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Die Türkei – zurück zur einzelnen Gemeinschaft

Ein naheliegendes Beispiel ist die moderne Türkei, die als Republik im Jahre 1923 gegründet wurde. Das Gebiet der heutigen Türkei war vor einem Jahrtausend ein rein christlicher Siedlungsraum. Die Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453 besiegelte das Ende des Byzantinischen Reiches und war der Beginn der Islamisierung der fortan von den Türken beherrschten Regionen. Das Osmanische Reich räumte allerdings selbst in seiner Endzeit im 19. Jahrhundert den christlichen Minderheiten immer noch weitere Rechte und Möglichkeiten der Religionsausübung ein als der moderne türkische Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert lebten auf dem Gebiet der heutigen Türkei mehr als zwei Millionen Christen. Doch schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich religiöse islamistische und nationalistische Bestrebungen, die gesellschaftliche Vielfalt im Sinne einer rein islamistisch-sunnitischen Gemeinschaft umzuformen.

Eine Kette von umfangreichen Mord- und Vertreibungsaktionen setzte in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Im Jahre 1843 wurden durch den kurdischen Stammesführer Bedirxan Beg bei Massakern mindestens 10000 Armenier und Bergnestorianer in Aşita (Hoşut) im Sandschak Hakkâri ermordet. Frauen und Kinder wurden z. T. in die Sklaverei verkauft. Das mal mehr, mal weniger ausgesprochene Ziel der Völkermorde, Vertreibungen und auf sonstige Weise verwirklichten «Säuberungen» war es, ein Territorium unter die Kontrolle oder Herrschaft allein einer Ethnie oder einer religiösen Wertegemeinschaft zu zwingen und somit das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Ziel war es, ebenso wie im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aus der Vielfalt einer Gesellschaft in die Einfalt der einen Weltanschauung, des einen Glaubens, der einen Ethnie zurückzukehren.

Die islamistisch-nationalistischen Säuberungsaktionen zählen zu den im Rückblick schrecklichsten und im Sinne ihrer Anstifter «erfolgreichsten» jener etwa einhundert Jahre. Bereits zwischen 1894 und 1896 wurden armenische Christen in größerem Ausmaß ermordet. Die Schätzungen gehen naturgemäß weit auseinander, aber die Zahlen von mindestens 80000 bis 300000 Getöteten sprechen für sich. Als sich die Pogrome über die Armenier hinaus auf Christen insgesamt ausweiteten, fielen auch die Assyrer den Aktionen zum Opfer; die Schätzungen belaufen sich auf bis zu 25000 Opfer. Im Jahre 1909 dienten wiederum armenische Christen als Zielscheiben der islamistischen Mord-Aktionen mit geschätzten 30000 Opfern.

Die Kolonialtruppen des kaiserlichen Deutschlands eröffneten in den Jahren 1904/1905 die Reihe der Völkermorde des 20. Jahrhunderts mit der Vernichtung von etwa 80000 Angehörigen des Herero-Volkes und 10000 Angehörigen des Volks der Nama. Anschließend fand die unter der Bezeichnung «Völkermord an den Armeniern» bekannte umfangreichste «Säuberungsaktion» auf dem Gebiet der heutigen Türkei zwischen 1915 und 1917 statt, als mindestens 300000 bis möglicherweise 1,5 Millionen armenische Christen ermordet und vertrieben wurden; der Rest schrumpfte auf kaum 100000 Überlebende zusammen.1 Ein ähnliches Schicksal wurde den Aramäern und Pontosgriechen zuteil.

Das Ausmaß des im Namen Deutschlands von den Nationalsozialisten und ihren Helfern weit über die Grenzen Deutschlands hinaus verursachten Holocausts mag im allergrößten Teil der deutschen Bevölkerung für viele Jahre und Jahrzehnte die Sehnsucht nach dem «reinen Volkskörper» erstickt haben. Da die Schuld an jener Katastrophe einzig bei deutschen Politikern, Teilen der kulturellen Elite Deutschlands und den ihnen ergebenen Bevölkerungsmassen liegt, sahen sich andere europäische und mehr noch nicht-europäische Staaten nicht veranlasst, ähnlich tiefgreifend umzudenken. Ethnische und religiös motivierte Morde und Vertreibungen hat es seitdem an vielen Orten gegeben. Sie sind heutzutage in aller Bewusstsein.

