Kitabı oku: «Schwarze Frau, weisser Prinz», sayfa 2

Yazı tipi:

Jungen und Mädchen blieben bei uns unter sich: Jungen spielten mit Jungen, Mädchen mit Mädchen, obwohl wir uns alle der Gefühle der anderen bewusst waren. Wir Mädchen kicherten, unsere Augen gross und glänzend vor Erregung. Wir sassen einander gegenüber, flochten lange Grashalme, sprachen im stillen einen Wunsch aus und liessen den Grashalm fliegen – hin zum auserwählten Jungen. Wir hofften, er würde kommen; manchmal klappte es, manchmal nicht. Jedenfalls gab es viele geflochtene Grashalme rund um unsere Schule.

Am Wochenende hatten wir meistens nichts anderes zu tun als zu träumen und zu grübeln, und wir Mädchen gingen saure Pflaumen oder Tamarinden pflücken. Die Tamarinde ist eine köstliche, süssaure Frucht mit einem länglichen Kern, die man pflückt, wenn sie braun wird. Wir lagen im Gras, saugten sie aus und warteten, bis die Sonne unterging.

«Paula», fragte Koretter, eine meiner Freundinnen, «was wünscht du dir, wenn du erwachsen bist?» Ich sass da, das Kinn in die Hände gestützt, und dachte lange und entspannt nach. Irgendwie konnte ich nur lächeln. Ich wusste nicht, womit beginnen und ob ich mich bei meinen Freundinnen gehen lassen sollte. Mit neun Jahren, nachdem Gran gestorben war, hatte ich gelernt, nie jemandem zu trauen, vielleicht nicht einmal mir selber. Und ausserdem wusste ich nicht, ob meine Wünsche nicht zu sehr Illusionen waren. Ich fühlte mich nicht als etwas Besseres, aber ich sah die Welt anders und wusste nicht, weshalb ich solche Gedanken hatte.

Meine St.-Lucia-Freundinnen hatten klare Träume ohne dunkle Streifen. Meine Träume jedoch hatten immer etwas mehr Szenerie und hellere oder dunklere Farben. Deshalb verriet ich ihnen nie meine Gedanken. Sie würden sie einfach nicht verstehen. Sie würden denken, ich wolle zuviel oder ich analysiere zuviel. Sie dachten nicht gerne zu genau über ihre Träume nach, die seit Generationen dieselben waren, von der Grossmutter an die Mutter weitergegeben. Ihre Träume waren nur ein bisschen realistischer als die der Vorfahren, weil es jetzt mehr Möglichkeiten gab, sie wahr werden zu lassen.

Koretter war ein Mädchen, das genau wusste, wohin sein Weg führte. Sie teilte allen ihre Träume mit. «Ich möchte meinen Schulschatz heiraten. Wenn er nur mit mir spazieren gehen würde, dann würde ich ihm von meinem Traum erzählen. Ich möchte seine Frau sein und ihm alles geben, was ein Mann sich wünscht, viele Kinder, ein Haus und einen Hof haben und zusammen alt werden.» Ich denke zurück an den Jungen, den sie im Auge hatte. Ja, er war schön – für sie, nicht für mich –, er war gross, aber er sah aus wie einer, dem eine Frau nicht genug war. Und überhaupt mochte ich seine Dreistigkeit nicht. Er hatte keine Manieren ihr gegenüber. Vielleicht wusste er, wie er ihr schmeicheln musste. Einige Frauen mögen es, wenn ein Mann grob ist, und er war grob. Sie war erst elf und lief ihm bereits hinterher. Ich hätte ihm am liebsten gesagt, er solle verschwinden, benahm er sich doch bereits wie ein König. Ja, er war ein kluger Kerl, er würde eine gute Ausbildung haben mit einem guten Verdienst. Aber sie würde mit ihm in die Hölle und in den Himmel geraten und wieder zurück. Und es schien mir, als hätte sie das bereits akzeptiert.

