Kitabı oku: «Es ist Sarah»

Yazı tipi:

Sie kommt zu spät, atemlos lachend. Sie spricht zu laut, zu schnell, sie ist zu stark geschminkt, ein Moment wie in Zeitlupe: Es ist Sarah. Am Silvesterabend begegnen sie sich zum ersten Mal: die Erzählerin, eine Lehrerin und frisch getrennte junge Mutter, und Sarah, die hochbegabte exaltierte Violinistin. Beide leben in Paris, auf den ersten Blick vielleicht das Einzige, was sie verbindet. Sarah ist temperamentvoll, impulsiv, leidenschaftlich, die Erzählerin eher kontrolliert, unauffällig. Was als Freundschaft beginnt, hebt in einem Crescendo zu einer Amour fou an, die alles hinfortfegt, was die Erzählerin zuvor gelebt hat.

Eine Liebesgeschichte, wie sie so noch nicht erzählt wurde: Poetisch, kraftvoll und kompromisslos beschreibt Pauline Delabroy-Allard eine Amour fou zwischen zwei Frauen, entwirft das ungeschminkte Porträt einer Liebe voller Schönheit und Schrecken. Ganz im Bann dieser melancholischen und mitreißenden Komposition verfolgt der Leser das Aufflammen und Verlöschen dieser Liebe bis zu ihrem dramatischen Schlussakkord.

»Ein bewundernswerter Stil, wie ein Wirbelwind und doch präzis, ein Text auf den Spuren von Marguerite Duras und Roland Barthes. Pauline Delabroy-Allard hat das Zeug zur großen Autorin.« Lire

»Eine ebenso sinnliche wie hypnotische Handschrift, ein gewagter Roman, ein beispielloses Porträt, das den Leser augenblicklich packt. Was für eine Großtat für einen ersten Roman.« Livres



Stille wird eintreten,

und man wird keine Wörter mehr haben, um sie zu sagen.