Die Türkei bildet hier keine Ausnahme. Noch 1955 sahen sich Tausende von Griechen nach einem Pogrom mit 30 Todesopfern in Istanbul gezwungen, das Land zu verlassen. In der Nacht vom 6. zum 7. September 1955 erreichte die anti-griechische Stimmung ihren Höhepunkt. Vergleiche zur Reichspogromnacht in Deutschland im Jahre 1938 drängen sich auf. Nachdem in sorgfältiger Vorbereitung alle türkischen Geschäfte als solche markiert waren, konnte sich der Mob in einer im Nachhinein als türkische «Kristallnacht» bekannten Gewaltorgie an den Geschäften, Kirchen, Friedhöfen und Schulen der Griechen austoben – angestachelt durch eine Kampagne der Regierung, die den Griechen die Schuld an der angeblichen Schändung des Geburtshauses von Atatürk in Thessaloniki zuschob. Nicht nur die griechisch-orthodoxe Minderheit, auch die türkischen Juden und Armenier wurden zu Leidtragenden dieser Verbrechen.

In den 1960er Jahren setzte sich die Vertreibung der Griechen fort, diesmal als angeblich Mitschuldige an der Zypernkrise. 1962 wurde der Gebrauch der griechischen Sprache auf der Straße verboten – eine Kulturgeschichte von 2000 Jahren fand so ein gewaltsames Ende. 1963 – auch hier bieten sich Vergleiche zur Vorgehensweise während der NS-Zeit an – folgte die Kampagne «Der Türke kauft beim Türken». Schilder mit der Aufschrift «Kauft nicht bei griechischen Händlern» lagen in den türkischen Geschäften aus. 1964 kündigte die türkische Regierung den Türkisch-Griechischen Freundschaftspakt und erzwang die Auswanderung von noch einmal etwa 50000 Griechen – jeder durfte 22 US-Dollar bei sich tragen. Auch hier werden Erinnerungen an Deutschland wach. Man erinnere sich: Die Höchstsumme, die die deutschen Juden bei der Auswanderung mitnehmen durften, belief sich auf 10 Reichsmark und 20 Kilogramm persönliches Gepäck. Die Vertriebenen erhielten keinen Zugriff auf ihre Bankkonten und durften ihre Immobilien nicht verkaufen. Das so in den Besitz des türkischen Staates gelangte Eigentum der Griechen wurde bis heute nicht restituiert.

Der seinerzeit in der Türkei weitverbreitete Hass auf die Griechen speiste sich aus dem Versuch der Griechen, gegen Ende des Ersten Weltkriegs aus den Wirren des zerfallenden Osmanischen Reiches eigenen Nutzen zu ziehen. Die griechische Politik hatte bekanntlich bis 1917 abgewartet, auf wessen Seite sie in den Ersten Weltkrieg eintrete, und sich dann, als sich deutlich Sieger und Verlierer abzuzeichnen begannen, für die Entente entschieden, um die Gunst der Stunde wahrzunehmen und sich die Kontrolle über die mehrheitlich von Griechen bewohnten Regionen auf der kleinasiatischen Halbinsel zu sichern. Nach anfänglichen Erfolgen im Griechisch-Türkischen Krieg von 1919 bis 1920 erlitt Griechenland eine unerwartete Niederlage, nicht zuletzt auch deswegen, weil Italien seine eigenen Interessen durch die Ausdehnung Griechenlands auf das Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches beeinträchtigt sah und die Truppen Kemal Atatürks militärisch unterstützte.

Es folgte ein Friedensschluss, der auf dem Prinzip ethnisch-religiöser Einheit in den Jahren 1922/1923 einen Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Staaten vorsah und zur Vertreibung von 1,2 Millionen Griechen aus der Türkei nach Griechenland, und in der Gegenrichtung zur Vertreibung von etwa 500000 muslimischen Türken aus griechischem Territorium in die Türkei führte. Der «Bevölkerungsaustausch» war begleitet von der Ermordung Zehntausender Griechen nach der Eroberung der von ihnen zuvor bewohnten Regionen durch die Türken, die alles daransetzten, die in einer von ihnen selbst durchgeführten Volkszählung von 1914 erwiesene griechische Bevölkerungsmehrheit auszulöschen.

