war zwar sein Außenminister, aber er war durch diese Vorgänge mitsamt seiner Befriedungspolitik in die Defensive gedrängt.

„Wir müssen mit der praktischen Durchführung der Politik von Thoiry noch warten“, erklang es mit einem leicht verlegenen Lächeln aus dem Munde Briands immer wieder, wenn er Stresemann sein Herz über die Schwierigkeiten, die er im eigenen Lande zu überwinden hatte, ausschüttete. Ein Bedauern lag dabei in seinen Augen, denen man ansah, wie leid es ihm tat, daß die Linie von Locarno und Thoiry zeitweilig verlassen werden mußte.

Stresemann brauste von Zeit zu Zeit in diesen Privatgesprächen Briand gegenüber auf. „Warten, warten“, hörte ich ihn in diesen beiden Jahren oft ausrufen, „das sagen Sie mir immer wieder von neuem, Herr Briand.“ Und dann folgte meistens eine sehr eindringliche Darstellung der Verhältnisse in Deutschland, die in eine immer nachdrücklichere, gegen Ende dieser beiden Jahre fast beschwörende Warnung ausklang: „Es gibt auch ein Warten, das zu lange dauert. Das deutsche Volk wartet schon so lange mit steigender Ungeduld auf das Ende der Besatzungszeit, daß wir uns um die moralischen Früchte einer solchen Geste Frankreichs bringen, wenn sie noch länger ausbleibt.“ Es waren prophetische Worte, deren Richtigkeit sich schon zwei Jahre später herausstellen sollte.

Briand antwortete auf solche Temperamentsausbrüche des von Gespräch zu Gespräch und von Ratstagung zu Ratstagung immer ungeduldiger werdenden Stresemann stets nur mit einem resignierten Lächeln. „Sie haben mir von Ihren Schwierigkeiten erzählt, lieber Doktor, aber glauben Sie mir, mir geht es zu Hause auch nicht anders“, und dann zählte er mit dem überlegenen Sarkasmus, der ihm eigen war, all die Hindernisse auf, die ihm die französische Rechtsopposition in den Weg legte. Dabei machte seine Kritik auch keineswegs vor seinem Ministerpräsidenten halt. „Poincaré kennt alles und weiß nichts, Briand kennt nichts, weiß aber alles“, sage man im französischen Parlament.

Bei diesen Gelegenheiten erfuhren wir auch allerhand interessante Einzelheiten über die Arbeitsweise des französischen Ministerpräsidenten. Er war ein Aktenmensch, der jede Frage bis in die kleinsten Kleinigkeiten hinein genau studierte, ehe er sich festlegte. Seine oft zwei- und dreistündigen Kammerreden schrieb er vorher eigenhändig auf. In der Kammer konnte er sie dann auswendig, ohne einen einzigen Blick auf das Manuskript werfen zu müssen. Er blätterte, ohne hinzusehen, die Seiten richtig um, so genau hatte er optisch alles im Gedächtnis. „In den Kammerdebatten hat Poincaré stets einen großen Berg Akten vor sich liegen“, erklärte uns Briand, „ich lege dann meistens nur meine Visitenkarte auf den Tisch und fange an zu reden.“ Schlagender könnte der Unterschied zwischen den beiden Männern nicht charakterisiert werden. Gleichzeitig aber enthüllte der Gegensatz zwischen dem Aktenberg Poincarés und der einfachen Visitenkarte Briands die Schwierigkeiten, vor denen sich der französische Außenminister damals befand. „Warten, warten“, das schien tatsächlich die einzige Möglichkeit zu sein.

Dies galt auch für die laufenden Fragen, die sich auf den Tagesordnungen der Ratssitzungen befanden: Danzig, Saargebiet, Oberschlesien, Memel, Minderheiten und Abrüstung. Wenn auch diese Probleme für Deutschland nicht so wichtig waren wie die Rheinlandräumung, so war ihre Verschleppung doch insofern für die Stresemannsche Außenpolitik eine schwere Belastung, als Mißerfolge in öffentlicher Ratsdebatte von der Oppositionspresse ziemlich ausgeschlachtet wurden. „Die Schienen bogen sich vor Lachen, als die deutsche Delegation aus Genf abreiste“, schrieb einmal eine Rechtszeitung am Schlüsse einer solchen „Tagung der Vertagungen“ im Juni 1927. „Der Völkerbund greift nichts auf, das er nicht sofort wieder vertagt“, spottete ein witziger Engländer.

