Kitabı oku: «Das Grimmingtor», sayfa 6
Den drei Buben gruselte ein kaltes Gefühl den Rücken nieder. Insonders der Kleinste spähte bänglich um sich und sagte auf einmal:
Er wolle heimgehen und das Einmaleins lernen.
Die beiden Brüder lachten ihn aus und schreckten ihn, obschon sie sich auch vor den verwunschenen Geistern nicht sicher fühlten. Da war im fernsten Winkel das Grab von einem unselig und gnadlos verschiedenen Sünder. Der Teufel hatte sein Gebein auf der Jausengrube zerstreut. Pater Isidor jedoch, duldsam und milde wie immer, hatte es aufheben lassen und sonach in der geweihten Erde bestattet.
Ach, die Stralzenkinder wußten nicht, wie der verdammte Kund ihre schöne goldhaarige Frau Mutter geliebet. Wohl aber wußten sie, daß der nämliche alle Buben und Dirnlein gerne in die Zehe zwickte und versuchte, sie in die brennende Hölle hinabzuziehen. Es galt für ein großes wagmutiges Kunststück, neunmal über das grüne Hüglein zu springen, und es geschah nicht selten, daß ein Kind schmerzlich aufschrie und die beinerne Kralle schon zu spüren glaubte.
Die zwei Brüder also schreckten Lukas mit dieser unheimlichen Geschichte; sie wollten ihn zum Winkel locken und sagten mit wilden Gefrießern:
»Traust dich hupfen? Wir traun uns wohl!«
»Bleibets doch da«, bat Regina ein bißchen ängstlich und ein bißchen barsch. »Helfts mir lieber statt dem Geister sekkieren.«
»Ja, Schnecken!« sagte der Älteste.
Und der Jüngste sagte auch so. Sie blieben aber doch bei ihr stehen, betrachteten breitspurig und kommod, wie ihre harten kleinen Finger das Kot aus dem Sinngrün stringelten und Kreuz und Namenszeichen in die Rußdecke gruben. Mit der linken Hand raffte sie noch immer das Fürtuch an sich, und so sprach sie geheimnisvoll zu sich selbsten:
»Wieder eine Perl aus dem roten toten Meer.«
Es war fast dusend. Hinter den Kirchenfenstern schimmerte blutfarben das Ewige Licht. Zwei Eulen schwebten sanft und lautlos zwischen den Kreuzen. Draußen auf der Wiese flog in feinen Bändern der Nachtnebel. Die Kinder horchten. Es mußte noch ein Mensch im Freithof sein; das stumpfe, welke Gras dämpfte seinen Schritt. Lukas drückte den Kopf in die Schultern. Keiner rührte sich. Auf einmal sagte Markus:
»Der Bäckenhansei.«
»Kömmts schauen, was er tut!« sagte Matthäus.
Da hauchte die kleine Stralzendirn einen schweren Seufzer heraus.
»Wieder eine Perl«, sprach sie alsdann, »welche der Sterngucker Kaspar beim roten toten Meer gefunden hat. Und die Geschicht ging noch weiter …«, sprach sie.
»Wie denn?« frug Lukas.
»Da waren einmal drei Könige«, fing sie an, »jeder in seinem Reich, und jedes Reich so groß, daß einer den andern nie heimsuchen konnte. Trotzdem sie also keine Bekanntschaft mitsammen hatten, und trotzdem der erste weiß, der zweite braun und der dritte schwarz gewesen ist, glichen sie sich in ihrem Gebar wie Geschwister. Sie setzten sich jeden Tag zackige Goldkronen auf das Haupt und regierten das Land mit einem silbernen Staberl.«
»Kömmts!« sagte Matthäus gähnend zu den Brüdern. Vielmehr nämlich als auf Reginen lauschte er zum Bäckenhansei hin, der leise betend durch den Freithof zaschte und auf den Gräbern, wo kein Kreuz und kein Zierat war, eine Kerze anbrannte.
»Wart!« sagte Lukas, »die Geschicht geht noch weiter.«
Das Mädchen kniete tiefgebückt, langte Beere um Beere aus dem Fürtuch und sprach:
»O ja, die drei König haben gut gelebt, im Essen und Trinken nit gespart und auch dem Gesind nichts abgehn lassen. Ihr Reichtum hat sich gemehrt. Der weiße Kaspar hat so viel Gold in seiner Schatzkammer gehabt, daß die Tür nimmer zugegangen ist. Der braune Melcher hat so viel Weihrauch gehabt, daß ihn die Diener schon in aller Früh mit Wolken einhüllen mußten wie den lieben Herrgott. Der schwarze Balthauser hat das Kostbarste besessen, was unsereins gar nit zu schmecken kriegt, nämlich Myrrhe.«
»Was ist das eigentlich?« frug Lukas.