Der von Atatürk 1923 ausgerufenen Türkischen Republik fehlten folglich bereits zwei der drei großen Bevölkerungsgruppen, die der ethnisch-religiösen Einheit entgegenstanden. Es blieben noch die Kurden, die immerhin als Muslime ein gewisses Bleiberecht genossen. Sie erhielten freilich keine Rechte als ethnische Minderheit, sondern wurden in der türkischen Terminologie als «Bergtürken» gewissermaßen eingemeindet, natürlich unter dem Verbot, ihre eigene Sprache zu nutzen und ihre Kultur weiterzuleben. Eine vorsichtige Lockerung der türkischen Politik schien in jüngster Zeit erkennbar. Doch am 27. Juli 2015 rechtfertigte der türkische Staatspräsident die militärischen Angriffe auf Kurden-Stellungen im Nachbarland – unter Aufkündigung des bis dahin geltenden Waffenstillstands – allein mit der Begründung, die «Kurden untergraben die Einheit der Türkei».

Eine ethnisch und weltanschaulich vielfältige Türkei ist für Recep Tayyip Erdoğan und seine Mitstreiter undenkbar. Es ist der den Entwicklungen in Deutschland entgegengesetzte Weg. Es wäre nicht überraschend, wenn die Argumente des Präsidenten in anderer Richtung am rechten Rand in Deutschland Anklang fänden. Die Weigerungen, wie es türkische Integrationsaktivistinnen mit Bedauern feststellen, immer größerer Anteile der hier lebenden Türken, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, lässt sich auch als ein «Untergraben der Einheit Deutschlands» bezeichnen. Freilich wird sich nur wer rückwärtsgewandt ist und es noch für gegeben hält, eine solche «Einheit» als politisches Ziel anzustreben, den Argumenten des türkischen Präsidenten öffnen können.

Die Reinheit des nationalistisch-religiösen Selbstverständnisses der modernen Türkei baut auf diesen Grundlagen. Zwar hatte Atatürk die Republik als laizistischen Staat in der Verfassung definieren lassen, aber knapp 100 Jahre nach der Gründung dieser Republik ist das Verlangen einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung nicht nur nach Fortdauer, sondern sogar nach Ausweitung des nationalistisch-religiösen Einheitsgedankens ungebrochen. Wie groß die Zustimmung in der Bevölkerung zu der von Präsident Erdoğan im Juli 2020 verfügten Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ist, ist wohl nur Insidern bekannt. Ein überaus symbolträchtiger Meilenstein auf dem Weg des Landes in die religiöse Einfalt ist dieser weitere Affront gegen das Erbe von Atatürk allemal. Die Türkei, das ist der Schluss, den der Blick auf dieses Land nahelegt, hat den Schritt in eine moderne Gesellschaft bislang nicht vollzogen, und es sind auch kaum Anzeichen erkennbar, dass sich daran etwas grundlegend ändern könnte.

Alle diese Entwicklungen sind innere Angelegenheiten der Türkei und können von außen mit Zustimmung oder Missbilligung wahrgenommen werden. Wenn die türkische Bevölkerung mehrheitlich diesen Islamisierungskurs durch die Wahl entsprechender Regierungspolitiker unterstützt, dann ist das zu akzeptieren. Bemerkenswert ist hier allerdings, und daher diese knappe Auflistung einiger ausgewählter Daten aus der jüngsten Geschichte der Türkei, dass das Bestreben, ein nationalistisch-religiös homogenes Staatsgebilde zu schaffen, in der Türkei nach wie vor höchste Priorität im Bewusstsein weiter Bevölkerungsteile und daher auch in der staatlichen, regionalen und lokalen Politik genießt. Die politischen Aktionen der türkischen Regierungen im abgelaufenen Jahrhundert gegenüber ethnischen Minderheiten und religiös Andersgläubigen – das sind für die Einen notwendige Aktionen zur Schaffung einer rein islamischen türkischen Gesellschaft, und das sind für die Anderen Scheußlichkeiten, die im 20. Jahrhundert einfach nicht hinnehmbar sind – seien hier aus dem Grunde angeführt, weil im Juli 2015 59,7 % der Türken, die in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert sind und sich an türkischen Parlamentswahlen beteiligt haben, die für diese Aktionen verantwortliche Regierung gewählt haben. Bei der vorgezogenen Präsidenten- und Parlamentswahl am 24. Juni 2018 wählten 64,8 %, das sind zwei Drittel der in Deutschland lebenden Wähler, Erdoğan zum Präsidenten und stimmten damit für die neue Verfassung, die ihm noch deutlich mehr Macht einräumen sollte.2 Sie bringen damit zum Ausdruck, dass sie eine solche Politik für angemessen und wünschenswert halten. Der Glaube, dass ein Leben in Deutschland die türkischen Mitbürger allmählich auf den Wertekanon der demokratischen Gesellschaft in Deutschland einstimmen wird, erweist sich zunehmend als Irrglaube. Tatsächlich verfestigt sich das Nebeneinander von Parallelgesellschaften.