Einige Abwechslung brachte im Dezember 1927 der polnischlitauische Konflikt in die sonst monotone Ratsdebatte. Beide Länder beschuldigten sich gegenseitig, den Frieden zu gefährden, beide drohten mit Mobilisierung oder hatten schon mobilisiert. In jedem Augenblick konnte es zu einem Zwischenfall kommen, der möglicherweise einen Krieg heraufbeschwören und auch die Großmächte Rußland und Frankreich in den Konflikt verwickeln konnte. Dabei wäre natürlich auch Deutschland als unmittelbarer Nachbar der Streitenden in Mitleidenschaft gezogen worden.

Marschall Pilsudski war persönlich nach Genf zur Ratstagung gekommen. Seinen Gegenspieler, den litauischen Ministerpräsidenten Woldemaras, hatte er vor seiner Reise in einer amtlichen Presseverlautbarung noch als „geisteskrank und unzurechnungsfähig“ erklärt. Woldemaras revanchierte sich später in der Ratsdebatte, indem er die Polen als „Lügner und Heuchler“ bezeichnete. Eine derartige Sprache war für den Völkerbund, der die „hemdärmeligen“ Debatten von heute zwischen Russen und Amerikanern in den Vereinten Nationen noch nicht gewohnt war, einigermaßen sensationell. Daß im Osten ein etwas gröberer Ton herrschte, erfuhren wir Jüngeren der deutschen Delegation in sehr eindrucksvoller Weise bei den Vorbesprechungen, die ein Mitglied der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes von Zeit zu Zeit in Genf mit Woldemaras führte.

„Die Memelländer wühlen gegen die litauische Regierung“, erklärte in einer dieser Unterredungen der kleine, untersetzte Diktator Litauens dem deutschen Legationsrat. „Dahinter steckt Ihre Regierung. Dafür habe ich Dokumente als Beweis“, fügte er knurrend hinzu. „Wenn die Dokumente nicht gefälscht wären, dann hätten Sie sie längst vorgelegt, Herr Woldemaras“, entgegnete der Legationsrat dem Ministerpräsidenten. Solche handfesten Grobheiten waren bei den Gesprächen an der Tagesordnung. Und um sich dieses seltsame Schauspiel mitanzusehen, durfte abwechselnd immer einer von uns Jüngeren den Legationsrat zu Woldemaras begleiten.

Nun saßen Woldemaras und Pilsudski, der „Irre“ und der „Heuchler“, sich am 10. Dezember plötzlich in einer geheimen Ratssitzung des Völkerbundes in Genf gegenüber. Da man von vornherein Zwischenfälle befürchtete, waren außer den Hauptdelegierten, den Dolmetschern und dem Generalsekretär des Völkerbundes keine der sonst ebenfalls anwesenden Sekretäre und Sachverständigen zugelassen worden. Die Befürchtungen waren gerechtfertigt.

Als Woldemaras wieder eine seiner professoralen Reden beginnen wollte, die fast jedesmal „mit der Erschaffung der Welt und den ersten Litauern im Paradies“, wie Chamberlain einmal bemerkte, anfingen und sich vor dem allmählich sanft einschlummernden Rat meist über zwei Stunden hinzogen, wurde er schon nach den ersten Sätzen von Pilsudski unterbrochen.

