Kitabı oku: «Ach los, scheiß der Hund drauf!»
P e t e r C h e m n i t z
Ach los, scheiß
der Hund drauf!
Das Leben des stern-Kriegsreporters Randy Braumann
2. Auflage, Deutsch, November 2020
E-Book-Ausgabe
ISBN 978-3-906212-67-8
© WELTBUCH Verlag GmbH (Schweiz/Deutschland)
www.weltbuch.com
Alle Rechte vorbehalten
Layout/Satz/Titelgestaltung: Dirk Kohl
Lektorat: Sophie Micheel
Fotos von:
Randolph Braumann und Peter Chemnitz (Porträtfotos und Autorennachweis unter dem jeweiligen Foto)
Inhalt
Vorwort
Bombenkrieg und Mittelschule
Ohne Abitur zum „stern“
Vierzig Millionen für Dr. med. Schumann
Atombombensuche im ewigen Eis
Die Rache des Bundespräsidenten Lübke
Randy fehlt auf der Liste – Wie der BND und der MI6 um Teilzeitspione werben
Blumen für Leni
Ein Dichter öffnet die Tür zum Schah
Wie aus Carter ein freier Mann namens Ben Amin wurde – Bei amerikanischen Juden in Liberia
Wie ich Fremdenlegionär werden wollte und die Gründung der Söldner-Republik 1968
Idi Amin – ein afrikanisches Trauerspiel
Nach der Story eine Notlüge – Augenzeuge im Biafra-Krieg
Schlacht am Buffet
Flucht nach London
Rücksicht auf Israel – „stern“ berichtet nicht über Napalmopfer
Herr Braumann ist bereits hingerichtet worden
Angstschweiß und Feuerzauber – Victor Charlie im Visier
Die Jagd nach der goldenen Uhr
Nachts kam Victor Charlie
Haschisch und Marihuana – „I don‘t want to be the last American killed in the Nam.“
Warten auf den König von Laos
Menschenrettung unter Missbrauch der Rot-Kreuz-Fahne – Bürgerkrieg in Ostpakistan
„Randy, please stop Nannen now“ – Als Koordinator der „stern“- Hilfsaktion in Äthiopien
Der Marsch auf der Rasierklinge – Zu Besuch bei Papa Doc in Haiti
Durch das wilde Kurdistan nach Ninive
Mein Freund Heidemann
Rebellenkampf im Hamburger Untergrund
39.998 Schwarze, der Chefredakteur und seine Frau – Wie ich in Südafrika eine deutschsprachige Zeitung leitete
Spenden allein retten Afrika nicht – Mit Karlheinz Böhm in Äthiopien
Boizenburg – Zwischenstopp in meinem Leben
Warum das Sorbische zu den 60 wichtigsten Sprachen zählt
Europastadt? Apartheidstadt?
Vom Krokodil zur Grenze – Der polnische Fußball und ich: Bilanz eines Lebens
Der Autor:
Peter Chemnitz, 1962 in Leipzig geboren, wuchs in Dresden auf. Als Enkel des einst europaweit bekannten Sportjournalisten Erich Chemnitz wollte er unbedingt in dessen Fußstapfen treten, mit einer Ausnahme – der Sportberichterstattung. Allerdings rieten ihm alle davon ab, in der DDR diesen Beruf zu ergreifen. Auch die Staatssicherheit war skeptisch und verhängte, in enger und heimlicher Kooperation mit der Universität Leipzig, ein bis Ende 1988 aufrecht erhaltenes Studienverbot. Als Redakteur durfte er trotzdem arbeiten: von 1985 bis 1990 bei der Dresdner Tageszeitung „Sächsische Neueste Nachrichten“. In der Wendezeit wechselte er zu der in Stuttgart produzierten Wochenzeitung „Sachsenspiegel“ der bürgerbewegten Dresdner „Gruppe der 20“. Nach deren Einstellung erlebte er als Politikredakteur die letzten neun Monate der vom Süddeutschen Verlag samt Immobilie in der Dresdner Inneren Neustadt erworbenen Tageszeitung „Die Union“. Es folgten Jahre der freien Mitarbeit für „Spiegel“, „Focus“ und Nachrichtenagenturen wie dpa, AP und VWD sowie bis 1997 als Sachsen-Korrespondent der „Welt am Sonntag“. Seitdem ist er Redakteur der „Sächsischen Zeitung“.