Manch ein Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mag sich am 7. September 2015 die Augen gerieben haben.3 Da beklagt sich Ahmet Davutoğlu, ehemaliger Ministerpräsident der Türkei und Absolvent des zur Hälfte mit deutschen Lehrern ausgestatteten und von deutschen Steuerzahlern finanzierten Elite-Gymnasiums İstanbul Lisesi, über die «Errichtung einer christlichen Festung Europa» und spricht von Geschichtsvergessenheit im Hinblick auf die historischen Fakten. Eine «christliche Festung Europa», in der mehr als zehn Millionen Muslime unbehelligt leben, allerorten Moscheen eröffnen dürfen und alle Rechte genießen, die christlichen Gemeinschaften in der Türkei nicht zugestanden werden? Wahrscheinlich geht der türkische Politiker davon aus, dass «die Europäer» nicht nur die längst vergangene europäische Geschichte nicht kennen, sondern auch mit der jüngeren türkischen Geschichte keineswegs vertraut sind. Dort wird schließlich die christliche Vergangenheit weiter Teile des heute türkischen Territoriums geleugnet. Zielstrebig wird die «islamische Festung» errichtet, einhergehend mit der Auslöschung auch der letzten noch verbliebenen Spuren christlicher Präsenz; all dies mit Billigung und tatkräftiger Unterstützung der politischen Kreise, die Herrn Davutoğlu an die Regierung gebracht haben. Die Frage für die nicht-türkischstämmigen Deutschen lautet: Wer wird in Zukunft das Zusammenleben der nicht-islamischen Bürger Deutschlands mit den türkischen Migranten bestimmen: Die 59 % Erdoğan/AKP-Wähler oder die 41 % der in Deutschland lebenden Türken, die sich nicht für Erdoğan und seine AKP-Islamisierungspolitik begeistern können? Im Frühjahr 2015 besuchte der türkische Staatspräsident und vormalige Vorsitzende der AKP die Bundesrepublik, um seine in Deutschland lebenden Mitbürger zur Wahl der AKP zu bewegen. Zum Auftakt der Kundgebung in der Messehalle in Rheinstetten bei Karlsruhe begrüßte Erdoğan die Tausenden Türken, die gekommen waren, um ihm zu huldigen, mit den Worten: «Ihr seid für uns nicht Gastarbeiter, sondern unsere Stärke im Ausland.» Die Türken in der Bundesrepublik seien «die Stimme der Nation». Die Anhänger skandierten: «Wir lieben dich, Erdoğan, wir sind stolz auf Dich», und auf Erdoğans Aufforderung riefen sie die Formel: «Eine Nation – eine Fahne – ein Vaterland – ein Staat».

Als am 17. November 2015 in allen Fußballstadien Europas die letzten Ausscheidungsspiele für die Europameisterschaft 2016 in Paris stattfanden und zugleich zahlreiche internationale Freundschaftsspiele angesetzt waren, bestand allerorten Einigkeit, die Spiele im Gedenken an die islamistischen Verbrechen in Paris nur wenige Tage zuvor mit einer Schweigeminute einzuleiten. In Istanbul war ein Spiel der Türkei gegen Griechenland angesetzt. Ein Großteil der Fans nahm die Schweigeminute wahr, um ihre Sympathie für die Schlächter von Paris zu demonstrieren. Sie sangen die Hymne der Nationalisten: «Die Märtyrer sind unsterblich; das Vaterland ist unteilbar!» Mit solchen Bildern und Berichten in den deutschen Medien werden Gefühle nicht nur der hier lebenden Türken, sondern auch der hier lebenden Nicht-Türken angesprochen. Und diese Gefühle wirken sich aus.

Wie tiefgreifend die Distanz zwischen den einheimischen Deutschen und einer Vielzahl der in Deutschland lebenden Türken geblieben ist, zeigte sich auch Ende Mai/Anfang Juni 2016 im Vorfeld der für den 2. Juni geplanten Resolution des Deutschen Bundestags zum Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren. Zehntausende wütender E-Mails, abgesandt aus Deutschland und der Türkei, überschwemmten die Server des Deutschen Bundestags. Tausende Türken demonstrierten auf der Straße gegen die Verabschiedung der Resolution. Mit Drohungen und Erpressungsversuchen wurde Druck nicht zuletzt auf Abgeordnete mit türkischem Migrationshintergrund ausgeübt.