Wie konnte sie so bescheiden sein in ihren Träumen? Vielleicht, weil sie nirgendwohin konnte. Sie war, wo sie hingehörte, eine echte St.-Lucia-Frau. Sie war stolz auf ihr Land, auch wenn sie unter der Armutsgrenze lebte. Sie wusste, dass es ihre Bestimmung war, hier zu bleiben. Ich dagegen sah mich nicht als St.-Lucia-Mädchen, aber ich konnte ihr das nicht gestehen. Ich wollte weg, und sie sollte nicht wissen, warum. «Paula, hör auf zu sinnieren, es wird schon dunkel, meine Eltern werden mich suchen. Ich muss meine kleinen Schwestern waschen und zu Bett bringen.» «Koretter, ich weiss nicht, was ich träume. Ich müsste zu vieles erklären. Ich wünschte, ich wäre du. Wie kannst du dir nur so sicher sein?» «Ich bin sicher, das ist alles. Ich weiss, was ich will. Ich will nicht viel. Ich bin ein einfaches Mädchen.» Und was ist mit mir, fragte ich mich. Ich zuckte die Achseln, als wir den Hügel hinuntergingen. Es war sehr dunkel, nirgends ein Licht. Sie hatte keine Angst vor der Dunkelheit, ich jedoch schon. Warum wohl? Ich ging zu meiner Tante, und sie ging glücklich zu ihren Eltern.

Ich flirtete mit Jungs, träumte beinahe schon wie Koretter, doch es schien nie ganz zu gelingen. Warum war ich so unzufrieden? Was war falsch mit mir? Was wollte ich? Spielte ich, oder sah ich anders aus als meine St.-Lucia-Freundinnen? Stellte ich mich selber zu hoch? Oder war ich einfach ein Mädchen, das etwas wusste, was sie nicht wussten? Ich fühlte mich tiefgründig und etwas Besonderes – als ob ich aus irgendeinem wichtigen Grund auf diese Welt gekommen wäre. Aber wofür? Ich wollte es herausfinden.

Ich habe Koretter seit neunundzwanzig Jahren nicht gesehen. Ob sie noch immer ihren Traum vom Schulschatz träumt? Ich würde gerne eines Tages wissen, was aus ihr geworden ist. Für mich jedenfalls war es das Beste, dass ich nicht wusste, wohin meine Träume mich führten.

London Girl

Endlich erlöste mich meine Mutter und liess mich zusammen mit Ben nach London kommen. Ich war zwölf. Die ungewohnte Freiheit, mit der meine neuen Schulfreundinnen über alles redeten, schüchterte mich ein. Sie sprachen offen darüber, mit wem sie in der Mittagspause geschlafen hatten oder dass sie die Schule schwänzten, um ihren Kerl zu treffen. In der Schule lernten wir kaum etwas.

Ich, die Neue, war die Schüchternste in unserer Gruppe. Die anderen waren bereits einige Jahre länger in London und waren ihren Eltern aus Jamaica oder – wie ich – von den kleinen Inseln hierher gefolgt. Einige waren hier geboren, aber ihre Geschichte war nicht anders als unsere. Wir kamen eigentlich in die Schule, um uns vom alltäglichen Kampf, schwarz zu sein, zu erholen. Natürlich kriegten wir auch in der Schule unseren Teil Rassismus zu spüren, aber meistens war es okay. In der Pause sass unsere Gruppe von sechs Mädchen in der Aula. Auch eine Inderin und eine Aborigine aus Australien gehörten dazu. Aborigine! Wer wohl den Schwarzen solche Namen gegeben hat! Die Aborigine war schüchtern, wir hatten also etwas gemeinsam. Sie war sehr dunkel, aber irgendwie hübsch mit ihren tiefschwarzen Haaren. Die Inderin war sehr freundlich, naja, sagen wir, neugierig. Sie kam von einer kleinen Insel in Asien und hatte einige Zeit in Frankreich gelebt. Sie sprach französisch und englisch, und sie trug auch ausserhalb der Schule keinen Sari. Sie war vielleicht die Gescheiteste in unserer Gruppe. Die anderen Mädchen mochten sie nicht und zeigten es ihr auch. Ihr war es egal, sie fühlte sich bei uns besser akzeptiert als bei den englischen Mädchen. Sie wurde meine Freundin und blieb es auch nach Abschluss der Schule.