Der Protagonist:
Randolph Braumann (Jahrgang 1934) lebte gern zwischen zwei Extremen, zum Beispiel zwischen Sport auf der einen und exotischen Ländern im Kriegszustand auf der anderen Seite. Er war erst Sportreporter bei BILD, aber dann doch lieber Auslandsreporter beim „stern“. Die Sehnsucht nach der Fremdenlegion (die ihn abwies, als er sich im Rekrutierungsbüro Kairouan, Tunesien, 17-jährig bewarb) und nach den „Hunden des Krieges“ (wie ein Bestsellerautor die Söldner nennt) blieb ein Leben lang. Er war ein typisches Kriegskind (seine Geburtsstadt Bochum wurde 150-mal von den Alliierten bombardiert), deshalb beherrschte er wohl die Kunst des Überlebens so gut. Als in Saigon der Tu-Do-Club in die Luft flog, waren 36 Menschen tot, etliche verwundet (darunter sein Freund, der „stern“-Fotograf Perry Kretz) und nur einer unverletzt: er selbst. Später war er Mitgründer des Kinderhilfswerks „Dritte Welt“ (Zentrale nach wie vor in Hamburg) und zweier Reisemagazine. Nach all den Kriegen sucht er Ruhe in Görlitz/Zgorzelec – an der deutsch-polnischen Grenze, der „Friedensgrenze“.
Vorwort
In Görlitz/Zgorzelec, in der deutsch-polnischen Grenzstadt, beginnt dieses symphonisch gestaltete Werk, das mehr ist als nur die Erinnerungen des alten Kriegsreporters Randolph Braumann. Dadurch, dass der Jüngere, der Diplom-Journalist Peter Chemnitz, zuhört und notiert, bekommt die Irrfahrt durch die sinnlosen Kriege, Leidensgeschichten und Politik-Gags des 20. und des gerade begonnenen 21. Jahrhunderts einen Sinn.
Braumann, Jahrgang 1934, war immer Querulant und Wahrheitssucher. Nach der Schule wollte er zur Fremdenlegion und landete im Journalismus. In den Krieg ging es trotzdem. Zehn Jahre lang war er für den „stern“ als Kriegsreporter in Afrika, Vietnam und im Nahen Osten mit den namhaftesten Fotografen unterwegs. Er lernte – immer auf der Jagd nach Illustriertengeschichten - Diktatoren wie Idi Amin, Mobutu Sese Seko, Saddam Hussein, Muammar el Gaddafi, Kaiser Haile Selassie, Papa Doc sowie den Terroristenführer Georges Habash kennen – und fand sie sympathisch.
Davon erzählt er in seinem packenden Buch. Es sind Geschichten darüber, wie Journalisten selbst ein wenig am Rädchen der Weltgeschichte drehten, bei der Gründung der Söldnerrepublik Kongo beispielsweise oder im jordanischen Bürgerkrieg. Oder bei der großen „stern“-Hilfsaktion für Äthiopien, die Braumann vor Ort koordinierte, während er dem Kaiser die Augen für die Hungersnot im eigenen Land öffnete.
Braumann war ein Haudegen. „Ach los, scheiß der Hund drauf!“, hieß der Spruch, mit dem er und sein alter Freund, der „stern“-Fotograf Gerd Heidemann, sich in brenzligen Situationen Mut machten. Statt auf Pressekonferenzen der Generalität trieb Braumann sich lieber bei den kämpfenden Truppen herum. In Kambodscha rettete ihm die Angst eines Kollegen das Leben, in Jordanien erklärte ihn die deutsche Botschaft bereits für tot.