Die deutsche Kultur der Selbstbesinnung und der uneingeschränkten Schuldeingeständnisse der gesamten deutschen Bevölkerung angesichts der Verbrechen der NS-Zeit begegnet jedem, der in Deutschland lebt, auch mehr als 75 Jahre nach Kriegsende noch tagtäglich in den Medien, im gesamten öffentlichen Leben, an ungezählten Gedenkorten, einschließlich der vielen Stolpersteine vor den ehemaligen Wohnungen der Opfer. Offenbar hat dieses kulturelle Umfeld überhaupt keinen Einfluss auf das Denken derjenigen neuen Mitbürger gehabt, die auch 100 Jahre nach den Verbrechen an den Armeniern der historischen Wahrheit nicht zu begegnen wünschen.

Man möchte meinen, sie hätten genügend Zeit und Gelegenheit gehabt, an dem Beispiel Deutschlands einzusehen, dass das Eingeständnis auch schwerster Verfehlungen nicht das Ende des Staates und der Gesellschaft ist – im Gegenteil als Befreiung von großer Last empfunden werden kann. Aber zu dieser Art von Integration in die deutsche Kultur der kollektiven Erinnerung sind diejenigen offenbar nicht fähig, die sich auch in Deutschland an des Präsidenten Erdoğans Mahnung halten, allerorten «die Stärke der Türkei» zu repräsentieren. Selbst Aydan Özoğuz, die Beauftragte des Bundestags für Integrationsfragen, eine SPD-Politikerin türkischer Herkunft, distanzierte sich öffentlich von der Resolution.4

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EU als europaweite Vergesellschaftung

Der Weg in die Gesellschaft als politische Struktur, die das Zusammenleben von Fremden als notwendig, sinnvoll und daher wünschenswert ansieht und durch entsprechende staatliche Institutionen ordnet, wird in der Türkei nicht eingeschlagen. Auch das muss im Grunde als innerstaatliche Eigenart betrachtet werden. Dennoch ist der türkische Weg allgemein wichtig aus zumindest zwei Gründen. Da ist zum einen das von der Türkei eröffnete und von manchen westlichen Politikern geförderte Aufnahmeverfahren in die EU. Hier muss man sich fragen, ob die Türkei Europa-«gesellschafts»-fähig ist. Die EU ist die nach den Nationalstaaten logische nächsthöhere Ebene der Vergesellschaftung.

Nicht nur aus deutscher Sicht hat die Nationalstaatlichkeit ihre Grenzen erreicht. Die verschiedenen Stufen der Vergesellschaftung in Deutschland, ob es die Gründung des Norddeutschen Bundes war, dann die Gründung des Deutschen Reiches, waren stets notwendig, um die kontinuierliche Ausweitung existenzsichernder Handelsbeziehungen in feste politische Strukturen einzubinden. Jede neue, höhere Ebene der Vergesellschaftung bedeutete, dass immer größere bisherige «Gemeinschaften» mit eigenem komplexem Innenleben gezwungen waren, den kontinuierlichen Umgang mit den bislang Fremden, vielleicht sogar vormals feindlich gesinnten Nachbarn als Normalität anzusehen und durch Institutionen zu stabilisieren, die über den Teil-Gemeinschaften standen. Die Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Beziehungen zwischen den ehemaligen «Erzfeinden» Deutschland und Frankreich, von der Montan-Union bis zu einer gemeinsamen Deutsch-Französischen Brigade ist eines der schönsten Beispiele für diese Entwicklung. Sie wurde zur Keimzelle der europäischen Einigung. Der Verlust bisheriger Souveränität war in dieser Dynamik stets inbegriffen.