Annie Ernaux, Die Jahre

Oh dunkler Tag helle Nacht

Meine Verschwundene in den Armen

Und in meinem Innern wacht

Nur noch dein Raunen

Louis Aragon, Der Flieder

Inhalt

Prolog

Teil I

1. Es geht um Sarah …

2. Es ist ein Frühling wie jeder andere …

3. Ein unangenehmes Klingeln …

4. Sie ist Violinistin …

5. Am frühen Morgen …

6. In den Tagen darauf …

7. An einem Märzmorgen …

8. Im koreanischen Restaurant …

9. Ich frage sie, was sie …

10. Die Tage ziehen vorbei …

11. Sie fragt mich, was ich …

12. Sie wünscht mir Glück …

13. Sie schlägt vor, dass ich …

14. Das Theater heißt …

15. Das Stück hat sie aufgwühlt …

16. Sie macht eine Bewegung …

17. Es geht um Sarah …

18. Soufre. Schwefel …

19. Sie überreicht mir das Geständnis …

20. Nach dem Film …

21. Ihr Parfum. Ihr Duft …

22. Ein Frau lieben …

23. An den darauffolgenden Tagen …

24. Nicht bei ihr zu sein …

25. Sie schreibt mir …

26. Ein glücklicher Zufall …

27. Vor ihrem Abflug …

28. Sie wird bald fünfunddreißig …

29. Mit ihrem Streichquartett …

30. Sie liebt mich …

31. Es ist schön …

32. Aus einem Medizinbuch …

33. Sie hat keine Kinder …

24. In jenem Frühling …

35. Ein Fest, ein Abend …

36. Ich fahre allein …

37. Sie trägt nur String …

38. Sie richtet sich neben mir auf …

39. Les Lilas entstand …

40. Sie schafft es morgens nicht …

41. Sie ist sechseinhalb …

42. Sie schenkt mir eine Platzkarte …

43. Sie legt mitten im Gespräch auf …

44. Sie hat Läuse …

45. Der Juni vergeht schnell …

46. Sie geht mit ihrem Quartett …

47. Mitten in der Nacht …

48. So ist es den ganzen Sommer über …

49. In einem Restaurant …

50. Sie folgt mir in ein Haus …

51. Im ausgestorbenen Haus …

52. Unsere Gefühle sind …

53. Mitte August fliegt sie davon …

54. Darum geht es, um Sarah …

55. Das Telefon klingelt …

56. Die Kühle der Bastei …

57. Sie ist überrascht …

58. Sie streift oft …

59. Sie sagt ist doch scheißegal …

60. Ohne Vorwarnung ist es Herbst …

61. In Brüssel schläft sie …

62. An einem Sonntag …

63. Sie reist nach Japan …

64. Sie geht wieder …

65. Manchmal wird sie verrückt …

66. Hiroshima mon amour …

67. Sie wartet noch manchmal …

68. Der Winter ist zurück …

69. Es ist ein Frühling wie jeder andere …

70. Sie hatte als Jugendliche …

71. Sie lacht vor Freude …

72. Um den ersten Jahrestag …

73. Sie liebt es, mir Romane …

74. Sie will, dass wir …

75. Der Juli kommt geflogen …

76. Sie sagt nein, niemals …

77. Sie bekommt Angst …

78. Sie lächelt mich an …

79. Es geht um Sarah …

80. Sie ruft mich nicht an …

81. Aus einem anderen Medizinbuch …

82. Ein Geistesblitz am Bahnhof …

Teil II

1. Ein Frühling fast wie jeder andere …

2. Mein kleines Mädchen …

3. Die Nacht ist lang …

4. Der Regen klatscht auf …

5. Dieser Blutgeschmack …

6. Isabella ist rasch da …

7. Daran erinnere ich mich …

8. Ich lasse mich auf das Sofa …

9. Ich bin der Frau dankbar …

10. Daran erinnere ich mich …

11. Ich wache spät auf …

12. Als ich in die Wohnung …

13. Daran erinnere ich mich …

14. Im Auto schlafe ich …

15. Als wir in Triest ankommen …

16. Ich schließe die Tür …

17. Als ich die Augen öffne …

18. Erneut überkommt mich Freude …

19. Hinter den Plakaten …

20. Hör bitte auf zu lachen …

21. Das Caffè Erica …

22. Denn ja, du bist es, die …

23. Ein neuer Morgen …

24. Es entgeht mir nicht …

25. Eines Morgens stürze ich …

26. Beim Aufwachen tut mir …

27. An manchen Tagen …

28. Ich renne die Stufen runter …

29. Am nächsten Morgen …

30. Die ganze Zeit Schüttelfrost …

Im Dämmerlicht um drei Uhr morgens schlage ich die Augen auf. Ich sterbe vor Hitze, aber ich wage nicht aufzustehen, um das Fenster noch etwas weiter zu öffnen. Ich liege in ihrem Bett, in dem Zimmer, das ich so gut kenne, nah an ihrem Körper, der endlich eingeschlafen ist nach einem langen Kampf gegen die Ängste, die alles zerfressen, den Kopf, den Bauch, das Herz. Wir haben lange geredet, um sie zu vertreiben, um sie an die Grenzen der Nacht zurückzudrängen, wir haben uns geliebt, ich habe ihren Körper gestreichelt, um sie zu beruhigen. Ich habe meine Finger über ihre Schultern, dann über ihre Arme gleiten lassen, mich an ihren Rücken geschmiegt und lange ihren weichen Hintern liebkost. Ich habe ihrem schnellen Atem gelauscht und darauf gewartet, dass er leichter wurde, dass das Schluchzen nachließ, dass endlich Frieden einkehrte.

Es ist so warm im Zimmer. Ich würde mich gern ein wenig bewegen, frische Luft auf meinem Gesicht spüren. Aber ihr Körper berührt den meinen, ihre Hand liegt auf meinem Arm, und jede Bewegung könnte das Gebäude, das ich so mühsam errichtet habe, ins Wanken bringen. Ihr Schlaf gleicht einer Sandburg. Eine Bewegung, und alles stürzt ein. Eine Bewegung, und sie reißt die Augen auf. Eine Bewegung, und ich muss von vorne beginnen. Ich höre zu, wie der Atem schlafschwer aus ihr herausströmt, und mich packt die Lust zu lachen, für einen Moment kehrt endlich die Fröhlichkeit zurück. Ich möchte die Nacht anhalten und über Stunden, über Tage ihrem Atem lauschen, denn er bedeutet ich lebe, er bedeutet ich existiere, er bedeutet ich bin hier. Und auch ich bin hier, neben ihr.