Wenn es um Storys ging, kannte Braumann keine Kollegialität. Das schätzte der große Henri Nannen und kämpfte lange um Braumann, wenn der Unstete wieder einmal ein besseres oder interessanteres Angebot der Konkurrenz favorisierte. In Gesprächen, die sich über zwei Jahre hinzogen, erzählt Braumann von lebenslangen Feindschaften und wie sie entstanden sind. Er erzählt von falschen Fotos, verlogenen Überschriften und ihren fatalen Folgen. Vor allem lässt er einen Journalismus lebendig werden, wie er heute fast ausgestorben ist.
Peter Chemnitz im Oktober 2013
Bombenkrieg und Mittelschule
Ich bin ein Kriegskind, Jahrgang 1934. Meine frühesten Erinnerungen sind die Bombenangriffe auf Bochum. Die ersten erfolgten 1941. Da war ich sechs Jahre alt. Am Anfang waren es nur vereinzelte Bomben und wir Kinder liefen am nächsten Morgen durch die Straßen und suchten nach Bombensplittern. Ich kann mich auch noch erinnen, wie ich bei Alarm mit meinen Eltern im Korridor unserer Zweiraumwohnung des fünfstöckigen Arbeiterhauses hockte. Aus irgendwelchen Gründen waren meine Eltern der Ansicht, dass die Mauern einen schützen würden. Als sie dann sahen, dass bei den von Bomben getroffenen Häusern auch die Mauern der Korridore zusammengebrochen waren, zogen wir in den Keller, der mit einfachen Mitteln zu einem Luftschutzraum ausgebaut worden war. In die Außenwände der Keller wurden Durchbrüche geschlagen und wieder lose vermauert, damit man notfalls ins Nachbarhaus flüchten konnte.
Als es dann in unmittelbarer Nähe des Hauses richtig krachte, beschloss mein Vater, dass wir künftig bei Fliegeralarm in einen der inzwischen ausgebauten öffentlichen Luftschutzräume gehen würden. Dieser befand sich in einer etwa hundert Meter entfernten Schule. 1942 kamen die alliierten Flieger fast jede Nacht und wir zogen in einen gerade fertiggestellten Hochbunker. Den hatten französische Kriegsgefangene gebaut, und ich kann mich erinnern, wie mein Vater schimpfte, dass er diesen nichts zu essen zustecken durfte. Das untersagte unter strenger Strafandrohung ein Erlass der Nazi-Führung.
Bochum war damals Verwaltungssitz des NS-Gaus Westfalen-Süd und damit quasi die Hauptstadt des Ruhrgebiets, des Sauerlandes und des Siegerlandes. Die Gauleitung hatte in unserer Straße ihren Sitz und das war sicher einer der Gründe, hier einen Hochbunker zu errichten. Das Bauwerk hatte mehrere Etagen und Betonmauern; dick genug, um den damals existierenden Bomben standzuhalten. Oben war es spitz, damit Bomben abrutschten und auf dem Boden detonierten. Auch im Bunker hörten wir das Krachen der Bomben, fühlten uns aber sicher. Wurde Entwarnung gegeben, ging der erste Blick immer in Richtung unseres Hauses. Stand es noch? Der Bunker und unser Haus sollten die einzigen Gebäude in der Gegend sein, die den Krieg relativ unbeschädigt überdauern würden. Zwischen dem 20. Juni 1940 und dem 22. März 1945 gab es 46 schwere und 100 „leichtere“ Bombenangriffe auf die Stadt. Bei Kriegsende war sie zu 38 Prozent zerstört.
Zum Glück konnte ich Bochum Ende 1942 verlassen. Im Zuge der so genannten Kinderlandverschickung kam ich in ein hundert Kilometer entferntes Dorf zu entfernten Verwandten. Das Dorf hieß Langenstraße-Heddinghausen und hatte knapp vierhundert Einwohner. Heute ist es ein Stadtteil von Rüthen in Nordrhein-Westfalen.