»Myrrhe?« sagte Regina und legte den Finger an die Lippen und tat geheimnisvoll. Item, sie wußte es selbsten nicht …»Red mir nit alleweil drunter«, sagte sie endlich. »Die Künig haben beim Tag alsdann fleißig regiert. Auf die Nacht, wenn der Schatten und die Finsternis kömmen ist, und wann die andern Leut sich gefürchtet haben, sind sie unter das Dach hinauf, um die Sternlein und den Mond zu betrachten. Es war ihnen die ganze Himmelsferne bekannt. Von jedem Lichtel wußten sie, woher es kam, wohin es reisete, und ob es bedeuten sollt Hunger, Seuchen und Krieg oder Weizbrot und Wein und pfundige Butterkugeln. Doch einmal erspähten sie zu ihrer Verwundernis einen Fixstern mit einem Kometenschwanz, so groß und so gelb, wie bevor keiner erschienen war. Da haben sie sacht die Köpfe gebeutelt und weislich gefragt, was dies für ein Zeichen wär. Es stund aber in einem alten Buch zu lesen, dies wär das Zeichen, daß unser Heiland geboren ist. Stante pede haben sich die drei Sterngucker auf die Reis’ gemacht, der weiße Kaspar mit einem Kufferl voll Gold, der braune Melcher mit einer Spatel voll Weihrauch und der schwarze Balthauser mit einem Becherl voll Myrrhe.«
»Hienach sind s’ zum Herodes. Kenn mich schon aus«, sagte Markus, drehte sich um und ging.
Auch bei Matthäus fand die schöne Geschichte keinen Anklang. Während Regina sich mit dem Schmücken des Grabes und mit dem Erzählen abmühte, hob er ihre braunen Zöpfe und spickte sie dick mit Hagebutten. Lukas lachte.
»Was lachst denn so?« frug sie über die Achsel.
»Nix!« sagte der Kleine scheinheilig. »Hiernach sind s’ auf Bethlehem. Ich kenn mich schon aus!«
»Oh, nit so schnell!« redete die kleine Dirn entgegen und dichtete den Heiligen Drei Königen eine neue Lüge an, nur damit die Buben sie im Freithof nicht allein ließen. »Itzten«, sagte sie, »tut jeder erst sein altes Buch und eine Kerze in den Jausensack, damit er den Weg wohl findet in der dunklen Nacht. Dann gehen sie langsam … langsam, rasten alle sieben Stund. Beim roten toten Meer kömmens zusammen und mögen nit weiter.«
Es wurde still. Der Wind bog sich an der Kirchenwand nieder und erlosch im Rasen. Die Beeren auf dem Erdreich hatten schon den Glanz verloren. Beim Totenkeller der Schein war grau geworden … flatterte wie eine leere Hand immer näher.
»Bist fertig?« frug Lukas.
»Gleich!« rief Regina und verzettete fibbernd den Rest Hagebutten aus der Schürze. Dabei wiederholte sie völlig in Gedanken:
»Und sie mögen nicht weiter.«
»Du hast gesagt, eine Perl hätten s’ gefunden!« rief Lukas fordernd.