Mein glühender Körper regt sich nicht. Wenn ich sterben muss vor Hitze, um die Sandburg am Einstürzen zu hindern, dann will ich gern vor Hitze sterben. Draußen, in der grauen Nacht, die ich durch das Fenster sehe, singen die Vögel. Man könnte meinen, es seien Tausende, die um die Wette zwitschern, in allen Richtungen durch die Luft schießen, wie die versiertesten Kunstflieger. Diese erdrückend heiße Nacht ist ihr 14. Juli, sie zeigen ihre Flugnummer, erfinden fröhlich immer waghalsigere Manöver. In den weit entfernten Bäumen begrüßen Vorstadttauben mit durchdringenden Lauten den heraufziehenden Morgen. Ich schaue zu, wie ihre Schatten in den schmutzigen Himmel steigen. Ich komme um vor Hitze. Ich warte.

Ich betrachte ihren reglosen Körper, der ausgestreckt auf dem Rücken liegt, vollkommen nackt. Die zarten Knöchel, die hervorstehende Hüfte, den weichen Bauch und die grazilen Arme, die geschwungenen Lippen mit dem feinen Lächeln. Die Male der Krankheit auf dem geliebten Körper, die kleinen schwarzen Punkte auf dem zerstochenen Bauch, die Narbe an der Achselhöhle, das Loch unter dem Schlüsselbein. Ich schaue ihr ruhiges, ganz ruhiges Gesicht an, ihr sogar im Schlaf stolz gerecktes Kinn, ihre samtigen Wangen, die schroffe, überraschende Linie ihrer Nase, ihre endlich geschlossenen malvenfarbenen Lider. Ihren vollkommen kahlen Kopf. Im Dämmerlicht um drei Uhr morgens schaue ich ihr beim Schlafen zu.

In jener feuchten Nacht gelingt es mir nicht, meinen Blick von ihrem nackten Körper zu lösen, von ihrem wächsernen Schädel. Von ihrer Totensilhouette.

I

1.

Es geht um Sarah, ihre unerhörte Schönheit, ihre steile Nase, die einem seltenen Vogel zu gehören scheint, die unglaubliche Farbe ihrer Augen, Felsgrau, Grün, nein, nicht Grün, eher wie Absinth, wie Malachit, ein gedämpftes Grün-Grau, ihre Schlangenaugen mit den hängenden Lidern. Es geht um den Frühling, als sie in mein Leben trat wie auf eine Bühne, schwungvoll, eroberungslustig. Siegesgewiss.

2.

Es ist ein Frühling wie jeder andere, ein Frühling, der melancholisch stimmt. Auf den Pariser Plätzen blühen die Magnolien, und mir kommt der Gedanke, dass ihr Anblick jenen, die hinsehen, das Herz zerreißen muss. Mir zerreißen sie das Herz, die Magnolienblüten auf den Plätzen. Ich betrachte sie jeden Abend, wenn ich von der Schule nach Hause gehe, und jeden Abend brennen mir die großen blassen Blütenblätter ein bisschen in den Augen. Es ist ein Frühling wie jeder andere, mit plötzlichen Schauern, dem Duft des nassen Asphalts, einer Art Schwerelosigkeit, einem Hauch von Freude in der Luft, der flüstert, wie zerbrechlich alles ist.

In jenem Frühling laufe ich wie ein Gespenst durch die Gegend. Ich führe ein Leben, das ich so nie führen wollte, ein Leben allein mit einer Tochter, deren Vater ohne Vorwarnung verschwunden ist. Eines Tages, eines Abends vielmehr, hat er die Wohnung verlassen und dann. Und dann nichts mehr. So kann es kommen, dass es von heute auf morgen, ich meine buchstäblich von heute auf morgen, zwischen zwei Menschen, die sich jahrelang geliebt haben, weder Blicke noch Worte, weder Gespräche noch Vorhaltungen, weder Wut noch Verbundenheit, keine Zärtlichkeit, keine Liebe mehr gibt. Dieser Wahnsinn, diese Absurdität ist mein tägliches Brot. Ich glaube, dass das Leben damit zu Ende ist. Ich erwarte nichts und niemanden mehr. Es gibt einen neuen Mann in meinem Leben, einen jungen Bulgaren. Wenn ich über ihn spreche, nenne ich ihn meinen Lebensgefährten. Er ist ein Gefährte, ja, er begleitet mich durch dieses leidbestimmte Leben. Ich warte. Ein Wort geht mir auf quälende Weise nicht mehr aus dem Kopf, das Wort Latenz. Ich sollte die Bedeutung im Wörterbuch nachschlagen. Ich weiß, dass ich gerade eine Latenzzeit durchlebe. Ich weiß nicht, wie lange sie andauern und welches Ereignis ihr ein Ende setzen wird. In der Zwischenzeit ist jeder Tag ein wenig wie der vorangegangene, angefüllt mit den Pflichten einer jungen Mutter, einer jungen Lehrerin, einer Tochter, einer Freundin, der Liebhaberin des Bulgaren. Ich gebe mir Mühe, das Leben zu leben. Ich lebe nicht wirklich. Aber ich bin eine brave Schülerin. Ich sammle Fleißpunkte. Ich bin gut gekleidet, höflich, charmant. Mit dem Fahrrad, mein Kind auf dem Sitz hinter mir, radele ich durch das fünfzehnte Arrondissement. Wir gehen ins Museum, ins Kino, in den Jardin des Plantes. Ich finde mich hübsch, es heißt, ich sei nett, aufmerksam gegenüber anderen. Ich versuche, keine Wellen zu schlagen. Ich bin die Mutter eines perfekten Kindes, die Lehrerin außergewöhnlicher Schüler, die Tochter wunderbarer Eltern. Das Leben hätte noch lange so weitergehen können. Ein langer Tunnel ohne Überraschungen, ohne Geheimnisse.