In diesem Dorf habe ich auf einem Kleinbauernhof wunderbare Jahre verlebt. Es gab eine Oma namens Walburga und zwei unverheiratete Tanten, etwa 30 bis 35 Jahre alt, die sich rührend um mich kümmerten. Die beiden Bauernsöhne marschierten im Auftrag des Führers durch Russland. Ich war der einzige Mann im Haus. Es gab Schweine, Geflügel und zwei Kühe. Für die Kühe war ich zuständig. Morgens brachte ich sie auf die Weide, in einen Kamp, der etwa einen Kilometer entfernt war. Mittags brachte ich sie zum Melken auf den Hof und anschließend wieder in den Kamp. Abends holte ich sie zurück. Diese Kamps waren in vier Abteilungen unterteilt und war einer abgegrast, zog ich mit den Kühen in den nächsten. Da die Sommer aber extrem heiß waren, trieb ich die Kühe nachmittags entlang der Gräben, an denen noch Gras wuchs, bis zum nächsten und übernächsten Dorf und wieder zurück.
Dieses völlig freie Kinderleben mit Tieren wurde nur durch die Schule unterbrochen. Es war eine typische Dorfschule. Acht Klassen wurden in einem Raum unterrichtet. Die Lehrerin stammte wie ich aus dem Ruhrgebiet und hatte den kleinen lieben Friedhelm in ihr Herz geschlossen: „Du musst natürlich aufs Gymnasium, denn du wirst einmal etwas ganz Großes werden.“ Schon wegen dieser Lehrerin ging ich gern in die Schule.
Pimpf musste ich im Gegensatz zu den meisten meiner Altersgenossen nicht werden. Als ich neun Jahre alt war, bekam ich zwar eine Einberufung zum Jungvolk. Die Aufnahme sollte in einem einige Kilometer entfernten Nachbardorf erfolgen. Oma erklärte aber kategorisch: „Da gehst du nicht hin.“ Ich habe auf Oma gehört und es hat sich nie wieder jemand gemeldet. An den Krieg wurde ich nur erinnert, wenn wir im Westen hellen Lichtschein wahrnahmen. Dann hatte es wieder einen schweren Luftangriff auf das Ruhrgebiet gegeben. Als ich in den Herbstferien meine Eltern besuchte, hatte ich das Pech, in den schlimmsten Bombenangriff zu geraten, der Bochum traf. Das war am 4. November 1944. Während wir sicher im Hochbunker saßen, verloren im Flammenmeer vier meiner Onkel und Tanten ihr Leben.
Ab Ende 1944/Anfang 1945 war es dann auch auf dem Land mit dem friedlichen Leben vorbei. Immer häufiger tauchten Tiefflieger auf und schossen auf alles, was sich bewegte. Die Piloten der englischen Spitfires machten sogar Jagd auf einzelne Bauern. Der Auftrag war ganz offensichtlich, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Deswegen war ich froh, als der Krieg endlich zu Ende ging. Es war für uns wirklich eine Befreiung. Wir wussten, dass es um das Ruhrgebiet, das noch unter deutscher Kontrolle war, eine große Zangenbewegung gab, von der es wie ein Sack eingeschnürt wurde. In dieser Zeit füllte sich das Bauernhaus in Langenstraße immer mehr. Eines Tages erschien zu meinem großen Entsetzen eine Frau, die ich völlig vergessen hatte: meine Mutter. Auch weitere Verwandte trafen ein. Besonders suspekt war mir ein Teil der Familie, der in Gelsenkirchen zu Hause war. Der Familienchef, ein Ortsgruppenleiter der NSDAP, tauchte eines Tages auf. Er trug zwar nicht mehr seine Uniform, aber noch immer das Parteiabzeichen. Dieser Mann versuchte nun, unter den Volksgenossen Panik zu verbreiten. Die Amerikaner würden uns alle umbringen. Die Angst steigerte sich noch, als an einem der letzten Apriltage eine Einheit der Waffen-SS einrückte und sich über Nacht einquartierte. Zur allgemeinen Erleichterung zogen die Soldaten am nächsten Tag weiter. Prompt hängten die Dorfbewohner aus allen Fenstern weiße Bettlaken. Die Amerikaner werden sicher gegrinst haben, als sie später unser total weiß beflaggtes Dorf entdeckten.