»Ja, eine Perl«, wiederholte sie ratlos und wußte vor Furcht und Eile nicht mehr, was sie hatte erzählen wollen. In dieses bange Schweigen hinein sagte plötzlich hilfreich der Bäckenhansei:
»Nämlich rund um das rote tote Meer wachst gar viel wilder Rosendorn. Und diemals die drei gottfrummen Künig dazukamen, hing eben alles voll Hetschebetschen. Es war wohl Winter nach der aufgesetzten Weltordnung; aber keine Flocken hat sie zugedeckt, kein Lüftel hat sie gepflückt, und keinen hungrigen Vogel hat es so weithin vertragen. Es war eine erstickliche Schwüle über dem nackten Stein und dem abgestandenen Wasser. Den frummen Künigen wurden die Augen müd. Sie breiteten ihre Purpurmäntel unter ein Gesträuch und legten sich zum Schlafe. Da träumten sie wundersamlich alle drei das gleiche. Sie träumten, es hingen über ihnen im Dorn unzählige Flammen, es seufzeten kleine feine Zungen um Barmherzigkeit, und immer deutlicher hörten sie den Namen Jesus. Davon erwachten sie. Es brunn wirklich rings das Rosengestauder aus vielen Lichtern. Die Nacht erhellte sich, und das rote tote Meer wurde ihr Spiegel. Die drei Könige, welche im Himmel und auf Erden schon große Dinge bestaunt hatten, waren allhier vor einem neuen Geheimnis. Jeder mußte um sein altes Buch greifen, jeder studierte darin die halbe Nacht. Endlich ließ der weiße Kaspar seinen Finger auf einem Zeichen ruhen und sprach:
›Arme Seelen flackern auf dem Dornbusch … die im Reichtum verdorrt sind.‹
Als er schwieg, hob der braune Melcher die Hand und sprach: ›Arme Seelen rauchen auf dem Dornbusch … die zuviel der Ehren empfangen haben.‹
Der schwarze Balthauser klopfte an seine Brust und sagte: ›Arme Seelen wimmern auf dem Dornbusch … die in der Liebe verbrunnen sind.‹
Nachdem sie dieses also erkannt hatten, zog jeder seine Kerze aus dem Sack und hielt den Docht an den wilden Rosenstock und nahm eine Flamme, um sie dem Heiland der Welt an die Wiege zu tragen. Sie machten sich alsbald auf den Weg. Sie wateten unerschrocken durch das rote tote Meer, und wenn es so tief war, daß die Wasserflut bis an ihre Lippen quoll, hoben sie die Kerze über sich, damit sie nicht erlosch. Sie brauchten Tag und Nacht, bis sie am andern Ufer stunden. Allein auch hier vergönnten sie sich keine Rast. Sie gingen und gingen durch die weite Landschaft des Herodes, und auch bei ihm selbst verweilten sie nicht; denn der Stern zeigte weiter, und die Flamme in ihrer Hand war schon klein. Als sie aber letztlich im Stalle von Bethlehem Jesum fanden, den sie gesucht hatten, da fielen sie matt in die Knie und legten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe hin. Öchsel und Esel rochen daran. Das Kind jedoch schlief. Maria, seine Mutter, zopfte sich gerade das seidene Haar und frug:
›Heilige Drei Könige, was bringt ihr da?‹
Es wollte jeder das Seine zur Antwort geben. Der Sinn war vom Glanz geblendet, der Mund vom Durst verschmachtet, die Hand vom Tragen schwer. So ließ jeder das Wachs dem Kinde auf die Brust tropfen, und jeder sprach wundersamlich:
›Eine Allerseelenflamme.‹
Da wurde das Kindlein munter und griff darnach. Und Maria, seine Mutter, sang:
›Die drei Seelen, o Jesus mein,
Werden dem Kaspar, dem Melcher und dem Balthauser sein.‹ So, das ischt die Geschichte von den Hetschebetschen, von den Sternguckern und vom Jesuskind …«, sagte der Bäckenhansei.
Die Kinder schauten ihn groß an. Regina legte wiederum den Finger geheimnisvoll an die Lippen und frug:
»Hansei, hast du drum so viele Kerzen angezunden, daß Jesus sie sehen soll?«
»Ja«, sagte der Bäck, »eine hab ich annoch. Geht mit zum Jager seinem Büherl; dort zünd ich sie an.«
»Na, na. Muß der Frau Muatter helfen Weinbeerl klauben!« rief Lukas und verschwand.
Matthäus lachte grölend hinter ihm drein.
Es war indes die frühe Nacht gekommen. Schwarz reckten sich die Kreuze aus dem schwarzen Anger. Die weißen Dahlien und die gelben Ewigkeitsblumen hingen traumig an geknickten Stengeln. Dazwischen leuchtete ein gemalter Heiland. Moospölster lagen über den Weg gestreut. Fein strich der Nebel durch den entlaubten Holunder … Hansei zaschte murmelnd voran. Die zwei Kinder hielten sich an der Hand, sie gingen auf den Zehen und wagten kein lautes Wort, denn sie meinten, er werde mit dem armen Sünder eine unheimliche Zauberei aufführen. Über dem Grab im Winkel häuften sich zerbrochene Tonscherben. Dürres Efeugewind, Dachschindeln und Steine waren hingeschmissen. Der Bäck räumte den Unrat hintan. Dann steckte er eine Kerze ins Erdreich, wo es von einer Schermaus aufgewühlt war, und rieb sein Feuerzeug. Blau stand die Flamme über dem Docht. Kein Luftzug berührte sie. Ferner Vogelflug und der Hauch der Kinder schwang durch die Stille.