3.

Ein ungestümes Klingeln, wie ein Peitschenschlag durch die steife Atmosphäre der Wohnung. Wir haben uns für Silvester in Schale geworfen, drei Paare, die sich aus den Augenwinkeln beäugen, überrascht hier zu sein, viel zu aufgetakelt. Alles ist künstlich, die Festdekoration, die Gesprächsthemen, die Aufmachung der Gäste. Alles ist wie einstudiert. Würdevoll. Verkrampft. Als es klingelt, scheinen die Möbel bei dem für sie ungewohnten Ton zusammenzuzucken. Gemurmel. Es ist Sarah, freut sich jemand. Ich weiß nicht, wer Sarah ist. Aber ja, heißt es, ihr seid euch schon begegnet. Mir werden die Umstände beschrieben. Keine Erinnerung. Die Gastgeberin geht zur Tür. Es ist Sarah, ja. Ich erkenne sie nicht wieder.

Sie kommt zu spät, lacht, ist ganz außer Atem. Wie ein plötzlicher Wirbelsturm. Sie spricht laut, schnell, sie holt eine Flasche Wein aus ihrer Tasche, etwas zu essen, eine Fülle von Dingen. Sie legt ihren Schal ab, Mantel, Handschuhe, Mütze. Sie legt alles auf den Boden, auf den cremefarbenen Teppich. Sie entschuldigt sich, scherzt, wirbelt herum. Sie drückt sich vulgär aus, benutzt Worte, die noch lange in der Luft zu hängen scheinen, nachdem sie sie ausgesprochen hat. Sie macht zu viel Lärm. Vorher war da nichts, Schweigen, affektiertes Lachen, feierliche Mienen, und auf einmal ist da nur noch sie. Das ist ärgerlich. Die Gastgeberin in ihrer Abendrobe runzelt die Stirn. Sarah bemerkt es nicht, zur Begrüßung verteilt sie energisch Küsschen an alle. Sie beugt sich zu mir, riecht nach prickelnd kalter Dezemberluft. Sie hat rote Wangen, die ihre Eile verraten. Sie ist zu stark geschminkt. Sie ist nicht besonders gut angezogen, trägt nicht ihr schönstes Kleid, ist nicht elegant, hat ihr Haar nicht raffiniert hochgesteckt. Sie redet viel, stürzt sich auf das Glas Wein, das man ihr reicht, reagiert auf irgendeinen Spruch mit lautem Lachen. Sie ist lebhaft, exaltiert, leidenschaftlich.

Ein Moment wie in Zeitlupe. Das Glas gleitet mir aus der Hand, mein Lebensgefährte ruft Oh nein!, das Glas dreht sich in der Luft, alle schauen, niemand kann es verhindern, es ist bereits zu spät, das Glas fällt geräuschlos auf den cremefarbenen Teppich, sein gesamter Inhalt ergießt sich darauf und bildet eine abstrakte Form, Rotwein auf cremefarbenem Teppich, ein schönes minimalistisches Bild. Ich werde vor Scham zunächst blass, dann rot, die Gastgeberin in ihrer Abendrobe wird fuchsteufelswild, es ist eine Katastrophe, ein Desaster, die rote Zeichnung auf dem cremefarbenen Teppich, ein Missgeschick, ein Unfall. Eine Bresche.