Der kleine polnische Marschall mit dem riesigen Kopf, der wirren Mähne und den buschigen Augenbrauen, unter denen aus einem gelblich bleichen Gesicht ein stechendes Augenpaar auf Woldemaras gerichtet war, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Wasserkaraffe klirrte, und schrie den Litauer an: „Ich habe die lange Reise von Warschau nach Genf nicht unternommen, Herr Woldemaras, um Ihre langen Reden anzuhören.“

„Mais voyons, Monsieur le Maréchal”, fuhr Briand als Vorsitzender besänftigend dazwischen, nachdem er bei dem Faustschlag Pilsudskis zunächst genau so erschreckt aufgefahren war wie die übrigen Ratsmitglieder, die sich, als Woldemaras zu reden begann, in Erinnerung an seine früheren Darbietungen schon innerlich auf ein Schlummerstündchen vorbereitet hatten. „Auf diese Weise können wir im Rat nicht verhandeln“, ermahnte Briand den polnischen Marschall. Dieser aber ließ sich nicht so leicht beruhigen, wenn er auch seinen Ton um einige Grade mäßigte. „Halten Sie mir keine lange Rede, Herr Woldemaras“, wandte er sich wieder an den Litauer, „ich will nur von Ihnen hören, ob Sie Krieg oder Frieden wollen.“

Mit östlicher Hartnäckigkeit fing nun Woldemaras doch wieder eine Rede über „das Paradies und die ersten Litauer“ an, ließ allerdings dabei in einem Nebensatz verlauten, er habe ja schon immer gesagt, daß er keinen Krieg mit Polen wolle.

„Also wollen Sie Frieden“, schrie nun Pilsudski wieder in voller Lautstärke über den Tisch, während Briand beschwörend und beruhigend beide Hände hob, gleichzeitig aber belustigt mit den Augen zwinkerte.

„Das genügt mir“, sagte der Marschall kurz und militärisch, „ich habe gehört, daß Sie Frieden wollen, die Reise nach Genf hat sich gelohnt. Ich werde jetzt in allen Kirchen Polens ein Tedeum halten lassen.“ Dann wandte er sich zu Briand: „Alles übrige sind,des bêtises‘, Dummheiten, damit kann sich mein Außenminister befassen“, erhob sich und verließ mit dem wuchtigen Schritt eines alten Reitergenerals den Raum. Sein Außenminister, Zaleski, dessen rundes Gesicht unter dem semmelblonden Haar sonst auch bei den wildesten Angriffen von Woldemaras gleichgültig verschlafen geblieben war, errötete diesmal bis unter die Haarwurzeln, teils wegen der bêtises, für die er soeben eine peinlich wirkende Zuständigkeit erhalten hatte, teils wegen des wenig kommentmäßigen Auftretens seines Nationalhelden.

Ein Soldat hatte zu den Politikern gesprochen oder vielmehr geschrien. Sie waren verblüfft und erheitert, und Briand schloß schmunzelnd die Sitzung.

Auch bei dem nachfolgenden Frühstück der Ratsmitglieder wirkte Pilsudski wie ein Hecht im Karpfenteich. Nach Aufhebung der Tafel setzte er sich beim Kaffee neben Stresemann. „Wunderbar waren die deutschen Truppen“, sagte er auf deutsch so laut, daß es im ganzen Raum schallte, und schlug dabei Stresemann freundschaftlich derb auf das Knie. Dann begann er ein längeres Gespräch über seine Gefangenschaft in Magdeburg, seine Erfahrungen in Deutschland und, immer wieder, über seine Bewunderung für die deutschen Truppen. Stresemann rückte, innerlich wohl auch belustigt, etwas unruhig hin und her und versuchte, dem Gespräch eine andere, diplomatischere Wendung zu geben, was ihm dann schließlich auch gelang. Zu einer Salzsäule, oder vielmehr einem Eisblock, war Chamberlain erstarrt, der an der anderen Seite des Salons alles genau mit anhören konnte, da er ja gut Deutsch verstand. Ein solches Thema war ihm höchst zuwider, denn von deutschen Truppen wollte er nichts hören. Briand winkte mir zu. „Was reden denn die beiden miteinander?“ fragte er gespannt, und als ich es ihm übersetzte, platzte er lachend heraus: „Jetzt verstehe ich, warum Chamberlain so bekümmert durch sein Monokel vor sich hinsieht.“ Briand hatte Sinn für Humor und sagte später einmal bei Erörterung einer deutsch-polnischen Streitigkeit vor dem Rat zu Stresemann: „Tragen Sie den Fall doch Herrn Pilsudski vor, mit dem verstehen Sie sich ja so gut.“