»Bst!« sagte Hansei, »die großen Leut werfen Steine her, und die kleinen hüpfen über sein Herz, selthalben kann er nit schlafen.«
»Warum ist er denn verdammt?« frug das Dirndl scheu.
»Bst!« sagte Hansei. »Sei stad und bet ein Vaterunser für ihn. Er hat ein Herz wie der schwarze Balthauser gehabt. Wo viel Liab ischt, da ischt viel Myrrhe.«
»Was ist das?« frug Matthäus.
Der Bäck wußte es selbsten nicht genau. Seine blauen Augen glurten leer und rund in den Schein. Er sagte mit starren Lippen:
»Die Myrrhe ischt ein Tropfen … gelb wie der Wein und bitter wie der Tod. Ihr werdet sie annoch koschten müssen. Dann gedenket an die arme Seel in der Gruben. God sei uns allen gnädig! Amen.«
Matthäus zog das Mädchen aus dem Winkel fort. Es war ihnen beiden kalt und bang geworden. Sie wagten nicht umzuschauen, sie gingen mit eiligen Schritten aus dem dunkeln Freithof und erzählten keinem Menschen, was der Hansei Rares zu ihnen gesagt hatte.
Am Tage vor Martini sprach der Propsteipfleger beim Stralzen vor. Er hatte ein graumeliertes, festes Papier in der Hand, welches der Länge und der Breite nach zweimal gefaltet war und dort, wo die Ränder des Schreibens sich berührten, eine schon erbrochene bischöfliche Sigill und auf der andern Seite folgende Anschrift zeigte:
Grätz.
An die Propstey Herrschaft Stainech
Gstatt.
Im Schreiben selbst gab der Prälat in regelmäßigen, edlen und ein wenig nervösen Zügen seinen Willen solchermaßen kund:
»Lieber Pfleger!
Ich bin dem Wunsche des Pater Isidor gar nicht entgegen, da ich ihn ganz billig finde; und ist demnach von Seite der Herrschaft mit dem Pächter Stralz zu unterhandeln, daß er gegen verhältnismäßigen Abzug an Pachtquantum, das 1/4 Tagwerk vom Dienerfelde, welches hienach zu messen sein wird, abtrete. Dieses wird denn zum unentgeltlichen Genusse ad dies vitae meae nach Pater Isidors Gesuch zu vertheilen sein, bei meinen Nachfolgern wird um Fortsetzung dieser Wohltat anzusuchen sein. Ich will diese Kleinigkeit nicht gerade alieniren, indem es viele Schreiberei kosten würde, als ob darüber die Herrschaft Gstatt zu grunde gehen könnte. Pater Isidor hat sich um meine Pfarre schon viele Verdienste erworben, daß es billig ist, sich derselben durch das bei meinen Nachfolgern zu erneuernde Gesuch zu erinnern. Dies ist demselben als Bescheid auf seine an mich einbegleitete Bitte zu intimiren.
Grätz, den 6. November 1806. Gotthard, Abt.
NB. Dem Bauern vulgo Hochsattler in der Sölk wird eine entsprechende Entschädigung von 15 fl. für den vom Hochwild verursachten Schaden, sowie ein Metzen Korn zu überweisen sein.«
Vom Matthäus Stralz stand kein Wort. Und maßen dies als Zusage anzuerkennen war, packte die Frau Mutter ihm den Koffer. In der Morgenfrühe des Martinitages stiegen Vater und Sohn, zur Reise wohlgerüstet, in den eigenen Wagen, der sie zunächst bis zum Herrn Göden nach Stainach bringen sollte. Von dort aus gedachten sie die Post zu benützen oder auch für eine längere Wegstrecke die Fahrgelegenheit des Matthäus Ennshofer. Denn es war wohl zu erwarten, daß er selber eine derartige Einladung entgegenbringen werde, indem er nämlich längst versöhnt war und zu den Osterfeiertagen allemal einen verläßlichen Boten schickte mit einem Korb, enthaltend gebundene und gefärbte Eier, drei flaumige Weihbrote und drei Silbertaler.
Voll Gedanken nun, die sich auf den Göden, auf süßes Zuckerwerk und die unbekannte Welt bezogen, saß Matthäus vergnügt in der Kutsche.
»Schau dir’s Haus gut an, was … so Gott will … später dein gehört, und mach ihm keine Schand.«
So sagte der Herr Vater.
Die Frau Mutter wischte sich mit dem Schürzenzipfchen die braunen Augen aus, drückte ihm zitternd das Kreuz auf Stirne, Lippen und Brust und trat wieder zurück unter die Dienstboten und Einleger, die auch beim Haustor standen. Die beiden Brüder hatten den Hund am hänfernen Strick gepackt und hielten ihn immer fester und schauten wie junge Stiere. Ganz umsonst befahl ihnen die Regina, sie sollten »Pfüat Gott« sagen. Ganz umsonst.