Eine andere Freundin war Rose. Sie war gross, mit einer guten Portion Busen und Hintern und komisch dünnen Beinen mit dicken Oberschenkeln. Sie sah schön aus, weil sie lange Haare hatte, meine waren kürzer. Jedes Wochenende liess sie sich die Haare strecken. Beinahe jede schwarze Frau liess ihr zartes Haupt mit dem heissen Kamm behandeln: Nach dem Schamponieren strich man schwarzes Haarfett in die Haare, teilte sie und kämmte sie dann mit einem auf dem Gasherd erhitzten Eisenkamm aus. Du konntest das Brutzeln des Fettes hören. Deine Ohrläppchen wurden gesengt, und das heisse Öl rann von den Haaren auf die Kopfhaut, was dir vor Schmerz Tränen in die Augen trieb. Meistens übernahmen unsere Mütter, Schwestern oder Freundinnen diese schreckliche Aufgabe. Der ganze Raum war voller Qualm. Allein schon beim Zusehen wärest du am liebsten davongelaufen. Es war wirklich äusserst gefährlich. Und wenn du zu deiner Mutter oder Schwester frech gewesen warst, solltest du dich besser nicht unter ihren heissen Kamm begeben, sie könnten sich rächen wollen. Wenn die Prozedur vorüber war, musstest du Schaumgummiwickler eindrehen. Im Bett drehtest du dich vor Schmerz von einer Seite zur anderen und schobst die Wickler hin und her. Doch abnehmen wollten wir sie nicht, wir brauchten diese Frisur für die Schule. Am nächsten Morgen stand dein Kopf erneut in Flammen, und das Ausbürsten tat wieder sehr weh. Aber wir sahen gut aus, und mit den gestreckten Haaren konnten wir fast jede Frisur machen, die wir wollten. Nicht so mit der Afro-Frisur, die immer gleich blieb und über die sich die englischen Jungs oft lustig machten. Sie würden gerne ihre Hände in das Baumwollnest stecken, sagten sie etwa. Die Frisur hielt leider nur eine Woche. Du brauchtest die Haare nur einmal zu waschen, und schon fiel die ganze Sache zusammen.

Rose sah mütterlich aus und lächelte immer, immer schien sie fröhlich zu sein. Wir kamen alle aus derselben Art von Familie: einer grossen Familie ohne Vater. Meistens sass einer unserer Brüder im Gefängnis. Den Jungs fehlte eine Vaterfigur, und unsere Mütter waren kaum zu Hause.

Damals, in den siebziger Jahren, sassen wir Schwarzen alle im selben Boot. Wir waren schwarz, Immigranten und arm. Die Polizei war in unserem Leben immer präsent. Es gab viel Elend, aber auch viel Lachen und Vergnügen. Es waren zwar nur kleine, billige Vergnügen, doch wir machten mehr Parties als die Leute mit Geld. Es waren meine besten Tage damals.

Rose und die anderen Freundinnen konnte man ohne Zweifel als verdorbene Mädchen bezeichnen. Sie verstanden keinen Spass, was ihre Kerle anging, die du nicht mal anschauen durftest. Sie verzichteten auf ihren Lunch, nur um ihre Boyfriends zu treffen. Die meisten dieser Typen waren älter als sie und hatten bereits Kinder, aber das schien meine Schulfreundinnen anzuziehen. «Sie haben Erfahrung», meinte Rose. Die Mädchen waren kaum in der Schule anzutreffen. Sie gaben an, sie seien unpässlich, oder fälschten die Unterschrift ihrer Mutter, die mitteilen liess, ihre Tochter sei krank. Und die Schulleiterin tat gut daran, es zu glauben: Diese Mütter liessen nicht mit sich spassen. Ich habe gesehen, wie sie die Schulleiterin fast mit einer Hand hochhoben, so kräftig waren sie. Sie selbst durften uns beinahe zu Tode prügeln, aber niemand sonst sollte sich an ihren Sprösslingen vergreifen. «Paula, kommst du in der Mittagspause mit uns?» fragte Rose. «Ich kenne einen netten Kerl, ganz dein Typ. Him soft. Er ist ein sanfter Riese, er hat dich gesehen, als er und sein bester Freund, der mein Mann ist, mich nach der Schule abholen kamen. Was sagst du dazu?» Sie sprach jamaikanisch. «Come ner, man, say somting, you fraid? Oder hast du Angst vor deiner Mutter?»