Diese Kapitulationserklärung kam keine Stunde zu früh, denn kurz darauf riefen die ersten Bauern: „Dort sind die Amerikaner.“ Sie zeigten in Richtung des etwas höher gelegenen Nachbardorfes Eickhof; von dort kamen Panzer heruntergefahren. Hundert Meter vor unserem Hof stoppten sie und bildeten ein Karree. In der Mitte wurde eine Funkantenne ausgefahren. Während sich der NSDAP-Ortsgruppenleiter eilig im Haus versteckte und auch die anderen scheel aus den Fenstern spähten, liefen wir Kinder einfach hin. Wir erwarteten nichts Schlimmes und wollten uns diese tollen Panzer ansehen. Als mein Onkel mitbekam, dass wir Kontakt zu den Soldaten hatten, bat er mich, ihm von diesen Zigaretten zu besorgen. Die gab mir dann ein schwarzer Soldat im Tausch gegen Eier. Es war der erste schwarze Mensch, dem ich begegnete.
Die Amerikaner blieben eine Nacht und zogen dann weiter. Ich stromerte am nächsten Morgen über den Hof und entdeckte an der Hauswand hinter dem Kaninchenstall eine Lücke, in der etwas steckte. Es stellte sich heraus, dass es kolorierte Bilder aus einem Zigarettenbildband waren: Deutsche Kolonien, der Erste Weltkrieg, die Reichswehr. Die hatte dieser Ortsgruppenleiter versteckt. Ich habe sie kurzerhand an mich genommen und in meinem Zimmer verstaut. Diese Bilder sollten mich die nächsten Jahrzehnte begleiten und ich habe viel durch sie gelernt. Vielleicht haben sie auch meine Sehnsucht nach der weiten Welt und insbesondere nach Afrika geweckt. Und noch ein anderes Erlebnis prägte sich mir ein. Als ich auf das Plumpsklo ging, sah ich unten etwas blinken. Das war das kleine Hakenkreuz, das mein Onkel schnell entsorgt hatte. Da habe ich mich hingesetzt und auf dieses Parteiabzeichen geschissen.
Mit dem Erscheinen der Amerikaner hörten die Tieffliegerangriffe auf. Ich konnte wieder ungefährdet herumlaufen und die Amerikaner schienen ja nette Kerle zu sein. In voller Verkennung dieser Tatsachen erschien meine Mutter eines Abends in meinem kleinen Zimmer. Sie nahm mich in den Arm, was so gar nicht ihre Art war, denn meine Mutter war nicht besonders zärtlich. „Du musst nicht traurig sein, der Krieg ist keineswegs zu Ende. Der Führer hat noch die Wunderwaffe.“ Bis heute sind mir diese Sätze nicht aus dem Kopf gegangen, denn meine Mutter war völlig unpolitisch. Diese Äußerung scheint mir der Beweis zu sein, in welchem Maß das deutsche Volk verblendet worden war.
Mutter kehrte nach Bochum zurück und ich war froh, dass mir niemand mehr in meine Freiheiten reinredete. Allerdings endeten sie dennoch Ende Juni. Mutter erschien erneut, um mich zurück in die Stadt zu holen. Ich bin laut schluchzend aus dem Dorf gelaufen, in dem ich so wunderbare zweieinhalb Jahre verbracht hatte. Es war für mich eine schreckliche Vorstellung, in die Enge der elterlichen Wohnung zurückkehren zu müssen. Die Bauern und Bäuerinnen kamen aus den Häusern und nahmen mich in den Arm. Das sei doch kein Abschied für immer, ich könne doch wiederkommen, versuchten sie mich zu trösten.
Nach einer langen, umständlichen Fahrt mit Lastwagen, Bussen und Zügen kamen wir irgendwann in Bochum an. Der Anblick der Stadt war fürchterlich. Es gab keine Häuser mehr, keine Straßen. Und ich hatte meine Freiheit verloren, fortan schlief ich wieder im Zimmer meiner Eltern. Es sollte aber noch schlimmer kommen. Ich rechnete fest damit, aufs Gymnasium gehen zu dürfen. Schließlich hatte diese Lehrerin mir gesagt, was für ein toller Typ ich sei. Auch alle meine alten Spielkameraden, die wie ich aus der Kinderlandverschickung zurück waren, erzählten, dass sie das Gymnasium besuchen werden. Vater, der als Reparaturschlosser bei Krupp arbeitete, fand aber, das Gymnasium sei zu teuer. Es kostete zwanzig Mark im Monat, der Besuch der Mittelschule nur zwölf.