Ebenso leer und lustlos wie die Ratstagungen war auch die Vollversammlung 1927 im September gewesen. Der Reformationssaal bot dasselbe Bild des gespannten Interesses wie im Vorjahre, aber es fehlte der Schwung. Am 9. September ergriff Stresemann als Erster das Wort. Weltwirtschaftskonferenz und deutsch-französischer Handelsvertrag wurden von ihm gebührend gewürdigt. Der Krieg, der „weder Wegbereiter zu einer besseren Zukunft noch überhaupt der Regulator der Entwicklung“ sein könne, Abrüstung und Locarno waren die Hauptthemen. Außerdem kündigte er die Unterzeichnung der sogenannten Fakultativklausel des Statuts für den vom Völkerbund errichteten Ständigen Internationalen Gerichtshof an, wodurch sich das Reich bereit erklärte, sämtliche Streitigkeiten rechtlicher Art mit anderen Staaten diesem Internationalen Gericht zu unterbreiten.

Einen Tag später folgte Briand. Sein Hauptthema war der Friede. Er behandelte es mit allen Mitteln seiner meisterhaften Redetechnik in verschiedenen Variationen und erntete dafür den entsprechenden Beifall. Wenn man sich aber beim Verlassen des Reformationssaales fragte, was er eigentlich an konkreten Dingen gesagt hatte, so blieb kaum etwas übrig. Es war ein wunderschönes, kunstvolles Feuerwerk.

Um diese Zeit wurde Briands Rolle in der europäischen Politik auf einer Genfer Revuebühne in recht treffender Weise dargestellt. Es handelte sich um das „Haus Europa“, in dessen verschiedenen Stockwerken die Völker Europas wohnten. Beim Aufgehen des Vorhanges sah man, wie sich alle, Italiener, Deutsche, Engländer, Polen, Franzosen, weit aus den Fenstern gebeugt und wild mit den Händen fuchtelnd, laut miteinander stritten. Dann setzte unerwartet ein Cello ein, und sofort hörte der Streit der Hausbewohner von Europa auf. Sie lauschten verzückt den Tönen, die ihnen aus dem Erdgeschoß entgegenklangen. Leise ging das Fenster des Zimmers auf, aus dem die Töne herkamen, und man sah den alten Briand im Hintergrund mit dem Cello sitzen. Dann hörte er auf zu spielen. Das Fenster wurde geschlossen, und sofort ging der Krach im Hause Europa in voller Stärke wieder an. Ich könnte mir kein besseres Bild von der Lage auf der damaligen Völkerbundsversammlung denken.

Das Gefühl der Enttäuschung bei Stresemann und in der deutschen Öffentlichkeit vertiefte sich im Laufe des Jahres 1928. Die in Thoiry anscheinend so greifbar nahe Befreiung des Rheinlandes von der fremden Besatzung und die endgültige Befriedung zwischen Frankreich und Deutschland schienen sich immer mehr in nebelhafter Ferne zu verlieren. Bei der Ratstagung im März hatte es fast den Anschein, als weiche Briand einem Gespräch mit Stresemann aus. Sie trafen sich natürlich, aber in dem kleinen Salon Briands im Hotel des Bergues herrschte eine trübe Stimmung, als sich die beiden am Teetisch gegenübersaßen. Auf die immer vorwurfsvoller werdenden Fragen Stresemanns, wann denn nun endlich die Erörterung über die Einzelheiten der Rheinlandräumung beginnen könne, antwortete jetzt Briand mit dem Gegenvorwurf, daß man ja von deutscher Seite auch noch keine konkreten Vorschläge über die finanzielle Regelung gemacht habe.