Und nun die EU. Sie bildet im europäischen Raum die höchstmögliche Ebene der Vergesellschaftung. Die bis zum erfolgreichen Brexit-Referendum britischer Wähler am 23. Juni 2016 28 und in Zukunft nur noch 27 EU-Mitglieder nehmen auf dieser Ebene die Rolle von «Gemeinschaften» ein, die den Umgang mit den einzelnen, zuweilen höchst unterschiedlichen übrigen «Gemeinschaften», also den mehr oder weniger «Fremden», als vorteilhaft ansehen. Die enge Verbindung mit den Nachbarn ist wiederum der Ausweitung des Handels geschuldet, und – so die Erwartung – sie ist für alle Teilnehmer von Nutzen, wenn sie bereit sind, die Spielregeln zu befolgen, die der «Vergesellschaftung» bereits von der niedrigsten Ebene an zugunde lagen. Diese Spielregeln verlangen, dass alle Beteiligten ihre eigenen Partikularinteressen ein Stück weit zurückzustellen und sich unter neutrale, übergeordnete Instanzen begeben, die darauf angelegt sind, das Vertrauen aller zu genießen.

Die Gründung der EU ist ungleich komplizierter als die Schaffung früherer Ebenen der Vergesellschaftung. Der Norddeutsche Bund, das Deutsche Reich – die «Gemeinschaften», die dort zusammenfanden, man denke an die Animositäten etwa zwischen Preußen und Bayern, waren nicht zu vergleichen mit der europaweiten Zusammenführung von unterschiedlichen Völkern wie der Finnen mit den Italienern, der Balten mit den Portugiesen, selbst der Deutschen mit den Franzosen. Die europäischen Nationalstaaten in einer neuen, übergeordneten «Gesellschaft» zusammenzuführen, ist deshalb so schwierig, weil einige Staaten intern, auf der eigenen, niederen «Gesellschafts»-Ebene, noch nicht die Stabilität im Zusammenleben ihrer eigenen Teil-«Gemeinschaften» erreicht haben. Die sollen sie aber nun auf der nächsthöheren Ebene einbringen und mittragen, auf der sie zukünftig als Nationalstaat den Status einer «Gemeinschaft» unter vielen einnehmen.

Die Situation ist insbesondere dort nicht dem Ideal nahe, wo die «Vergesellschaftung» – zumeist bereits vor Jahrhunderten – nicht durch Einsicht aller Beteiligten in das gesteigerte Gemeinwohl auf höherer Ebene zustande kam, sondern durch einseitige Machtansprüche und Herrschaftsausübung. Ein solches historisches Erbe spiegelt noch heute die Lage auf dem Balkan wider, wo noch 1995 mit dem Massenmord an 8000 bosnischen Muslimen durch bosnische Serben – der jüngste Völkermord in Europa – das althergebrachte Ziel einer ethnisch-religiösen Homogenität eines Territoriums angestrebt wurde. Eine harmonische Eingliederung der dort lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften in ein Staatswesen, das in eine gesamteuropäische Gesellschaft überführt werden könnte, ist momentan kaum vorstellbar.

Nicht mit vergleichbar gewalttätigen Auseinandersetzungen, aber ebenfalls mit enormen inneren Spannungen belastet, ist die Situation in Großbritannien und Spanien. Dort sind die Wunden der Schotten und der Katalanen nie völlig verheilt, und der Drang, sich aus der «Gesellschaft» Großbritannien bzw. Spanien zu lösen, findet immer wieder neue Anhänger.

Die Zustimmung der Bevölkerung in Großbritannien zu einem Referendum am 23. Juni 2016, die EU zu verlassen, wurde vornehmlich durch die Wähler in England entschieden; die Schotten und die Nord-Iren bewiesen in ihrem Wahlverhalten mehrheitlich ein anderes Interesse. Es könnte sein, dass das Vereinigte Königreich an dieser Frage zerbricht. Den Wunsch der Engländer – und hier insbesondere der älteren Bürger – die EU zu verlassen, haben Beobachter nicht zuletzt in dem Unwillen eines Großteils der Bevölkerung begründet gesehen, eine wachsende Zahl von Fremden, in erster Linie osteuropäische Arbeitsmigranten, in ihr Land zu lassen.

Die Bildung der Europäischen Union, die selbstverständlich mit der Freizügigkeit aller ihrer Bewohner einhergehen sollte, gerät hier mit der Erkenntnis einer einheimischen Bevölkerung in Konflikt, dass die nationale Eigenart – man könnte auch sagen: die ethnische und kulturelle Reinheit – über ein akzeptables Maß hinaus gefährdet ist und unwiderruflich zerstört wird. Die emotionale Belastung eines Teils der englischen Bevölkerung angesichts des Drucks, nach Millionen von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien nun auch Hunderttausende Migranten aus (Ost-)Europa aufnehmen zu müssen, entlud sich – durchaus verknüpft mit noch anderen Zweifeln am Sinn einer weiteren Mitgliedschaft – in dem Ausgang des Brexit-Referendums und ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie schwierig es ist, eine «Gesellschaft», bestehend aus den europäischen Staaten zu erschaffen.