Da nahm sich die kleine Stralzendirn den Mut, lief zum Wagen, streckte die rauhe, abgeschürfte Kinderhand mühsam hinauf. Und sagte mütterlich und doch schelmisch lächelnd:
»Mein Liaber, hiaza muaßt brav sein!«
»Hüa!« schrie der Matthäus und faßte keck die Zügel, die auf seines Vaters Knien lagen. Und fuhr davon.
Da gab es den Brüdern und dem Hund einen Ruck. Und sie liefen der Kutsche nach, bis sie müde wurden.
Aber Matthäus drehte sich nicht mehr um.
IN DER STUDI
Ähnliches trug sich auch in den folgenden Jahren zu, nur weniger feierlich und hoffnungsfreudig.
»Mach’s du besser!« hatte der Stralz zum Markus gesagt. Den Lukas aber entließ er ohne Spruch und Lehre.
Und nun saßen sie alle drei in der untersten Klasse des Benediktinergymnasiums. Dem Matthäus wurde in Anbetracht seines mächtig breiten Buckels ganz hinten der Platz angewiesen; dem Lukas ganz vorn, weil er seit dem Frühling erst elf Jahre alt war. Sie verachteten die mannigfachen Disziplinen der Wissenschaft beinahe gleichmäßig. Im Lateinischen kam der Älteste itzt das drittemal ohne Hindernis zur konsonantischen Deklination. Für dieses schwierige Kapitel brauchte er bereits sein eigenes System, zu welchem er herablassend auch die Brüder anlernte.
»Merkt euch«, sagte er, »eine unteutsche Sprach ist wie ein ausgedarrtes Brotstück, kannst rundum nichts wegbeißen.«
»Ist eh wohl wahr«, hatte Markus beigepflichtet.
»Wann mir wer eine harte Rinde fürhalt, sag ich allemal, ich hätt inwendig ein Halsgeschwür. Und bald mir der Professa einen Brocken zuschmeißt, der mir nit zum Maul steht, nachher hust ich, daß ihm mein Speichel ins Gesicht spritzt.«
»Hülft dir das beim Schreiben auch?« hat Markus boshaft gefragt.
»Beim Schreiben, o je … Wann mich ziemt, es ist ein Wort gefehlt, so schmier ich gleich einen Batzen drüber.«
Daraufhin gab Markus sich zufrieden. Wie es jedoch mit dem Lukas soweit war, sagte das Kind hartnäckig:
»Mein Liaber, so taten die römischen Schriftgelehrten nit!«
»Scher dich nit, du Tschappel! Die römischen Schriftgelehrten hat Godvater bei der Sündflut ersäuft.«
»Und die Patern?«
»Meinst …«, rief Matthäus Stralz lachend, »meinst … die traun sich mit mir raufen?«
Markus bekundete wenigstens für Tiere und Pflanzen einiges Interesse. Er war auch, was Erfassen und natürliches Beobachten anlangt, den Stadtkindern voraus, obschon er früher die lebendigen Geschöpfe gedankenlos übersehen hatte. Aber das Heimweh äußerte sich nunmehr auf seltsame Art. Er beschrieb in den Freiviertelstunden jedes Pferd, Rind und Schaf in seines Vaters Stall; er konnte die Knochen und Eingeweide dieser Tiere mit solcher Genauigkeit aufzählen, als wäre er ein geprüfter Kurschmied. Wußte die Brutzeit der Vögel und bestimmte nach den Farben, Sprenkeln und Tupfen der Eier, was für ein rares Federvieh sich daraus entwickeln werde. Wann die Zöglinge, in Reih und Glied spazierend, weitere Ausflüge unternahmen, blieb er oft selbstvergessen bei einem pflügenden Knecht, bei Schnittern oder Mähdern stehn, bis ein Jünger des heiligen Benedikt oder ein Frater Dominikaner ihn zu vorschriftsmäßigem Betragen anhielt.
In der Schule selbst vermochte er über die Natur nichts auszusagen. Ja, er mußte zuweilen auflachen, und es bereitete ihm den spaßigsten Eindruck, wenn die Lehrer um Dinge frugen, welche man seines Erachtens entweder von selber verstand oder sein Lebtag nicht zu wissen brauchte. Trotzdem verspürte er niemals Langweile. Er versah seine zahlreichen Studierbücher mit Abziehbildern, las Räubergeschichten und Volksbücher; und gar seit das Stiftsgymnasium durch ein Dekret Franz des Ersten restauriert war und die Zöglinge das dunkle Dominikanerkloster mit der lichten weitläufigen Abtei zu Admont vertauscht hatten, befand er sich als heimlicher Forscher stetig auf den Beinen.