In der Finanzfrage hatte es insofern Schwierigkeiten gegeben, als zur Mobilisierung der Eisenbahnobligationen der amerikanische Kapitalmarkt herangezogen werden mußte, die Amerikaner aber nicht bereit waren, indirekt Frankreich zu Geld zu verhelfen, solange es nicht zu einer Liquidierung der aus dem Kriege hervorgegangenen französischen Schulden an Amerika gekommen war. Auf deutscher Seite war wohl ein Ersatzplan ausgearbeitet worden, aber Stresemann hatte vergeblich die Aufforderung Briands erwartet, nunmehr mit den Diskussionen zu beginnen, in deren Verlauf dann dieser Plan vorgelegt worden wäre. So empfand er denn den Vorwurf Briands als ungerechtfertigt und kehrte recht verärgert von dieser Besprechung zurück. In seinem Herzen begannen sich Zweifel an der Aufrichtigkeit Briands zu regen. „Ich habe auf Briand gesetzt“, sagte er auf dem Nachhausewege, „und ich glaube auch jetzt noch nicht, daß ich mich in ihm getäuscht habe. Ich kann seine Schwierigkeiten nur allzu gut verstehen.“ Aus diesen Worten klang deutlich der Kampf gegen das Mißtrauen heraus, den Stresemann in seinem Innern führte. „Ich kann mich nicht getäuscht haben“, hatte er bei einer anderen Gelegenheit einmal einem französischen Journalisten gesagt. Sein Glaube an den Briand von Locarno, an den Mann, der beim Eintritt Deutschlands in den Völkerbund so beredt in aller Öffentlichkeit für die deutsch-französische Verständigung eingetreten war, hatte offensichtlich die Oberhand behalten.

„Hoffentlich kommt nicht alles zu spät“, sagte Stresemann an jenem Märzabend gedankenvoll zu mir, als wir über die Montblanc-Brücke zu Fuß in unser Hotel zurückgingen. Auch bei dieser Besprechung hatte er Briand erneut gewarnt, nicht zu lange mit der Räumung des Rheinlandes zu warten. „Sie können sich nicht vorstellen, mit welcher Ungeduld man in Deutschland die Stunde herbeisehnt, wo wir wieder Herr im eigenen Hause sein können.“ Und wieder hatte er mit der fast schon stereotypen Beschwörung geendet: „Allzu langes Warten wird Frankreich beim deutschen Volk um den ganzen moralischen Gewinn aus der Geste der vorzeitigen Räumung bringen.“

Als Stresemann auf dem Rückweg von einem „Zu spät“ sprach, dachte ich natürlich zunächst an diese Warnung. Aber man konnte die Worte auch anders deuten. Der deutsche Außenminister war damals schon ein schwerkranker Mann. Zu den letzten Reisen war deshalb schon immer ein Arzt mit nach Genf gekommen. Mir war aufgefallen, wie ermüdet Stresemann meistens aus den Besprechungen zurückkam, wenn man ihm auch während der Verhandlung nichts anmerkte. So konnte man dieses Zuspät auch auf ihn persönlich beziehen. Vielleicht wußte er, in welcher Gefahr sein Leben stand. Vielleicht hatte er damals schon eine Ahnung von dem Tode, der ihn knapp anderthalb Jahre später ereilte.

In den folgenden Monaten verschlimmerte sich sein Gesundheitszustand derartig, daß er an der Juni-Tagung nicht persönlich teilnehmen konnte. Auch Briand blieb Genf aus Gesundheitsrücksichten fern. Das deutsch-französische Gespräch schien endgültig abgebrochen zu sein.

Es war die 50. Tagung des Völkerbundsrates, auf der Deutschland durch Staatssekretär von Schubert vertreten wurde. Wieder war Vertagung das Hauptkennzeichen, besonders bei den Deutschland interessierenden Punkten. Auch der Völkerbund schien sich auf einen Tiefpunkt zuzubewegen.