Manch einer hätte vermuten können, dass die vielen muslimischen Bürger in Großbritannien für den Austritt aus der EU gestimmt haben, da sie mit den Grundwerten der Europäischen Union nach allen Umfragen wenig gemein haben. Das Gegenteil war der Fall. Für einen Verbleib in der EU haben prozentual weit mehr Muslime gestimmt als Angehörige christlicher Glaubensbekenntnisse.1 Der Grund für dieses Verhalten ist aufschlussreich und verweist auf die mangelnde innerbritische Gemeinschaftsbildung der unterschiedlichen Religionsgruppierungen. Die Anführer der großen muslimischen Verbände in Großbritannien hatten ihre Mitglieder dazu aufgerufen, für einen Verbleib zu stimmen. Sie fürchteten, im Falle eines Austritts Großbritanniens aus der EU den Schutzschirm der EU zu verlieren, der sich noch immer positiv auf die Situation fremdkultureller Einwohner in den EU-Ländern auswirkt.2

In der EU ist diese Dynamik der Vergesellschaftung nicht durch einseitige Machtausübung, sondern durch einen freiwilligen Entschluss der beteiligten Staaten zustande gekommen. Dieser Prozess befindet sich zurzeit noch in einer Phase, in der diejenigen Institutionen langfristig angelegt werden, die von allen Mitgliedsstaaten als neutrale Mittler und Anwälte des Gemeinwohls akzeptiert sind. Anders als im Falle des Deutschen Reiches, dessen Gründung als Zusammenschluss deutscher Kleinstaaten ein einmalig abgeschlossener Vorgang war, hat die EU seit ihrem Bestehen kontinuierlich neue Mitglieder aufgenommen, und zwar Mitglieder unterschiedlichster Eignung für eine gesamteuropäische «Vergesellschaftung». Folglich musste auch die Bildung der neutralen, übergeordneten Institutionen kontinuierlich den neuen Verhältnissen angepasst werden.

Entscheidend für das Gelingen einer Gesellschaft in diesem Sinne ist das Vertrauen in übergeordnete Institutionen. Das sind in der EU der Europäische Gerichtshof ebenso wie Europol, die Kommission ebenso wie die Bürokratie in Brüssel, die EZB ebenso wie das Europäische Parlament oder die gemeinsamen Streitkräfte und andere mehr. Die im September 2015 von führenden Politikern der europäischen Linken initiierte Kampagne eines «zivilen Ungehorsams» gegenüber der Europäischen Kommission ist nur einer der vielen Hinweise darauf, dass die EU noch weit davon entfernt ist, übergeordnete Institutionen geschaffen zu haben, die von allen Beteiligten als dem Gemeinnutz dienend anerkannt werden.

Das Misstrauen, das von den europäischen Nachbarn insbesondere dem Koloss Deutschland in ihrer Mitte entgegengebracht wird, ist verständlich. Die Bilder der Vergangenheit lassen sich nicht so schnell aus den Köpfen verdrängen. Ob die Deutschen «den Italienern» und «den Griechen» vertrauen, auch das ist nicht ganz gewiss. Wolfgang Schultheiß, ein ehemaliger Botschafter Deutschlands in Griechenland, und sein Kollege im Auswärtigen Amt, Ulf-Dieter Klemm, haben im Jahre 2015 einen seriösen Sammelband mit zahlreichen Beiträgen veröffentlicht, die die Ursachen des griechischen Dilemmas ausleuchten. Die dort ausgebreiteten Informationen, zum Beispiel über das seit der Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich gestörte Staatsverständnis und den lange Zeit sehr hilfreichen Klientelismus, sind nicht geeignet, das Vertrauen deutscher Leser des Buches in die europäische Integrierbarkeit dieses Landes zu stärken.3 Damit die Europäische Union zu einem Erfolg wird, ist nicht notwendigerweise das Vertrauen eines jeden Mitglieds in jedes andere Mitglied erforderlich. Unabdingbar dagegen ist das Vertrauen aller «Gemeinschaften» in die Neutralität der Institutionen der «Gesellschaft» Europa.