Ich sagte nichts. Ihre Mutter schien okay, aber meine Mutter war jünger und aggressiver. Sie würde mich umbringen. Ihre und meine Mutter waren zwar eine Art Freundinnen. Sie arbeiteten beide bei London Transport, gehörten zur gleichen Gruppe, die ihre eigenen London-Transport-Rituale und ihre eigene Sprache hatten, ja, London Transport richtiggehend zu atmen schienen. Wenn sie untereinander nicht über die Arbeit redeten, dann über Liebesprobleme. Sie litten an den Folgen der Liebe, für die Rose jeden töten würde. «Paula, you are a chicken, man. Wer findet schon heraus, dass du die Schule geschwänzt hast. Sie kümmern sich nicht um dich.» Ihr mochte diese Lebensart den Kopf verdreht haben, aber für mich war das nichts. Ja, ich hatte Angst. Ja, ich war ein Angsthase. Aber ich hatte Träume, und irgendwie machten sie Sinn und hielten mich am Leben. Sie lebte ihre Träume bereits, sie wollte von einem viel älteren Mann genommen werden, der sie schwängern würde. Sie war beinahe sechzehn, und sie dachte, es sei an der Zeit, sich niederzulassen, ohne Zukunft, ohne Hoffnung. Vielleicht würde sie in den roten Bussen Fahrkarten verkaufen oder Krankenschwester werden, aber das war nicht mein Ideal. Ich wollte mehr, da war ich mir sicher. Ich wollte keine Nummer unter vielen sein, keine Negerin unter vielen. Doch mein Lebensziel war viel schwieriger zu erreichen. Sie war vielleicht realistischer.

Heute lebt sie in den USA und soll vier wunderbare Kinder haben. Sie lebt den American Dream und ist wirklich Krankenschwester geworden. Ich weiss nicht, ob sie glücklich ist. Aber sie folgte ihrer Bahn.

Ich wusste einiges über die Erlebnisse meiner Freundinnen, sie wussten nichts über meine. Ich hatte ja auch keine! Ich wusste nichts, ich hatte nichts zu teilen mit ihnen ausser das Zusammensein. Einige wollten Model werden, andere Coiffeusen, einige wollten eine Boutique eröffnen, aber nur wenige wollten weiterlernen, auch ich nicht. Wir hatten genug davon zu sehen, wie unsere Eltern hart arbeiteten und nichts dafür kriegten. Es war immer dasselbe: Ende Monat war kein Geld mehr da, um ein wenig auszuflippen, sich gehen zu lassen und einen Tag lang gut zu leben. Nie war genug Geld da fürs Nötigste. Deshalb waren wir wütend auf das System und wollten keinen hohen Preis für eine Ausbildung bezahlen, um uns besser zu stellen, denn tief im Herzen wussten wir, dass wir auch damit keinen speziellen Job kriegen würden. Alle schwarzen Eltern machten sich Sorgen, was aus ihren Kindern werden würde. Und ihre Sprüche waren fast immer dieselben: Die Töchter würden in ein paar Jahren mit einigen Kindern dastehen, und ihre Männer würden sie verprügeln oder sässen im Gefängnis.

Mit sechzehn verliessen die meisten von uns die Schule. Unsere Mütter konnten es kaum erwarten, uns das tägliche Brot verdienen zu sehen. So würden sie zumindest um einige Pfund pro Monat entlastet. Jeder einzelne Penny zählte, sie wollten sparen. Ich glaube, schwarze Frauen sind die besten Sparerinnen der Welt. Es ist kaum zu glauben, dass sie mit ihren mageren Löhnen ein Haus in London, Land in der Karibik und eine ganze Menge Möbel kaufen konnten, dass sie ein paar Mal im Jahr nach Hause reisten und noch immer in der Lage waren, drei Mal im Jahr eine Party zu geben. Und wieviel es da zu essen und zu trinken gab, und Musik und Fröhlichkeit! Sie kannten die Märkte in jedem Winkel von London. Sie reisten bis nach Paris oder Holland, um gute Esswaren und Getränke zu billigen Preisen zu kaufen – nur um eine Party zu geben. Sie füllten Grey Green Busse, die an den Wochenenden nach Amsterdam fuhren; für die Reise hatten sie mehrere Monate gespart. Sie kannten Europa besser als die Briten, die mehr Geld hatten.

Dabei vergassen sie nie, sonntags zur Kirche zu gehen. Sobald der Gottesdienst aus war, machten wir uns auf den Nachhauseweg, zu einem starken Rum and Black. In den Häusern der Schwarzen wurden Reis und Bohnen gekocht. Die speziellen roten Bohnen waren über Nacht in Wasser eingelegt worden. Dazu gab es Huhn, Lamm- oder Ziegenfleisch, das am Vorabend mehrfach mit Zitrone gewaschen wurde – die Schwarzen waschen alles mit Zitrone. Man mischte Kräuter bei, dann liess man es bis zum Morgen ziehen. Die ganze Strasse duftete nach Reis, Bohnen und Huhn, und es roch gut, vielleicht weil dieses Soul-Food mit spiritueller Liebe und Energie gekocht wurde. In diesem Essen suchten unsere Seelen Kraft und Erfolg. Mit diesem heilenden Soul-Food in unserem Magen brauchten wir uns für die kommende Woche keine Sorgen zu machen. Du konntest deine Kraft spüren. Im Kühlschrank hielt es sich zwei, drei Tage, und es schmeckte jeden Tag besser!