Später gehen wir zu Tisch. Wir begeistern uns beim Anblick der hübschen Decke, des hübschen Geschirrs, der hübschen Menükarten. Es gibt eine Tischordnung. Wir sind zu siebt. Die Gastgeberin in ihrer Abendrobe verkündet, wer wo zu sitzen hat. Sarah wird neben mir platziert. Zu meiner Rechten.

4.

Sie ist Violinistin. Sie raucht Zigaretten. Sie ist zu stark geschminkt, aus der Nähe ist es noch schlimmer. Sie spricht laut, lacht viel, ist auf ihre Art lustig. Sie verwendet mir unbekannte Wörter. Einen ihr eigenen Jargon. Sie spielt mit der Sprache, erfindet Ausdrücke, bildet zum Spaß Reime. Sie erzählt amüsante Anekdoten, Geschichten voller überraschender Wendungen. Auf meine Bitte hin erzählt sie bereitwillig mehr. Sie ist lebendig. Im Laufe unserer Unterhaltung erfahre ich, dass sie gerne Gesellschaftsspiele spielt, in den Bergen wandern geht, mit den Menschen, die sie liebt, gemeinsam singt. Bereits seit ein paar Jahren macht sie eine Psychoanalyse. Sie legt sich auf die Couch. Sie findet es seltsam, in eisiger Stille über sich selbst zu sprechen. Aber sie geht trotzdem wieder hin, sie hält es für wichtig. Zweimal die Woche. Manchmal dreimal.

5.

Am frühen Morgen treten wir auf die Straße und gehen alle zusammen zur nächstgelegenen Metrostation. Wangenküsschen auf dem Bürgersteig, mit diesem seltsamen Gefühl des ersten Tages eines neuen Jahres. Das umgekippte Weinglas ist bereits eine großartige Anekdote, wir lassen die Szene nochmals aufleben, fügen hier und da ein Detail hinzu, das Stirnrunzeln der Gastgeberin in ihrer Abendrobe.

Mein Lebensgefährte über Sarah: »Also ehrlich, die ist vielleicht merkwürdig!«

6.

In den Tagen darauf, den ersten Tagen des neuen Jahres, schreibt sie mir. Es ist Januar, aber noch einmal geschieht das Wunder. Einmal noch gibt sich der Winter geschlagen, hängt noch ein bisschen nach, bäumt sich ein letztes Mal auf, aber es ist zu spät, es ist vorbei, der Frühling hat gewonnen. Als ich aus der Schule komme, ist der Himmel weit und bläulich, in einem leicht verwaschenen Blau, wie ein gefärbtes Stück Stoff. Harmlose Wolken ziehen vorbei. Auch der Mond sitzt zurückhaltend in einer Ecke, Tag und Nacht treffen sich wie gute Freunde, was mich leicht erschauern lässt. Die Schatten auf dem Asphalt werden täglich länger, und mein Heimweg führt mich durch unvergleichlich goldenes Licht. Die Straßen mit den Häusern aus Kalksandstein sind erfüllt vom Vogelgezwitscher, ununterbrochenem Geplapper, und man kann fast hören, wie die Knospen aus den Zweigen sprießen, grün, zart, zerbrechlich. Ich schaue zu, wie das Licht die Spitzen der Häuser rosa färbt. Wie viele Male werde ich noch das gewaltige Glück haben, bei all dem zuzuschauen? Einmal? Fünfzehn-, dreiundsechzigmal? Ist es das letzte Mal, frage ich mich, ist es das letzte Mal, dass eine neue Jahreszeit meinen Körper erzittern lässt? Sie schreibt mir in den ersten Tagen des neuen Jahres. Nur ein paar Worte zunächst, auf die ich höflich antworte. Dann mehr und mehr. Sie sagt, dass es schön wäre, wenn wir uns wiedersehen. Sie schlägt vor, ein Konzert in der Philharmonie zu besuchen. Sie schlägt vor, ins Kino, ins Theater zu gehen. Wir sehen uns einmal, zweimal, immer öfter. Der Winter schleicht sich nach und nach davon, auf leisen Sohlen, ohne einen Ton.

7.