Ein Kabinettstück an diplomatischer Redekunst vollführten bei dieser Jubiläumssitzung der ungarische und der rumänische Vertreter in der sogenannten „Optantenfrage“. Auf der einen Seite der über 80jährige Graf Apponyi, vom Scheitel bis zur Sohle ein Grandseigneur des vergangenen Jahrhunderts, trotz seines Alters noch kaum gebeugt, mit weißem Haarschopf und kampflustig vorgestrecktem Spitzbart, einer markanten Adlernase und munter auf die Ratsmitglieder gerichteten Augen, die ungarische These in glänzendem Französisch mit bewunderungswürdiger Dialektik in stundenlanger Debatte verteidigend. Auf der anderen Seite der rumänische Außenminister, Titulescu, der vollendetste Typ des geschickten Balkandiplomaten, mit stark mongolisch wirkenden Gesichtszügen, dichtem, dunklem Haar und einer etwas zu hohen Knabenstimme, der meistens in einem eleganten Pelzmantel am Ratstisch saß, weil er immer fror. Er war seinem Gegner durchaus ebenbürtig, wenn auch seine Taktik grundverschieden von der des ungarischen Aristokraten war. Der hervorragende Parlamentsredner alten Stils kämpfte hier gegen den mit allen advokatorischen Kniffen meisterhaft operierenden Rumänen des 20. Jahrhunderts. Es war ein faszinierendes Schauspiel für alle Zuhörer. Mit angehaltenem Atem saß man dabei. Die Stunden vergingen wie im Fluge, und man war gespannt bis zur letzten Minute wie bei einem großen Sportereignis. „Großer Tag in Genf“, konnten die Zeitungen wieder einmal schreiben, aber die Größe lag ausschließlich in der oratorischen Artistik, denn politisch geschah auch in diesem Falle nichts. Es ging dabei vor allem um die wirtschaftlichen Rechte der Rumänen ungarischer Volkszugehörigkeit, die nach der Abtretung Siebenbürgens an Rumänien für Ungarn optiert hatten. „Vertagung“, sagte der Ratspräsident, der Vertreter Kubas, am Schluß der Debatte.

„Vertagung“, hieß es auch in bezug auf das deutsch-französische Gespräch bei der nächsten Gelegenheit, die Stresemann trotz seiner schweren Krankheit wahrnahm, um sich mit den Franzosen auseinanderzusetzen. Diesmal begab er sich direkt in die Höhle des Löwen. Er reiste nach Paris und sprach mit Poincaré.

Der äußere Anlaß dazu war die feierliche Unterzeichnung des sogenannten Kellogg-Paktes, durch den „der Krieg als Instrument nationaler Politik geächtet“ wurde. Von einer Anregung Briands an die Amerikaner zu einem zweiseitigen Abkommen ausgehend, hatte der amerikanische Staatssekretär Kellogg einen Pakt vorgeschlagen, in dessen Artikel I „die hohen vertragschließenden Parteien feierlich im Namen ihrer Völker erklären, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten“.

So fuhr ich denn am Abend des 25. August mit Stresemann im Nordexpreß nach Paris. Der alte Salonwagen des Großherzogs von Baden, der ihm von der Reichsbahn für größere Reisen zur Verfügung gestellt wurde, war an den damals noch von Warschau bis Paris durchgehenden internationalen Zug angehängt worden. Stresemann machte die Reise als Schwerkranker. Sein Arzt, Professor Zondek, und eine Schwester waren ständig um ihn bemüht, und er verließ während der ganzen Fahrt das Bett lediglich, um einmal in den Speisewagen zu gehen. Seine Familie und seine Ärzte hatten ihm dringend von der Reise abgeraten. Erst einige Wochen vorher hatte er einen leichten Schlaganfall erlitten, über den im Auswärtigen Amt allerlei Gerüchte umliefen. Danach sollte Stresemann zwei Tage lang unfähig gewesen sein, zu sprechen. Es lag ihm aber so viel daran, seine außenpolitischen Pläne nun endlich voranzubringen, daß er alle Rücksichten und Warnungen beiseite schob und sich buchstäblich unter Einsatz seines Lebens auf die Reise begab.