Unsere Getränke wurden mit einem ähnlichen Ritual gemacht: Während Mutter kochte, nahm mein Stiefvater Leo cremige Sanatogen-Milch, von der es hiess, sie mache den Körper stark. Er mischte sein bevorzugtes Aroma mit einer Flasche Guiness, etwas starkem, weissem Rum von zu Hause – und einem Ei, das war sehr wichtig. Er gab ein wenig Muskatnuss und Gewürze bei und schüttelte das Ganze mit all seiner Kraft. Auch später, wenn ich jeweils für kurze Zeit aus der Schweiz zu Besuch kam, sagte er, ich brauchte etwas von seiner selbstgemachten Medizin: «Pal, das ist gut für dich. Schau dich an, du siehst schwach aus! Die Schweizer Küche hat keine Kraft, man, die können nicht kochen.» Ich wartete auf das Essen und den Drink, der wirklich jeden Virus im Körper tötete. Das ganze Ritual haute uns alle um und schläferte uns ein. Aber am nächsten Tag waren wir neue Menschen. Ich ging jeweils mit einer ganzen Menge von Leos Kraft in die Schweiz zurück.

Ich hatte schon immer dieses eigenartige Gefühl und die Vorstellung, dass es auf der Welt viel mehr gemischte Beziehungen geben sollte. Ich weiss nicht warum, aber es hat mich immer interessiert. Schon als kleines Mädchen in der Karibik hatte ich ja diese starken Gefühle für die Menschen mit einer anderen Hautfarbe, das heisst für die Weissen. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie unberührbar waren. Sie sahen so sauber und rein aus, verglichen mit uns, die wir immerzu im Staub lebten. Sie schienen so sorglos, glücklich und fröhlich, verglichen mit unseren Tränen und unserem Leiden. Für uns war alles Anstrengung, ihnen fiel alles leicht. Sie waren die Helden und Heldinnen unserer Träume. Aber was waren wir für sie?

In der karibischen Schule lernten wir zu meiner Zeit nur die Helden Amerikas, Frankreichs und Grossbritanniens kennen. Ich wusste kaum, woher ich kam. Wir lernten nichts über Afrika, nur wie Christopher Columbus St. Lucia entdeckte. Ich wusste nicht eigentlich, woher er kam, ich wusste nur, was er tat.

Ich sah nie ein schwarzes Kind in meinem Lesebuch. Ich las nie etwas über Entdeckungen eines schwarzen Mannes. Ich wusste nicht, wo ich war und wo ich hingehörte. Ich war nie selbstsicher genug, um die Lehrerin danach zu fragen: Was ist die Karibik, wer bin ich, woher kommen wir? Denn wenn Christopher Columbus uns entdeckte, musste es uns schon vorher gegeben haben!

Der einzige Ort, auf den ich stolz war, war England. Alle in St. Lucia wollten hinüber in ihr Mutterland. An ihrem eigenen Land schienen sie kein Interesse zu haben. Es hat nichts, würden die Männer und Frauen sagen. Sie schämten sich wegen sich selbst, wegen der kleinen Insel und ihrem Akzent. Nachdem sie weggegangen waren, taten sie alles, um die Insel zu vergessen. Nur Grossbritannien zählte, die Insel gaben sie freiwillig her.

Was hätten meine Freundinnen gedacht, wenn ich ihnen offen erzählt hätte, dass ich davon träumte, mit einem Weissen zusammen zu sein? Über solche Phantasien sprach man nicht! Sie hätten mich voller Entsetzen angeschaut oder so getan, als sei dies ein abscheulicher Gedanke. Aber diese Phantasie machte einen grossen Teil meiner heimlichen Träume aus. Ich denke nicht einmal, dass es nur ein Traum war, es schien auf beunruhigende Weise wirklich. Ich war mir nie ganz sicher, ob ich in einen von meinen Leuten verliebt war. Es schien nie ganz zu stimmen. Vielleicht hatte es mit der Art zu tun, wie ich aufgewachsen war. Ich wusste nie, wo ich hingehörte. Mir wurde nie gesagt, dass ich als Schwarze eine Gefahr für Weisse sei, dass solche Gedanken und Gefühle schmutzig seien, und es leben zu wollen unmoralisch. Es war beängstigend: Alle Menschen um mich herum waren schwarz, und sie hatten sich für die Lebensart und die Gefühle entschieden, die die Gesellschaft von ihnen erwartete. Auf diese Art würden sie ein ruhiges Leben haben. Es gab jedoch auch viele schwarze Männer und Frauen, die diese heftige erotische Anziehung ausleben wollten, die die Weissen auf sie ausübten. Dieses Gefühl in mir, das als vulgär, ja pervers galt, war wie ein Vulkan, der aus der Erde auszubrechen versuchte und unterdrückt werden musste. Dabei hätte ich ihm so gerne nachgegeben, um mich leichter zu fühlen.