Die sechs Jahre Mittelschule absolvierte ich lässig und unmotiviert. Ich hatte gute Zensuren, galt aber als aufsässig. Horror hatte ich vor dem zweimal wöchentlich stattfindenden Sportunterrricht, weil dieser nur aus Geräteturnen bestand. Ich war ein begeisterter Leichtathlet. Überhaupt trieb ich mich viel im Freien herum. Als ich hörte, dass in der Nähe ein Pfadfinderstamm aufgebaut wird, meldete ich mich sofort. Nach kurzer Zeit war ich Feldmeister, so hieß bei den Pfadfindern der Gruppenführer. Im Hochbunker richteten wir uns einen Raum ein. Meine Begeisterung war so groß, dass ich auch im Winter kurze Lederhosen trug. Ich wollte zeigen, was für ein harter Kerl ich war. Da hatte die alte Nazilosung „Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, schnell wie Windhunde“ wohl doch Spuren hinterlassen. Auch trug ich ständig einen Dolch mit Hirschhorngriff. Auf den war ich besonders stolz und weil ich mich weigerte, diesen im Unterricht abzulegen, wäre ich um ein Haar der Schule verwiesen worden.
Bei der Ausgabe des Abschlusszeugnisses schlug mir mein Deutschlehrer vor, das Abitur nachzuholen. Er könne mir einen Platz auf einer Internatsschule vermitteln. Als ich meinem Vater das erzählte, sagt der nur: „Deinetwegen trinke ich kein Glas Bier weniger.“ Damit war das Thema erledigt.
Normal wäre nun gewesen, dass ich wie meine Mitschüler entweder eine Lehre zum Industriekaufmann aufnehmen oder Schmalspuringenieur werden würde. Letztere waren in der Wirtschaft als Steiger im Bergbau oder Vorarbeiter in der Stahlindustrie gefragt. Aber das war nicht mein Ding und ich bewarb mich halbherzig um eine Lehrstelle als Industriekaufmann. Mir war klar, dass ich schon an den ersten Prüfungsaufgaben scheitern würde. So war es auch.
Meine Mutter arbeitete als Putzfrau bei der Firma Dr. C. Otto & Comp. GmbH Kokerei und Gaswerksbau. Das war eine der weltgrößten Kokereifirmen. Sie putzte unter anderem das Büro des Personalchefs, eines Herrn Dr. Stiel. Der fragte eines Tages meine Mutter leutselig, was denn eigentlich der Sohn beruflich mache. „Ach, Herr Doktor, es ist so schwierig, für den Friedhelm eine Lehrstelle zu finden. Er hat schon so viele Aufnahmeprüfungen gemacht und ist nie angenommen worden.“ Stiel nickte und sagte: „Lassen Sie doch den jungen Mann mal zu mir kommen.“ Ich stellte mich Dr. Stiel vor und er unterhielt sich kurz mit mir. Ich sagte ihm, dass ich unzufrieden mit meiner schulischen Ausbildung sei und gern aufs Gymnasium gegangen wäre, um das Abitur als Abschluss zu besitzen. „Das kriegen wir schon hin“, sagte der Personalchef. Demnächst sei wieder eine Aufnahmeprüfung. „An dieser nehmen Sie teil, dann sehen wir weiter.“
Wie immer bewarben sich um die hundert Jugendliche und fünf wurden genommen. Ich war dabei. Seitdem weiß ich, wie wichtig Beziehungen sind. Diese Lehrstelle verdankte ich allein der Putzfrau Josefa Braumann.