Schweren und unsicheren Schrittes ging er am Pariser Nordbahnhof vor mir her, als sich unsere kleine Delegation durch die Absperrungen zum Wagen begab. Für Paris war Stresemann eine Sensation ersten Ranges. Das erstemal seit 1871 betrat ein deutscher Außenminister die französische Hauptstadt. Eine ganze Batterie von Pressephotographen und Kinooperateuren versperrte uns den Weg zum Bahnhofsplatz und zwang uns, zwei Minuten das Feuer der Blitzlichter und das Surren der Filmapparate über uns ergehen zu lassen. Erst dann wurde der Weg freigegeben. Draußen ertönte ein nicht gerade überzeugender Beifall, der mit einigen schrillen Pfiffen untermischt war. Schnell fuhren unsere Autos zur Botschaft ab, und man sah förmlich, wie dem französischen Protokollchef und dem deutschen Botschafter ein Stein vom Herzen fiel, daß es keine Zwischenfälle gegeben hatte. In der Botschaft, in der Stresemann wohnte, zog er sich sofort auf sein Zimmer zurück. Sein Arzt hatte ihm die Reise nur unter der Bedingung gestattet, daß er sich völlige Schonung auferlegte.

Am nächsten Vormittag kam dann die große Gelegenheit, derentwillen Stresemann diese gefährliche Reise unternommen hatte: die Aussprache mit Poincaré. Kurz vor 11 Uhr fuhr ich mit Stresemann allein ins Finanzministerium in der Rue de Rivoli. In einem zweiten Wagen folgte Professor Zondek, der darauf bestanden hatte, daß die Unterredung nicht länger als eine Stunde dauern dürfe. Schwer atmend ging Stresemann die wenigen Stufen der Freitreppe zum Finanzministerium hinauf. Oben empfing uns der Dolmetscher Poincarés, Professor Edmond Vermeil, der Germanist der Straßburger Universität, und geleitete uns in das Arbeitszimmer des französischen Ministerpräsidenten.

Die Tür sprang auf. Wir traten in ein verhältnismäßig kleines, schmales Zimmer. Vom Schreibtisch erhob sich Poincaré, ein mittelgroßer, fast zierlich gebauter Mann in vorgerückten Jahren, in seinen Bewegungen elastisch, mit einem leicht angegrauten Spitzbart und scharfen, fast durchdringenden Augen in einem klaren, energischen Gesicht. Er reichte Stresemann und mir mit einem freundlichen Lächeln, das mich von diesem ausgesprochenen Gegner Deutschlands irgendwie überraschte, die Hand zur Begrüßung, nachdem er uns bis in die Mitte des Raumes entgegengekommen war.

Den Bruchteil einer Sekunde maßen sich die beiden Staatsmänner mit den Blicken, der Franzose, der Stresemann 1923 zur bedingungslosen Kapitulation im Ruhrkampf gezwungen hatte, und der Deutsche, der, gestützt auf die öffentliche Meinung der angelsächsischen Welt und auf den passiven Widerstand der deutschen Bevölkerung, diesen Sieg wieder aufgehoben hatte. Einer blickte den andern abschätzend an, ehe sie sich am Konferenztisch niederließen.

Eine außerordentliche Spannung schien über dem Raum zu liegen, als nun der eine dieser beiden prominenten und zugleich typischen Vertreter ihrer Völker zu sprechen begann. Mit der leicht brüchigen, etwas monotonen Stimme eines alten Mannes eröffnete Poincaré die Unterhaltung mit einigen persönlichen Fragen nach Stresemanns Befinden und seinen Reiseeindrücken. Eine seltsame Kühle ging dabei von ihm aus, die auf mich an diesem heißen Augusttage fast körperlich wirkte. Es klang alles sehr formell und distanziert.