An einem Märzmorgen schreibt sie mir, dass sie in der Nähe meiner Schule sei, fragt, ob wir zusammen zu Mittag essen wollen. Ich kann nicht. Ich habe keine Zeit, zu viel zu tun, es wäre mir unangenehm, wenn das meine Kollegen mitbekämen. Ich sage zu. Zur vereinbarten Zeit schlüpfe ich hinaus, mit merkwürdiger Freude im Bauch. Draußen ist es schön. Sie wartet an der Metrostation auf mich. Sie redet sofort los, sehr schnell, sehr laut, fuchtelt mit den Armen herum. Sie hat glänzende Augen. Sie läuft auf der Straße, kümmert sich herzlich wenig um die Autos, die sie überfahren könnten. Sie bemerkt sicher nicht, dass ich sie alle fünf Minuten am Ärmel ziehen möchte, weil sie so zerstreut wirkt, dass ich einen Unfall befürchte. Sie ist lebendig.

8.

Im koreanischen Restaurant redet sie so viel, dass die Bedienung dreimal wiederkommen muss, um die Bestellung aufzunehmen. Sie ist nie bereit. Sie erzählt mir, dass sie sich nie entscheiden könne, dass das ein Problem sei im Leben. Dass sie alles wolle und das Gegenteil. Sie erzählt, dass sie während der Streiks, die 1995 Frankreich lahmlegten, gelernt habe, in Paris per Anhalter zu fahren. Sie war in dem Jahr fünfzehn. Ich schaue sie an und höre schon nicht mehr zu, ich schaue sie an und frage mich, wie sie mit fünfzehn ausgesehen haben mochte und wie das Leben zu jener Zeit wohl war. Ein paralysiertes Paris, an manchen Tagen verstummt durch das fehlende Gedröhne der Autos in den Straßen, oder zumindest ein bisschen stiller, wie eingerostet. Paris mit einem Frosch im Hals. Und mittendrin die fünfzehnjährige Sarah, bestimmt schon mit den hängenden Augen, bestimmt schon mit ihrem Geigenkasten auf dem Rücken, wie sie im sechzehnten Arrondissement, wo sie aufgewachsen ist, wie eine Seiltänzerin auf dem Bordstein balanciert, den Daumen hochgestreckt, in der Hoffnung, dass sie jemand mitnimmt. In die Schule, ins Konservatorium, zu Freunden zum Proben. Ans Ende der Welt. So stelle ich es mir vor. Mit fünfzehn fuhr Sarah per Anhalter durch das heisere Paris, weil sie wollte, dass man sie ans Ende der Welt mitnahm. So stelle ich es mir vor, und so bleibt es mir im Gedächtnis.

Später, als sie mich zur Schule zurückbegleitet, oder vielleicht im selben Gespräch, erzählt sie mir, wie sie das erste Mal vor ihrem Vater Bier getrunken hat. Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, und ich glaube, dass ihr Vater sie, ihrer Erinnerung zufolge, abholte, nachdem sie eine Woche woanders gewesen war, oder sie zum Zug brachte. Es war auf jeden Fall von einem Bahnhof die Rede. So stelle ich mir die Szene vor. Sarah und ihr Vater, beide auf Metallstühlen in einem Bahnhofslokal. Es ist helllichter Tag, ich erinnere mich, dass sie das erwähnte, als sie mir ihre Erinnerung erzählte. Sie eine junge Frau, ich stelle sie mir schön vor, aber ich weiß es nicht. Er – es ist schwierig zu sagen, wie er aussieht. Vor zwanzig Jahren war er vielleicht noch braunhaarig? Fröhlich? In Gesellschaft seiner jugendlichen Tochter zu Scherzen aufgelegt? Der größte Schatz seines Lebens, sein Augenstern, sein kleiner Liebling. Sie erzählt lachend ihre Erinnerung, ich weiß nicht, warum, aber sie lacht mit Jahren Verspätung, Jahre danach lacht sie schallend über seinen Gesichtsausdruck, als sie ihr erstes Bier bestellte, über den Stolz, den sie empfand, und ihre Selbstsicherheit. Ich stelle mir ihre großspurige Art vor, die unvergessliche Farbe des ersten Bieres, das sie unerschrocken am helllichten Tag bestellt, während sie mit ihrem Vater im Lokal sitzt. Sie teilt mit mir diese Erinnerung und lacht, hört nicht mehr auf zu lachen, lacht so sehr, dass es fast ansteckend ist. Fast zwanzig Jahre danach erzählt sie mir lachend von ihrer Unverfrorenheit.