Ben und ich waren zu Mutter zurückgekehrt, nachdem der Vater ihrer anderen vier Kinder Anfang der sechziger Jahre in die USA abgehauen war. Er hatte sie mit einer unbezahlten Hypothek zurückgelassen, inmitten der Not, in einer fast gänzlich schwarzen Nachbarschaft. Die Frauen arbeiteten als Krankenschwestern, als Schaffnerinnen in den roten Bussen, als Serviererinnen in den Kantinen oder als Billettkontrolleurinnen in den Bahnhöfen. Was auch immer sie arbeiteten, sie waren die Dienerinnen der englischen Nation. Die Briten wollten damals keine solchen schlechtbezahlten Jobs – heute sind sie gutbezahlt und begehrt. Traurig war, dass viele Frauen alleine waren und dass es nur wenige Paare wie meine Mutter und ihr neuer Mann, Stiefvater Jonny, gab. Sie waren wirklich ein Paar! Er war Fahrer, sie gab mit ihrer Powermaschine Fahrscheine aus. Diese Maschine hatte vieles gesehen. Bei Überfällen war sie praktisch zur Verteidigung. Die Gangster waren sehr gefährlich, sie hatten Messer und zögerten nicht zuzustossen. Zahlreiche Schaffnerinnen waren niedergestochen worden, und einige waren für immer gelähmt. Während der Nachtschicht konnte alles mögliche passieren, deshalb waren die Fahrer oft bewaffnet, was die Company nicht erfahren sollte. Auch mein Stiefvater hatte ein Halsabschneider-Messer bei sich.

Manchmal durften wir Mum begleiten. In der Busgarage schien sie ein anderer Mensch als zu Hause, sehr freundlich und warm. Heute würde ich es eher diplomatisch nennen. Die Garage war voller schwarzer Männer und Frauen, es gab nur wenige weisse Gesichter. Hier mussten sie das Geld abliefern, das sie auf ihrer Schicht eingenommen hatten. Die Frauen hatten die gleichen London-Transport-Uniformen wie die Männer, nur dass einige Röcke trugen. Meine Mutter trug ausserdem einen speziellen, schwarzen Wollhut, der uns immer zum Lachen brachte, weil sie so komisch aussah damit.

Es machte den Anschein, als würde sie nie von London Transport weggehen. In ihrem kurzen Rock, mit der sorgfältig gemachten Afro-Frisur stieg sie, meistens Kaugummi kauend, in den Bussen rauf und runter und begrüsste die Passagiere. Einige kannten sie, da sie meistens im selben Bus der Linie 73 arbeitete. Hier wusste sie, was sie zu erwarten hatte. Sie hatte Probleme mit den Knien, und ging nicht gerne die Treppen hoch, und manchmal konnte sie einfach nicht.

Ich sass vorne neben der Heizung und genoss diese Gratisfahrten. Das waren die – seltenen – guten alten Tage. «Bist du okay?» fragte sie mit ihrer mütterlichen und zugleich jungenhaften Stimme. Ich nickte, es machte wirklich Spass, hier zu sein. Ich nahm die ganze Umgebung in mich auf und hörte den Gesprächen im Bus zu. Die alten Leute sprachen davon, wie anders alles geworden war und wie die Lebenshaltungskosten ihnen zu schaffen machten.

Manchmal überfuhr Jonny eine Ampel, ohne anzuhalten. Dann klopfte Mum an die Trennscheibe oder stieg an der nächsten Haltestelle aus, rannte nach vorne und schimpfte. Er fuhr los, liess sie auf der Strasse stehen; sie musste hinterher rennen und auf den Bus aufspringen.