Dank der rühmlichen Fürsorg des Magisters Raimund Winkler, welcher den Öblinger Kindern das heilige Evangel sowie den Katechis hinreichend und sattsam eingedrillt, hatten sie itzt nicht not, die schläfrigen Stunden des Silentiums mit besagter Memorierkunst auszufüllen. Sie entwichen vielmehr bei schicklicher Gelegenheit hinauf in das Orgelgestühl, und sich in die Schar der Sängerknaben mischend, welche kunstvolle Kantaten und Messen übten, musizierten sie aus ihrem ungehobelten Kehlkopf wacker mit. Solches bemerkend, drückte der regens chori anfänglich ein Auge zu. Mußte jedoch ob ihrer unbändigen Stimm alsbald auch das Ohr zudrücken und sie schließlich fortschaffen.
Die drei Stralzenbuben pilgerten wohlgemut um ein Häusel weiter. Indem für sie nämlich auf der Landkarte nichts Gescheites zu sehen war, würden sie, wie Matthäus ganz richtig behauptete, die Welt schon einstmalen auf der Wanderschaft kennenlernen. Fürderhand schnüffelten sie zu Admont jedes Mausloch aus. Und da kamen sie, weiß nicht wie, zu einem großen schmiedeeisernen Schlüssel. Selbiger sperrte das Haustheater auf, welches der kunstsinnige Abt Gotthardus trotz Krieg und Teuerung nach städtischem Muster hatte erbauen lassen.
Die Stralzenbuben ergötzten sich baß an Dekoration, Versenkung und Maschinenwerk, und sie haben sich mehreren Spießgesellen anvertraut und etlichmal im puren Mondschein den »Boarischen Hiasel« aufgespielt … was nie und nimmer ist entdeckt worden.
Also ist erwiesen, daß sie ihre Studierzeit mit wenig Eifer und Nutzen verwendeten.
Lukas, der Kleinste, mußte ihnen die Hausaufgaben anfertigen. Markus hatte sich aus solcher Ursach eine sehr schräge, Matthäus eine kerzengerade Schrift zu eigen gemacht, welche unschwer nachzuahmen war. Und das Kind befleißigte sich dessen; praktizierte zum deutlichen Unterschied in jedes Pensum andere Fehler, so daß die drei Öblinger letztlich auch durch mannigfache Wunderblüten der deutschen Sprachkunst hervorstachen. Die Regeldetri jedoch behandelte Lukas mit größerer Sorgfalt, weil er, ordentlich und sparsam veranlagt, bei diesem Verfahren bald spürte, daß Geld und Geldeswert nur durch ehrliche Arbeit im richtigen Verhältnis zueinander bleiben. Er empfand es freilich nur in primitivsten Begriffen, etwa so: wie eins und eins zwei gibt, unter der Bedingung, daß man nicht schwindelt.
Einen gewissen Sinn für die Welthistorie hatten alle drei vom Vater übernommen. Doch zur Zeit reichte er just für die sichtbarsten Äußerungen derselben, wie Feldzüge, Schlachten, Aufstände und die dabei in Betracht kommenden Waffen und Uniformen. Den Grund oder Zusammenhang der Begebenheiten erfaßten sie noch nicht, etwa schon deshalb, weil sie unreif und ohne Vorkenntnis in dem Mittelpunkt einer furchtbaren Epoche standen. Sie hörten geschichtlichen Erzählungen mit rührender Hingabe zu, begeisterten sich, aber weil es im Letzten, Tiefsten nur bildlich blieb, verwechselten sie die Dinge bald.
Geradezu taub waren sie für physikalische Belehrung. Matthäus hatte auch in diesem Punkt die maßgebende Ansicht. »Das Wetter …«, sagte er, » … steht im Mandlkalender, und das andere ist ein Dreck.«
Die Brüder nickten und betrachteten den Gegenstand für erledigt.
Derart also gestaltete sich der Bildungsgrad der Stralzenbuben; und als sie im Jahre neun mit rot durchstrichenen Theken und spottschlechten Zeugnissen kreuzfidel in die Ostervakanz fuhren, konnte jedermann bereits annehmen, daß sie ohngeachtet ihrer hellen Köpfe niemals würden dem Gymnasium zur Zierde gereichen.