Vom 1. April 1952 bis zum 31. März 1954 quälte ich mich durch die Ausbildung. „Während seiner Lehrzeit haben wir Herrn Braumann in unseren Abteilungen Buchhaltung, Lohnbüro, Betriebswirtschaftsstelle sowie in der Abteilung für Steuern und Versicherungen und in der kaufmännischen Verwaltung unseres Bauhofes Gelegenheit gegeben, sich die Kenntnisse und Fertigkeiten eines Industriekaufmanns, soweit das im Laufe von zwei Dritteln seiner vorgesehenen Lehrzeit möglich war, anzueignen“, heißt es im Abschlusszeugnis. Wenn ich die Namen dieser Abteilungen lese, läuft es mir heute noch kalt den Rücken runter. Mir war klar, dass das nicht meine Zukunft sein konnte. Aber etwas anderes fiel mir nicht ein.
In meiner Freizeit trieb ich Sport, wurde sogar westdeutscher Jugendmeister im Weitsprung. Und als Lehrling wurde ich Mitglied der Jugendgruppe der Deutschen Angestelltengewerk-schaft. Als Pfadfinderführer und ehemaliger Klassensprecher war ich schnell Leiter dieser Jugendgruppe. Ich organisierte alle paar Monate Freizeiten und das beschäftigte mich viel mehr als die Lehre. Mit einem erfolgreichen Abschluss rechnete ich ohnehin nicht. Ich konnte zwar alle Schrauben auseinanderhalten und wusste, welche Meißel und Hämmer wofür benötigt wurden, aber mit der Mathematik stand ich wie schon in der Schule auf Kriegsfuß. Am schlimmsten waren die Wochen im Lohnbüro.
In dieser Situation lernte ich Klaus Löhlein kennen, der war für die DAG-Jugend im Ruhrgebiet zuständig. Ein großer, schlanker Mann, dem im Krieg die halbe Brust weggeschossen worden war. Er merkte schnell, dass ich mit meinem Job nicht zufrieden war.
„Was willst du denn sonst machen?“
„Ich denke, ich haue ab und gehe zur Fremdenlegion.“
Nun hatte die DAG-Jugend eine eigene Zeitung, für die ich auch schon mehrfach etwas geschrieben hatte. Kleine Berichte über die Freizeiten. Das hatte mir Spaß gemacht und die Leute lobten mich für meinen Schreibstil.
Außerdem hatte ich ein neues Hobby gefunden, um mir etwas Geld zu verdienen. Als begeisterter Sportler war ich Abonnent des Monatsblattes „Der Leichtathlet“. Das brachte zum Jahresende eine Jahresbilanz, in der die besten Sportler der einzelnen Disziplinen aufgelistet waren. Ich fand das interessant und kam auf eine grandiose Idee: Wenn beispielsweise eine Else Krüger vom Karlsruher SC die viertbeste deutsche Weitspringerin war, dann wusste das in Karlsruhe bestimmt kein Mensch. Ich schrieb also an die Redaktion der dortigen Tageszeitung und teilte denen das mit der Anmerkung mit, Geld könne an Friedhelm Braumann, Wiemelhauserstraße in Bochum, überwiesen werden. Ein Bankkonto hatte ich nicht. Ich schrieb fleißig Briefe an alle möglichen Zeitungen und teilte ihnen mit, auf welchen Plätzen die örtlichen Spitzenathleten standen und das wurde tatsächlich veröffentlicht. Pro Veröffentlichung gab es zwischen zwei und fünf Mark Honorar, das im Briefumschlag oder als Postscheck eintraf. Bald kaufte ich eine Schreibmaschine, die ich dann drei Jahre abzahlte.
Von dieser Sache erzählte ich Löhlein und der fand das gut. „Du hast sehr gute Ideen. Ich glaube, du wärst ein guter Journalist. Geh doch einfach mal zum Bochumer Anzeiger und sag, du möchtest mitarbeiten.“
Berufswunsch Fremdenlegionär: In kurzer Hose marschierte ich 1952 in ein Rekrutierungsbüro der französischen Fremdenlegion im tunesischen Kairouan. Dem Koporal war ich zum Glück zu jung und zu schmächtig.