Je besser die einzelnen Teilnehmerstaaten als Gesellschaften auf der Ebene unterhalb der EU ihre eigenen Hausaufgaben hinsichtlich der Ordnung im Zusammensein der ihnen innewohnenden Gemeinschaften erledigt haben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Fähigkeit zu Souveränitätsaufgabe und Kompromissbildung auch auf die nächsthöhere Ebene mitbringen. Dass innerhalb eines Staates noch Aversionen zwischen einzelnen Gruppen und Ethnien bestehen, ist kaum zu vermeiden und muss den Erfolg der Vergesellschaftung zur EU nicht gefährden. Problematisch wird es dann, wenn eine nationale Regierung, gestützt auf den mehrheitlichen Wählerwillen, die Anforderungen an die Vergesellschaftung in Frage stellt.

Hier nun kommt der oben angedeutete Zustand der Türkei in den Blick. Die Türkei zeigt sich bisher nicht für die EU gesellschaftsfähig. Die von der Mehrheit der türkischen Bevölkerung legitim in demokratischen Verfahren gewählte Regierung geht den entgegengesetzten Weg zur Vergesellschaftung. Sie strebt die Schaffung einer Gemeinschaft der Islamisten an. Die Bezeichnung Islamisten ist hier gerechtfertigt, da die Politik der Durchsetzung eines Alleingeltungsanspruchs des Islam den Weg bahnt. Jedes Kind in der Türkei ist in der Schule gezwungen, am sunnitisch-islamischen Religionsunterricht teilzunehmen; eine Alternative ist nicht erlaubt.

Doch selbst wenn sich in der bisherigen EU diejenigen durchsetzen werden, die die Türkei als nicht europatauglich ansehen und diesem Land die Mitgliedschaft in der EU verwehren, wird sich der innere Zustand des Landes und die Mentalität seiner Bevölkerung auch auf die innere Situation in Deutschland und in anderen Mitgliedsstaaten der EU auswirken. Der Grund liegt in der großen Anzahl von Menschen, die die islamistische Regierungspolitik in der Türkei unterstützen, die nach Deutschland einwandern und die hier in einer Weise aktiv werden, die dazu beiträgt, dass auch in Deutschland die Struktur einer «Gesellschaft» im beschriebenen Sinne beschädigt wird. Dass sich in deutschen Grundschulen türkische Kinder weigern, neben kurdischen Kindern die Schulbank zu drücken, ist zwar ein bedauerliches, aber noch nicht allzu besorgniserregendes Anzeichen für die überregionalen Auswirkungen der Abgrenzungspolitik in der Türkei auf Deutschland.

Vor diesem Hintergrund verdient der Fall einer türkisch-stämmigen Muslima im Mai 2015 in Berlin Beachtung, die für ihr juristisches Referendariat einen Antrag stellte, in eine hoheitlich tätige Behörde aufgenommen zu werden und im Dienst ihr Kopftuch zu tragen. Das wurde ihr zunächst verwehrt, weil das Berliner Neutralitätsgesetz das Tragen religiöser Symbole im Zuge einer Ausübung hoheitlicher Aufgaben nicht gestattet. Ein Kompromiss sollte es der jungen Frau ermöglichen, gleichsam ungesehen von der Öffentlichkeit Referendarstätigkeiten auszuüben, auch ohne das Kopftuch abzunehmen. In der öffentlichen Diskussion zeigte ein türkisch-stämmiger Politiker der Partei DIE LINKE Unverständnis für die Abweisung der Frau. Er verband seine Kritik mit der Forderung, auch Gläubigen weiterer Religionen das sichtbare Tragen ihrer religiösen Symbole im hoheitlichen Bereich zu erlauben. Nachdem ein Berliner Gericht am 8. Februar 2017 das Land Berlin zu einer Zahlung von knapp 9 000 Euro «Schmerzensgeld» an eine Muslima verurteilt hatte, die wegen ihres Kopftuchs nicht zum Schuldienst zugelassen worden war, unterstützte der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt von der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Forderung und ließ verlauten, er hoffe, dass nun das Neutralitätsgesetz insgesamt auf den Prüfstand komme4. Inzwischen, im Jahre 2020, hat er mit eigenmächtigen Entscheidungen, das Kopftuch für Rechtsreferendarinnen zuzulassen, das Gesetz de facto ausgehebelt.

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26 mayıs 2021
Hacim:
301 s. 2 illüstrasyon
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9783962851606
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