Zumal aber die Umstände einer großen herzbewegenden Not alles Persönliche in den Hintergrund drängten und der Stralz mit seiner Zeitung, dem Tagebuch und kriegerischen Gesprächen genug zu tun hatte, fiel der Empfang nicht sehr betrüblich aus, und das Gesicht der Buben strahlte immer breiter in ganz strafwürdiger Glückseligkeit.
Sie fasteten alsdann am Karfreitag, heiligten löblich die Ostervigil, indem sie ein Osterfeuer auf dem Hollerbühel abheizten, taten Sonntags dem Geweihten alle Ehre an und trabten schon am Dienstag wieder nach Admont, weil dortselbst ein großer Wolf sein Unwesen trieb.
Wie vormals angedeutet, war das Vaterland der Schauplatz bitterster Begebenheiten. Rückblickend fand der Stralz in seinen Aufzeichnungen bedenkliche Lücken, welche er seit Jänner mit Absicht frei gelassen. Er gedachte nämlich in späterer Zeit sie mit dem wahrhaftigen Sachverhalt der Dinge auszufüllen, sintemal sie itzt noch entstellt in das Volk kämen oder gar vertuscht würden.
Dieses letzte bestritt zwar sein Gevatter, der Ennshofer, der häufig herauffuhr, um zu disputieren, ansonst aber waren sie einig, fürnehmlich was den Generalissimus Erzherzog Karl betraf. Sie hatten sich gleich ihm gegen eine allzu frühe Erhebung gewehrt, weniger weil sie über die ungeschulte Landmiliz ihre Befürchtung hegten oder den bedrohlichen Worten Napoleons Gehör gaben, viel eher aus der Bedächtigkeit und Ruhe ihres Hausverstandes, der alles abwartete und doch nie zu spät kam.
Ganz gegenteiliger Ansicht war der Pfleger von Gstatt, der im vergangenen Herbst den Erzherzog Johann auf die Gemsjagd begleitet hatte. Seine Hoheit, so erzählte Pater Gabriel, wäre unverhohlen für das Dreinschlagen begeistert und habe, während sie im Schwarzensee des Weidwerks pflogen, Forellen fischten und schließlich acht Stunden Wegs bis Öblarn unter die Füße nahmen, deutlich ausgesprochen, daß der Kanzler Graf Stadion und angeblich sogar Fürst Metternich einem Beschlusse zustrebten und, von der Kaiserin unterstützt, ihr Ziel zweifellos auch erreichen würden.
Wie recht Pater Gabriel behalten sollte, zeigte sich bald. Und vom Beispiel sowie vom Aufrufe der guten Wiener angezündet, flammte der vaterländische Opfersinn um sich greifend in entlegensten Dörfern empor, und schon im Winter ging zugleich mit den Freiwilligen und den angeworbenen Rekruten mancher Schlitten über die verwehte Landstraße gegen Grätz zu, vollbepackt mit Messingpfannen, mit Mörsern, kupfernen Schnapskesseln und blanken Gugelhupfmodeln aus dem ehrwürdigen Hausrate der Bürgersfrauen und Bäuerinnen.
Das Frühjahr, obwohl von Schneewehen, Sturm und Regengüssen heimgesucht, stand allbereits im Zeichen des Krieges. Und Vater Stralz verfolgte die Entwicklung desselben mit wachsender Teilnahme. Er saß abermals bis tief in die Nacht über die Zeitungen und Extrablätter geneigt, um so mehr, als diese stoßweise eintrafen und dann wieder durch die Unregelmäßigkeit der Post für Tage und Wochen ausblieben. Die meiste Bedeutung legte er den Vorgängen an der Donau bei. Als jedoch die Berichte darüber unklar wurden und schließlich jedes Abschlusses entbehrten, als er, auf dem Plane von Bayern nachprüfend, seinen Finger immer näher der österreichischen Grenze rücken mußte, fing er an, den Kopf zu beuteln, durchstrich in seinem Tagebuch diejenigen Stellen, welche er von Amts wegen erfahren und notiert hatte, und rechtfertigte sich im Anschluß daran folgenderweise:
»Schreiber dießer Zeilen findt es für Geziement, Schein und Beschönigung aus sein Büchel zu entfernen; dieweil solches wohl zur Beruhigung der tumen Leuth zweckdienlich, eines aufmerkenten und Bedachtsamen Bürgers aber unwürdig ist. Er siehet ferners auch von Niederschrift der Gerücht und Lugen ab, so durch mancherley Abendtheurer in Umlauf gebracht werdent, und will zuwarten, bis er die Schlappen, denn sotane mögen es wohl seyn, aus der Perspektive beurtheilen kann.