Wenn du sie bei der Arbeit sahst, hättest du nie gedacht, dass sie sechs Kinder – zwei davon taub – und eine unbezahlte Hypothek hatte. Bei der Arbeit fühlte sie sich wirklich glücklich und frei, und sie liess uns das wissen. Wenn sie von der Arbeit zurückkehrte, machte sich ihr Stress sogleich bemerkbar. «Jedes Mal, wenn ich dieses Haus betrete, möchte ich am liebsten wieder rückwärts raus», schimpfte sie. «Bei der Arbeit habe ich keine Probleme, dort bin ich glücklicher. Hier heisst es Mum hier, Mum da. Die ganze Zeit streitet ihr miteinander. Nie kann ich in dieses Haus zurückkehren und etwas Ruhe finden.» Gleich als erstes wollte sie wissen, ob ich das Fleisch geputzt und für sie zum Kochen vorbereitet habe. «Du kannst ja nicht mal kochen, Paula, ein grosser Esel wie du! Beth, komm her!» Beth wusste, wie sie der Mutter gefallen konnte und gehorchte sogleich. Mutter befahl ihr, die Einkäufe im Kühlschrank zu verstauen. Die anderen Kinder versuchten sich zu benehmen, mit wenig Erfolg. Trica und Kenny, die beide taub sind, stritten sich im oberen Stock, sprangen die Treppen rauf und runter und lärmten, ohne zu merken, wie laut sie waren. Sie wolle endlich Ruhe, schrie Mutter. Ben war noch nicht zu Hause, er würde abends zünftig verprügelt werden. Mutter schlug manchmal sehr heftig zu. Aber er war kein Feigling wie ich.

Wenn sie arbeiten ging, war ich ehrlich froh, sie von hinten zu sehen. Ich weiss, es klingt eigenartig, aber das Haus war friedlicher und freundlicher. Wir waren ja alle Kinder, wir verstanden einander.

Wie gesagt, wir lebten zeitweise unter der Armutsgrenze, und Geld war bei jedem Spiel und Spass und immerzu ein Thema. Einmal beschloss Mum, mit uns in die Ferien zu fahren. Wir durften an einen Ferienort für bedürftige Familien reisen, einige Stunden von London entfernt; der Staat bezahlte dafür. Mit einem Bus fuhren wir aus London heraus an die Küste. Es war das erste Mal, dass ich mit der Familie verreiste, und ich freute mich sehr. Ich war damals etwa fünfzehn, seit drei Jahren in London – eine kurze, schwierige Zeit mit vielen Verletzungen. Ich war gestresst, ging nicht mit Gleichaltrigen aus, traf mich nicht mit Jungs. Ich war in erster Linie eine Mutter für meine Brüder und Schwestern und wurde geschlagen statt geschätzt für all die Hilfe und das Gute, das ich gab. Wenn meine Mutter wütend war, sagte sie oft: «Ich wünschte, ich hätte dich und Ben in St. Lucia verrotten lassen. Es war der grösste Fehler, den ich je gemacht habe, euch beide kommen zu lassen.»

Das Ferientouristencamp war anders als alles, was ich gewohnt war. Wir würden dort zehn Tage mit vielen verschiedenen Familien verbringen. Mutter legte bei unserer Ankunft gleich wieder in ihrem Befehlston los: «Paula, hol mit Ben die Taschen! Ich werde unsere Unterkünfte suchen gehen.» Überall auf dem Platz sahen wir Kinder, die spielen und herumrennen durften, es gab Schaukeln, Fussball, einen Swimmingpool und viele andere Aktivitäten. Ich war glücklich – aber nicht allzu lange: Ich musste sehr aufpassen, dass ich Mum nicht auf die Nerven ging. Ich konnte nirgendwohin, da sie mich ständig im Auge behielt. «Paula, wohin gehst du? Ich habe dir doch gesagt, du sollst auf die Kinder aufpassen. Schau, Kenny ist gefallen und hat sich verletzt.» Sie gab mir vor den Leuten eine Ohrfeige. Ich war daran gewöhnt. Aber ich würde mein Möglichstes versuchen, um ein wenig Spass zu haben. Mum lernte dann, Gott sei Dank, einen Mann kennen, Mr. Smith. Er war sehr dunkel, irgendwie ein bisschen gebildet und ruhiger und toleranter als meine Mutter. Das war gut so. Zwei mit ihrem Temperament wären zuviel gewesen. Er war mit seiner Tochter und seinem Sohn im Camp. Er war nicht Mutters Typ, eher langweilig, rührte sich kaum. Er sah traurig und kraftlos aus, während sie aggressiv und derb war. Sie war ständig in Bewegung. Vieles war langweilig für sie, wenn sie nicht zur Arbeit ging. Sie hatte ein Zimmer für sich, wir Kinder schliefen in gesonderten Unterkünften. Ich genoss das Camp, weil ich nicht kochen und das grosse Haus putzen musste. Meine Mutter bemühte sich sehr, freundlich und anständig zu sein, aber ich glaube nicht, dass ihr an diesem Ort besonders wohl war. Nicht dass sie etwas Besseres gekannt hätte, aber sie wünschte, sie hätte es besser.