9.

Ich frage sie, was sie unter Latenz versteht. Sie legt den Kopf ein wenig schräg, als ich ihr erkläre, dass dieses Wort wie bei einer Doppelbelichtung über den Bildern meines Lebens liegt, dass es mir nicht aus dem Sinn geht, dass ich nicht genau weiß, warum es mich nicht loslässt.

Nach kurzem Schweigen: »Das ist die Zeit zwischen zwei bedeutenden Ereignissen.«

10.

Die Tage ziehen vorbei. Der Frühling richtet sich ein, ruhig, ohne Eile. Es ist ein Frühling wie jeder andere, ein Frühling, der melancholisch stimmt. Sarah richtet sich in meinem Leben ein, ruhig, ohne Hast. Sie lädt mich ins Theater ein, ins Kino. Sie raucht in meiner Küche, an einem Abend, als ich sie zum Essen einlade. Sie erzählt mir ein Geheimnis. Sie sagt, dass es ein Geheimnis sei, das sie noch nie jemandem verraten habe. Sie bemerkt meine Verwirrung nicht. Sie schenkt mir die letzte Aufnahme ihres Streichquartetts. Eine Platte von Beethoven. Sie weiß nicht, dass ich sie in den darauffolgenden Tagen ununterbrochen höre. Sie weiß nicht, dass ich Fachliteratur über Kammermusik lese. Sie weiß nicht, dass ich alles wissen will, alles verstehen, alles kennen. Sie vermutet zu keinem Zeitpunkt, dass ich mir schreckliche Vorwürfe mache, auf dem Konservatorium keine bessere Schülerin gewesen zu sein.

Mein Lebensgefährte amüsiert sich über diese plötzliche, unerwartete und ein wenig vorschnelle Freundschaft. Ich verrate ihm nicht, dass ich, sobald ich die Wahl habe, mit ihm oder mit ihr Zeit zu verbringen, sie wähle. Um sie spielen zu hören, gehen er und ich gemeinsam zur Streichquartettbiennale in die Philharmonie. Es ist ein Sonntagnachmittag. Als wir dort eintreffen, ist der Saal voll, es sind keine Plätze mehr frei. Ich streite mich mit dem Mann an der Kasse, mache ihm schöne Augen, bettele, tobe. Mein Lebensgefährte sagt, das ist doch nicht so schlimm, wir können sie ein anderes Mal hören. Er sagt, nun komm aber, lass uns in der Sonne einen Kaffee trinken. Ich weigere mich aufzugeben. Ich heule vor Wut. Er versteht nicht, was mit mir los ist. Schließlich ergattere ich im letzten Moment zwei Plätze. Wir müssen auf Klappstühlen sitzen, weit entfernt von der Bühne. Ich kneife die Augen zusammen, um zu erkennen, was dort vor sich geht. Zum ersten Mal sehe ich die drei anderen Mitglieder des Quartetts. Als sie alle vier hintereinander auf die Bühne kommen, muss ich fast auflachen, so nervös bin ich. Zum ersten Mal sehe ich sie schön frisiert, elegant, vornehm. Sie trägt ein berückendes rückenfreies Kleid, sehr lang, schwarz. Ein Gruß ans Publikum, dann beginnen sie ihr Spiel. Es verschlägt mir den Atem. Nach dem ersten Satz des ersten Quartetts will ich schon fast applaudieren. Ich kenne die Gepflogenheiten nicht. Ich verstehe nichts. Mein Blick bleibt an der kleinen Gestalt auf der weit entfernten Bühne haften. Die Zugabe verblüfft mich. Ein Satz aus einem Quartett von Bartók, heißt es, ausschließlich als pizzicato gespielt. Ich verstehe nichts von dem, was ich höre. Ich applaudiere wie wild, laut und lange, bis mir die Handflächen schmerzen.

11.