Mit Vergunst hätte Man dem Lauff der Welt nit sollen fürgreifen, sondern Bedenken, das auch dem Außland wird die Gal übergehen, insonderheit den bayrischen Brüdern, welche itzt, Gott verzeih Ihnen die Sünd, ihr teutsches Blut mißachtent, sich an Österreichischen Länden, nenne Tyrol vergreifent und den Hunden von Rothhosen ihner schäbiges Malzbier teuer anhängent. Die richtige Zeit für einen Vormarsch wär um Pfinzten gewest, wo das Summertraid ist gesäet und die Erdnudel und das Blaukraut gesezet. So manches Knechtel hätt der Bauer noch herlassen. Und kein solches Sau Wetter hätt sie nit aufhalten. Item! daß sie bei Alt Ötting schon steckengebliem, wird aber auch das Wetter nit verschuldt haben, vielmehr eine Lästerliche Schlamberey des Generalquartir Meisters Prochaska. Der Veitkramer, so bis Oberndorf Hausieren geht, weiß dießes, sintemahl es eine Bayrische Gräntzwach auf der Lauffner Brucken kund gethan hat.
Und was ist es bei Hirschau und bei den Ort Ursensollen gewen? Mitte April, das die Unsern gerade auf die Stadt Regensburg sind losgereiset …
Itzt weiß Man es …«, hatte Vater Stralz, wahrscheinlich zu Ende des Monats, noch beigefügt, » … in der Nahent von Avensberg, muthmaßlich auch in Thann oder Straubing habent die Österreicher einen Pluzer gemacht. Alsdann auch Regensburg ist in Verlur, und der Napoleon marschiret gegen den Inn. Also es wird Ernst. Doch ist zu verhoffen, daß dem zu Folge die Sach einen bessern Fortgang nimt, maßen der Mensch auf Eigenen Grunt und Boden mehrer Gewalt und Selbstvertrauen hatt.
Es bedauert Einen nur, das die Leuth in Wirtshaus ihnere Brothladen weitmächtig aufreißent, und Trotz dessen die Franzosen schon zweymahl unser Dorf Heimgesucht haben, noch glaubent: der Herr Gott wird uns baß behütten. Ebenso Übel steht Ihnen das Kritisieren über den Generalissimus an. Maßen Man einen einzigen Menschen, eh daß sich der Ausgang gezeiget, keines Unrechts nicht zeihen soll und selbiger Karl sich vor dem Krieg ohnedem gewehrt hatt. Der Pfleger, welcher seine gantze Hoffnung auf sein Erzherzog Johann sezet, geht mir seit einer Wochen stätig aus den Weg, weil die nachricht von Italien nicht dazu angethan ist, neuen Muth zu schöpfen …«
Solches schrieb Vater Stralz und legte in seiner Art die Ereignisse zurecht, wie sie sich eben ins Gebirge heraufverschlugen. Es war sicher ein unvollständiges und einseitiges Bild, welches er und die Öblinger empfingen, zumal ihnen ja eine wirkliche Berührung mit der Welt mangelte, jedoch darum nicht weniger innig und ernsthaft; denn in Bruchstücken liegt oft mehr Gründlichkeit als in einem wirbelnden Ganzen. Immerhin belebte die meisten noch eine bewundernswerte Spannkraft. Sie hatten das sichere Gefühl, eine heilige Sache auszutragen. Und im Taumel des Außergewöhnlichen dahinlebend, vergaßen sie vielfach der Entbehrungen und Opfer, die ihnen täglich auferlegt wurden. Sie vergaßen aber auch den einzelnen; und ihren Blick auf die Oberfläche der Ereignisse richtend wie auf eine schwebende Gewitterwolke oder ein Meer, beachteten sie abertausend verschwindende Schicksale nicht, ausgenommen jene zunächst Betroffenen, welche durch einen Bruder, Freund oder Sohn gerufen, geistig, vielleicht sogar augenscheinlich seiner Qual beiwohnten; ausgenommen auch die wenigen, welche ein unbedecktes Herz haben, alle fremden Wunden und Tränen fühlen … auch wenn selbe nicht offenbar sind. Item, es litt jeder für sich allein, starb jeder seinen Tod, und es ist nicht auszudenken, um wieviel schrecklicher die Vorstellung eines Krieges ist, wenn gleichsam nicht die Wolke, sondern die Tropfen betrachtet werden.