Mit einer etwas abgezirkelten Handbewegung forderte er dann Stresemann auf, sich über das zu äußern, „was er politisch auf dem Herzen habe“. Stresemann steuerte geradewegs aufsein Ziel zu: die Rheinlandräumung. Als geschickter Diplomat fiel er natürlich nicht mit der Tür ins Haus, aber ich merkte auf Grund meiner Erfahrung mit ihm sofort, daß er die Erörterung dieses Themas im Auge hatte, als er begann: „Mir liegt vor allen Dingen das deutsch-französische Verhältnis am Herzen. Ich will von mir aus alles tun, daß unsere beiden Völker zu einem wirklich gutnachbarlichen Verhältnis gelangen, und ich weiß, daß die große Mehrheit des deutschen Volkes den gleichen Wunsch hat.“

„Daß Sie, Herr Minister, diesen Wunsch haben, glaube ich gern“, warf Poincaré ein, „aber sind alle Leute in Deutschland dieser Ansicht? Gibt es nicht an den deutschen Universitäten Professoren, die gegen Frankreich sprechen? Haben nicht erst kürzlich Demonstrationen gegen Frankreich in Ihrem Lande stattgefunden?“

Durch solche Zwischenbemerkungen unterbrach Poincaré von Zeit zu Zeit die Ausführungen Stresemanns. Ich hatte den Eindruck, daß es meist in einem Augenblick geschah, wo Stresemann der Kernfrage, d. h. der Räumung des besetzten Gebietes, näherzukommen schien. Offenbar hatte auch Poincaré die Absicht Stresemanns erraten und wollte einer Diskussion der ganzen Angelegenheit aus dem Wege gehen.

Er warf Elsaß-Lothringen in die Debatte und beschwerte sich über eine gewisse deutsche Propaganda in dieser Frage, jedoch ohne Schärfe. In einem anderen Zusammenhang kam er auch auf den Anschluß Österreichs an Deutschland zu sprechen. „Ein solcher Schritt würde die ganze Friedenspolitik kompromittieren“, erklärte Poincaré dazu.

„Wir wissen in Deutschland genau, daß der Anschluß im Augenblick nur eine Geste sein könnte. Er wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die deutsche Regierung betrachtet daher diese Frage als nicht aktuell“, erwiderte Stresemann sofort. „Aber die Liebe des deutschen Volkes zu Österreich kann niemand beseitigen oder verbieten. Sie ist ein Stück unseres Lebens“, fügte er mit temperamentvoller Unterstreichung dieser Sätze hinzu. Poincaré insistierte nicht. Er dachte wohl schon an die nächste Frage, die er Stresemann vorlegen wollte.

Immer wieder durch Poincarés Fragen von dem eigentlichen, ihm am Herzen liegenden Thema abgedrängt, versuchte es Stresemann auf einem anderen Wege. Er kannte die Spannung, die sich zwischen Poincaré und Amerika in der Frage der französischen Schulden entwickelt hatte. „Wir müssen in Europa zunächst einmal unsere Finanzen regeln, denn in diesem Punkt hängen alle Länder von den Amerikanern ab“, warf Stresemann leichthin in die Debatte. Ein eifriges Nicken Poincarés ließ ihn sogleich fortfahren: „Vorbedingung dazu ist eine vernünftige Regelung der Reparationsfrage.“ Wieder nickte Poincaré. Als Stresemann etwas innehielt, um nun auf dem Wege über die Reparationen auch die Rheinlandfrage anzuschneiden, kam ihm Poincaré zuvor. „Warum hat uns Deutschland in der Reparationsfrage immer noch nicht die angekündigten Vorschläge gemacht?“, fragte er, fast als handele es sich um einen Nebenpunkt.

Aber für Stresemann war es der alte Vorwurf, den Briand schon bei seinen letzten Unterhaltungen erhoben hatte. Er setzte sich energisch zur Wehr und klärte Poincaré darüber auf, daß das Versäumnis auf seiten Frankreichs liege, das nach Thoiry von der Fortführung der damals in Aussicht genommenen Politik nichts mehr habe wissen wollen. Damit war aber nun endgültig das Rheinlandthema beiseite geschoben, denn Poincaré konnte sich jetzt auf se ne Unkenntnis der Sachlage zurückziehen und betonte im übrigen mehrfach, daß man zunächst die deutschen Vorschläge in der Reparationsfrage abwarten müsse, ehe man weitere Schritte auf politischem Gebiet in Aussicht nehmen könne.

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