Sie fragt mich, was ich an meinem freien Mittwoch ohne meine Tochter mache. Ich gehe ins Kino, allein. Das schreibe ich ihr. Ich teile ihr den Namen des Kinos mit, die Uhrzeit der Vorstellung. Ich ertappe mich dabei zu hoffen, sie möge danach am Ausgang stehen, auf mich warten. Der Film handelt von Liebeleien, die über eine große Liebe hinwegtrösten. Ein Schwarz-Weiß-Film. Die Hauptdarstellerin ist sehr schön. Es erinnert mich an einen Film der Nouvelle Vague. Ich genieße es, allein im Kino zu sein. Ich frage mich, ob sie kommen wird. Der Film ist zu Ende. Ich laufe hastig nach draußen. Keiner da. Es regnet. Ich gehe schnell, mit gesenktem Kopf, schaue zu, wie meine Stiefel ganz von allein über das nasse Pflaster der Rue de la Verrerie eilen. Mein Telefon klingelt. Sie ist es. Sie fragt wo bist du, sie sagt ich bin in der Rue de la Verrerie, ich bin gleich da.

12.

Sie wünscht mir Glück, als ich an einem der strahlenden ersten Sonnentage zum Gericht muss. Danach, bei einem Glas Wein, fragt sie mich, wie es gelaufen sei. Sie lässt mich nicht aus den Augen, als ich ihr vom Warten erzähle, vom Richter, vom Vater meiner Tochter, die jedes zweite Wochenende bei ihm verbringen wird, von der Sonne, in der mir viel zu heiß war, mir, die ich ganz in Schwarz gekleidet war, weil ich um meine verlorene Liebe Trauer trug.

13.

Sie schlägt vor, dass ich sie in eine Theatervorstellung in der Cartoucherie begleite. Sie wartet an der Metrostation Château de Vincennes auf mich, an der Linie 1. Sie trägt wie gewöhnlich ein Kleid, das ihr überhaupt nicht steht. Sie begrüßt mich mit einem breiten Lächeln und hört während der ganzen Fahrt durch den Bois de Vincennes nicht auf zu reden. Die Nacht bricht herein. Sie redet, sie redet wie ein Wasserfall. Sie ist lebendig. Sie stellt mir Fragen zu meinem Beruf, zu dem Lycée, an dem ich unterrichte. Sie hört erst auf zu reden, als die Lichter ausgehen. Im Dunkeln berühren sich unsere Knie.

14.

Das Theater heißt: Théâtre de la Tempête, Sturmtheater.

15.

Das Stück hat sie aufgewühlt. Sie will unbedingt den Hauptdarsteller ansprechen. Ich beobachte, wie sie mit beeindruckender Selbstverständlichkeit an ihn herantritt. Sie redet hemmungslos auf ihn ein. Er lächelt. Sie fragt mich, ob ich müde sei oder ob wir Zeit hätten, etwas trinken zu gehen. Sie fügt hinzu, Château de Vincennes sei nun nicht gerade der beste Ort, um etwas trinken zu gehen. Doch es gibt eine Bar, Les Officiers. Sie geht hinein. Sie nimmt Platz. Sie fragt, welches Bier es hier vom Fass gebe. Als die Bedienung mich nach meinem Wunsch fragt, sage ich, das Gleiche, genau das Gleiche. Sie wirkt traurig, ein wenig niedergeschlagen, so habe ich sie noch nie gesehen. Sie fragt, ob wir rausgehen, eine rauchen können. Sie schaut auf ihre Füße. Es ist ein wenig kalt in der schwarzen Nacht. Sie bläst Rauch in den Himmel, eine Wolke steigt zu den Wolken. Sie sieht mir tief in die Augen. Sie sagt ich glaube, ich bin in dich verliebt.

16.

Sie macht eine Bewegung, ganz leicht, weicht zurück mit einer Art Tanzschritt, sie lächelt fast, als ich stammele ach ja, das wusste ich nicht. Sie sagt, sie werde eine zweite Zigarette rauchen, um ihren Mut, ihre Kühnheit zu feiern, das Streichholzratschen in der Nacht, der Schwefelgeruch wird für immer und ewig nach dem befreienden Geständnis duften, nach der unaussprechlichen Realität, die endlich ausgesprochen wurde, nach der entblößten Wahrheit, die vor mir ausgebreitet, mir dargeboten wird wie ein Geschenk.

Schwefel zählt zur Gruppe der Chalkogene. Es ist ein häufig vorkommendes, mehrwertiges Nichtmetall, geschmacklos und nicht wasserlöslich. Schwefel ist vor allem in Form von gelben Kristallen bekannt und in vielen Mineralien enthalten, insbesondere in Vulkanregionen. Brennend verströmt es einen starken, beißenden Geruch. Schwefel ist ein Feststoff. Das chemische Element hat die Ordnungszahl 16. Elementsymbol S.

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