Die Beziehung zu meiner Mutter hat mich immer sehr beschäftigt, und sie tut es noch immer. Nachdem ich lange nur ihre verletzende Härte gesehen habe, bin ich mir heute nicht mehr so sicher. Ich weiss, dass ich sie liebe, aber ich mag ihre Art nicht. Oder habe ich vielleicht zuviel Respekt vor ihr, weil sie meine Mutter ist? Damals hatte man mich gelehrt, dass Eltern deine Ratgeber sein sollten, deine Führer, deine Unterstützung in jedem Fall. Von ihnen wurde erwartet, dass sie alles für dich tun. Und du solltest sie nie geringschätzen. Wenn du nicht auf deine Eltern hörtest, dann warst du nicht gut. Ich versuche heute, die menschlichen Seiten meiner Mutter zu sehen, aber es fällt mir schwer. Sie hat mich zu einer Zeit verletzt, als ich sehr verletzlich war. Sie gab mir nie die Möglichkeit, meine Gedanken, meine Wut und meinen Schmerz auszudrücken, während sie mir nur ihre Wut und ihren Hass gab. Diese stecken noch immer in mir. Die Leute wollen es mir nicht glauben, aber ich habe noch immer Alpträume wegen meiner Mutter. Oft erwache ich nachts mit Tränen in den Augen. Ich verstehe das nicht. Warum empfinde ich denn noch immer so? Noch als über Dreissigjährige leide ich unter dem Geschrei, den Beleidigungen und Schlägen und der fehlenden Liebe meiner Mutter.

Was ist es? Warum ist das so? Jemand müsste mir helfen. Wie meine Schwestern möchte ich meiner Mutter gegenübertreten können. Habe ich sie zu ernst genommen? Hatte sie wirklich gemeint, was sie sagte? War ich wirklich so ‹bobo›, so blöd? Ich versuche es zu verstehen, damit ich gegenüber meiner geliebten Tochter nicht dieselben Fehler mache wie meine Mutter. Aber tief im Innern wünsche ich mir, meine Mutter und ich könnten einander begegnen und hätten beide den Mut, uns der Vergangenheit zu stellen. Ich wünsche mir, sie würde mir helfen, ihr näherzukommen, sie zu umarmen und zu küssen. Ich möchte spüren, dass sie die Frau ist, die zumindest soviel Liebe hatte, mich auf die Welt zu bringen. Ich hatte ja nicht darum gebeten, geboren zu werden. Und ich weiss ja, dass es hart war für sie, mit der grossen Verantwortung für sechs Kinder. Aber das war noch lange kein Grund, mich als schwarzes Schaf zu behandeln. Ich hoffe, dass es bei meinem Kind und ihren Kindern anders sein wird. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich mag mag meine Mutter.

«Mr. Smiths Frau hatte einen Schlaganfall», sagte Mutter, als wir in ihrem Zimmer sassen. «An einem Tag war sie noch auf den Beinen, am nächsten Tag hatte sie einen Schlag und starb. «Das passiert oft», fuhr sie fort. «Eine so junge Frau! Ach, vielleicht ist sie besser dran, ich hoffe, sie ruht in Frieden.» Deshalb also war Mr. Smith eine solch traurige Figur! Einer, der mit sich selber und mit seinen Pflanzen sprach und mit allen, die bereit waren, ihm zuzuhören, im Gesicht und im Herzen gezeichnet vom Schmerz. Er war mit dem plötzlichen Tod seiner Frau nicht zurecht gekommen. Er arbeitete seit Jahren in einem Postbüro am Schalter, alle Leute mochten und respektierten ihn. Er hatte ein Haus und zwei gesunde Kinder. Ein Jahr war seit dem Tod seiner Frau vergangen, aber es war wie gestern für ihn.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
200 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783038552284
Tercüman:
Editör:
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi: