Kitabı oku: «Kurz und schmerzlos», sayfa 4

Yazı tipi:

Süßer Tod in Berlin

Entschuldigung, ist hier noch frei? Ja, Sie haben recht, das kann ich in der Tat selber sehen. Trotzdem danke. Ist ja doch mächtig voll, der Dampfer. Ich musste schon eine ganze Weile stehen.

Bitte? Nein, ich bin nicht von hier, das haben Sie völlig richtig erkannt. Sie denn? Ah ja, dann ist es kein Wunder. Ein Berliner merkt natürlich sofort, ob er einen Landsmann vor sich hat oder nicht. Wie bitte? Stallgeruch? Verstehe. Ist aber irgendwie doch kein passender Vergleich, nicht wahr? Kommt von der Größe her nicht hin. Muss mal nachdenken, da gibt es bestimmt etwas Treffenderes.

Ja, durchaus möglich, dass wir uns schon einmal getroffen haben. Ich habe auch den Eindruck. Heute? Tja, ich war den ganzen Tag in der Stadt unterwegs. Richtig, in »Mitte«, so sagt man wohl. Ach Gott, Brandenburger Tor, Hotel Adlon, Museumsinsel – was man sich halt so anschaut als Tourist.

Genau, Bus gefahren bin ich auch. Diese Doppelstockfahrzeuge erinnern ja an London, bis auf die Farbe, tolle Sache das. Welche Linie? Genau. Dann haben wir uns also dort gesehen.

Ach, das haben Sie mitbekommen? Also, ich muss schon sagen, wie der Busfahrer mich angeschnauzt hat … dabei wollte ich doch nur eine Auskunft. Bei uns zu Hause würde sich das keiner erlauben. Dabei gelten wir Ostfriesen ja nicht gerade als besonders umgänglich.

Landei. Ja genau, Landei, das hat er zu mir gesagt. Das haben Sie behalten, was? Den Ton haben Sie übrigens genau getroffen. Und auch sein Lachen klang ganz ähnlich wie Ihres jetzt.

Natürlich hätte ich vorher auf den Streckenplan gucken müssen, da haben Sie völlig recht. Hängt schließlich an jeder Haltestelle. Sonst hält man ja den ganzen Verkehr auf. Zeit ist Geld, selbstverständlich.

Was ist denn da am Ufer los? Blaulichter, genau. Polizei, Krankenwagen – und noch ein Mannschaftsbulli hinterher. Hoffentlich kein schwerer Unfall. Na, die fahren ja in unsere Richtung, vielleicht sehen wir später noch, was es ist.

Und auf der Museumsinsel waren Sie auch? Pergamon-Museum? Das ist ja erstaunlich. Ich meine, Sie als Einheimischer … Aber nein, auf keinen Fall wollte ich damit sagen, dass die Berliner keine Kultur hätten. Ganz im Gegenteil, welche Stadt besitzt schon dermaßen viele Kulturgüter? Nur eben, dass Sie als Berliner, der das doch sicher alles schon kennt, ausgerechnet heute …

Soso, ihr Sohn also. Zu Besuch, aha. Klar, da muss man zusammen etwas unternehmen. Und immer nur in den Zoo geht ja auch nicht, das stimmt. Man will dem Kleinen ja etwas bieten, was? Genau. Ist schon ein richtiger Wettbewerb, wenn man getrennt lebt. Auch Liebe gibt es nicht umsonst? Na, wenn Sie das sagen.

Schön, dass Ihr Filius auf seine Kosten gekommen ist. War ja auch ’ne Schau, wie mich der Aufseher von den Stufen des Forums runtergejagt hat! Nein, wirklich, der hat kein Blatt vor den Mund genommen. Klar, Vorschrift ist Vorschrift, und ein Meter neben der Absperrung ist halt ein Meter daneben, da gibt es nichts, nicht wahr? Nicht in Preußen. Und wann kommt so ein Mann schon mal dazu, sich so richtig auszukoddern. Ist ja selber nur ein kleines Licht.

Komisch, dass der mich auch gleich erkannt hat. Als Nicht-Berliner, meine ich. Als Provinzler. Landei eben. Ja, exakt, der hat das auch zu mir gesagt, Landei, genau wie der Busfahrer.

Erstaunlich, wie gut Sie den Tonfall treffen! Ebenso wie vorhin. Tolle Sache das. Sind Sie Schauspieler? Ah so, Stadtverwaltung. Na, da machen Sie den Leuten ja auch ganz schön etwas vor.

Schauen Sie mal, da sind die Blaulichter wieder. Da, direkt vor dem Museumseingang. Was da wohl passiert ist? Hoffentlich kein Kunstraub, wäre doch schade. Anderseits, wenn man bedenkt, wo der Krempel ursprünglich herkommt – wirklich ungerecht wär’s ja nicht.

Stimmt, der Krankenwagen. Also eher etwas mit Personenschaden. Wenn da mal keine Statue umgekippt ist! Wenn so ein Ding auf einen Trupp Japaner fällt – stellen Sie sich bloß mal die diplomatischen Verwicklungen vor!

Ach herrje, sehen Sie mal da. Der dunkle Kombi, erkennen Sie den nicht? Eindeutig ein Leichenwagen. Da hat es einen Toten gegeben. Tote dürfen nämlich nicht in einem Krankwagen transportiert werden, wissen Sie?

Klar wissen Sie das. Erfährt man ja heute in jedem Fernsehkrimi, klar, Sie haben völlig recht. Entschuldigung, ich wollte mich nicht aufspielen.

Aber ob das die Blaulichter waren, die uns vorhin überholt haben? Die waren doch drüben am linken Ufer, da hätten wir sie beim Überqueren der Brücke sehen müssen. Nein, ich glaube, da ist noch etwas anderes im Busch. Na ja, dafür sind wir schließlich in einer Großstadt, nicht? Da ist eben immer was los. Durchgehend geöffnet – das gilt hier auch für das Verbrechen.

Herrlich übrigens, dass man hier so gemütlich mit dem Schiff kreuz und quer durch die Stadt fahren kann. Da ist man mittendrin und doch ganz für sich, nicht wahr? Ja sicher, abgesehen von den anderen zweihundert Leuten auf dem Dampfer natürlich. Aber jedenfalls abgeschottet von dem ganzen Rummel da draußen.

Bitte? Ja, ich nehme noch einen Kaffee. Und Sie? Einen Cappuccino für den Herrn. Ich lade Sie ein. Doch, klare Sache, schließlich sitze ich quasi an Ihrem Tisch, da will man sich doch erkenntlich zeigen. Na sehen Sie.

Wo? Stimmt, da blitzt es schon wieder blau. Das könnte die Kolonne von vorhin sein. Erkennen Sie, was da los ist?

Nein, keine freie Sicht, das ist ärgerlich. Der Bus steht im Weg. Ganz schön sperrig, diese Doppelstockdinger. Hoffentlich liegt da keiner drunter.

Wird einem aber ganz schön was geboten fürs Geld, nicht wahr?

Ah, das ging ja fix. Danke, Fräulein. Ja, zusammen. Bitte schön, stimmt so. Ihnen auch noch einen schönen Tag.

Angenehm, wenn das Personal so nett ist, nicht wahr? Dann bleibt man doch gleich viel gelassener, allem Trubel zum Trotz.

Bitte? Den Akzent hatte ich gar nicht bemerkt. Dann ist die nette junge Dame also gar nicht von hier. Verstehe.

Darf ich Ihnen den Zucker reichen? Einmal oder zwei? Bitte schön. Ja, zum Wohl. Prost Kaffee.

Auf die Landeier? Wie Sie wollen.

Bei mir zu Hause, in Leer, kann man übrigens auch mit dem Schiff durch die Stadt fahren. Na ja, ist mehr als Boot als ein Schiff, und man bekommt auch nicht besonders viel zu sehen, aber immerhin. Hafenpromenade, Altstadt, Museumshafen, Yachtanleger – und die Schrotthalden der Firma Heeren. Na, jedenfalls kann man sich gemütlich herumschippern lassen.

Apropos …

Wie? Ach, das fiel mir nur so ein, wegen der Blaulichter. Bei uns gab es nämlich letztes Jahr einen Mordfall. Ziemlich mysteriös, zuerst jedenfalls.

Nein, nicht auf dem Schiff. Es gibt da so ein Restaurant, Schöne Aussichten, direkt am Hafen, gleich neben dem Gebäude des Rudervereins. Das Rundfahrtboot fährt dicht dran vorbei. Dort ist es passiert.

Eine Serviererin. Sehr auffällige Erscheinung. Groß, gut gebaut, lange dunkle Haare, immer topmodisch gekleidet und super geschminkt. Sagte man jedenfalls. Ich selber bin ja nicht für so viel Fassadenschmuck. Bitte? Klar, die Geschmäcker sind verschieden. Gut möglich, dass Ihnen die Frau gefallen hätte. Thekla hieß sie übrigens. Gab einen ziemlich Wirbel, als sie tot aufgefunden wurde.

Mordmotive fand man jede Menge. Die Frau ist, wie soll ich sagen, recht großzügig in der Vergabe ihrer Gunst gewesen – jedenfalls, solange diese Großzügigkeit auch großzügig vergolten wurde. Die Kerle waren hinter ihr her wie die Fliegen hinterm Kuhfladen, obwohl sie eine richtige Kratzbürste war. Ein Vokabular hatte die – deftiger als jeder Bierkutscher. Und sie machte reichlich davon Gebrauch.

Klar, dass sich jeder ihrer Verehrer für einzigartig gehalten hatte. Thekla aber hielt mehr von hoher Betriebsauslastung und fließenden Übergängen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Extensive statt intensive Bewirtschaftung. So wurde denn ihr Mörder zunächst auch unter ihren geprellten Galanen vermutet. Ziemlich pikant, wer so alles dazu gehörte! Letztlich aber konnte doch jeder ein Alibi vorweisen. Also Sackgasse für die Kripo.

Vermutlich wäre der Täter nie ermittelt worden, wenn er nicht freiwillig gestanden hätte.

Nein, verhaftet wurde er nicht. Er war nämlich schon tot.

Nur die Ruhe, ich erkläre es Ihnen ja. Eines schönen Tages also erschien ein Notar bei der Leeraner Kriminalpolizei, fragte sich zum 1. Kommissariat durch und händigte dessen Leiter, einem gewissen Hauptkommissar Stahnke, einen versiegelten Umschlag aus. Auftragsgemäß, wie es sein Klient testamentarisch festgelegt hatte. Darin – ganz genau, darin war das Geständnis.

Und nicht nur eins.

Ja, schockiert waren wir alle. Der Tote – also der Täter, der tote Täter – war so ein harmlos wirkender Mann gewesen. Viele hatten ihn gekannt, aber kaum jemand hatte ihn wirklich beachtet. Und genau das war denn auch ein wesentlicher Teil seines Motivs.

Wie viele? Fünf insgesamt. Zwei dieser Fälle waren bis dahin nicht einmal als Morde erkannt worden, man war von natürlichem Ableben ausgegangen, und zwischen den drei anderen hatte man keinerlei Zusammenhang vermutet. Ein Finanzbeamter, eine Politesse, ein Journalist, ein Rechtsanwalt und, wie schon gesagt, eine Serviererin. Allesamt umgebracht von einem kleinen, zurückhaltenden, unauffälligen pensionierten Angestellten. Sein Name war übrigens Hermann Müller. Unauffälliger geht es kaum noch.

Gestorben ist er an Krebs. Magenkrebs. Schon mehrmals operiert, mehr ging nicht. Sein Arzt hatte ihm noch drei Monate gegeben und ihm geraten, sich für diesen Zeitraum etwas Kreatives vorzunehmen. Seinem Lebensrest noch einen letzten Sinn zu geben, sozusagen. Tja, und das hat er dann ja auch getan.

Der Arzt hatte sich übrigens ein wenig verkalkuliert. Es waren nicht drei Monate, sondern fünf. Stellen Sie sich vor, der Mann hätte noch ein ganzes Jahr gelebt! Nicht auszudenken.

Ach ja, das Motiv. Wie soll ich sagen – Dünnhäutigkeit? Empfindsamkeit? Am ehesten wohl eine ausgeprägte Aversion gegen Unhöflichkeit.

Tja, dieser Stahnke hat es zunächst auch nicht glauben wollen. Aber wenn der Müller es doch selber so aufgeschrieben hat! Jedes seiner fünf Opfer hat ihn einmal heftig beleidigt. Die meisten wahrscheinlich ganz unbewusst, mehr so gewohnheitsmäßig. Weil sie eben so drauf waren. Sie kennen doch sicher auch diese hemdsärmeligen Ellbogentypen, die einen schon so angucken, als würden sie nur nach der schwachen Stelle suchen, in die sie dann reinpieken können? Nein? Merkwürdig. Berlin ist doch voll davon.

Hermann Müller war einer von denen, die sich niemals wehren. Alles runterschlucken, in sich hineinfressen. Wer weiß, vielleicht hatte sein Magenkrebs ja auch damit zu tun.

Nach jenem Gespräch mit seinem Arzt jedenfalls hat sich Müller hingesetzt und eine Liste gemacht. Wer ihn wann, wo und wie beleidigt hatte. Eine lange Liste, das kann ich Ihnen sagen! Unglaublich, wer da alles draufstand. Die meisten davon können froh sein, dass sich Müllers Arzt nicht noch mehr verkalkuliert hat.

Hoffentlich ist meiner etwas präziser in seinen Prognosen.

Wie? Nein, Sie haben sich nicht verhört. Mag ja sein, dass ich noch recht rosig und gesund aussehe, aber das täuscht leider. Deshalb bin ich ja hier in Berlin, hier gibt es erstklassige Spezialisten. Wunderheiler sind das aber auch nicht. Auf sechs Monate soll ich mich einstellen, heißt es. Tja, nicht zu ändern.

Aber ich werde etwas machen aus der Zeit, das habe ich mir fest vorgenommen. So wie Müller. Aber mit etwas mehr Power. Von wegen einer pro Monat! Hier in Berlin sind doch ganz andere Quoten möglich. Und hier gibt es auch keinen Hauptkommissar Stahnke. Der ist ja nun vorgewarnt und würde mir vielleicht draufkommen. Aber er ist ja zum Glück für Berlin nicht zuständig.

Sie entschuldigen, wenn ich Sie jetzt allein lasse? Es gibt Momente, da sollte man ganz für sich sein. Reden können Sie ja ohnehin nicht mehr, wie ich feststelle. Aber keine Sorge, ein Weilchen dauert es schon noch. Sie sollen ja etwas davon haben.

Na dann: Auf die Landeier! Und jetzt weiß ich auch, was mir vorhin nicht einfallen wollte: Auf die Landeier in der Legebatterie.

Verstehen Sie nicht? Dachte ich mir. Ist aber auch egal. Bald.

Ach, der Zuckerstreuer. Den nehme ich mit. Das ist nämlich meiner.

Den werde ich noch brauchen.

Das Nageln der Dachdecker

Stahnke wartete das Ende der Salve ab, dann duckte er sich und hastete durch den Flur, seinen Unterarm vorm Gesicht, um sich vor umherfliegenden Splittern zu schützen, schlüpfte in die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Tief durchatmend wappnete er sich für die nächste Serie ohrenbetäubender Knalle, die auch nicht lang auf sich warten ließ.

Bang! Bang! Bang!

Der Lärm durchdrang die Zimmerdecke problemlos, und die Geschosse würden es auch tun, wenn die Holzbalken sie nicht aufhielten, da war sich der Hauptkommissar sicher. Todsicher.

Wieder eine Salve. Verdammt, wer sollte das nur aushalten! Was er jetzt brauchte, war eine Pause. Eine Feuerpause. Und er wusste auch, wie er die erreichen konnte.

Vorsichtig öffnete er die Tür zum Flur wieder. Sofort nahmen die Schießgeräusche an Intensität zu. Stahnke legte den Kopf in den Nacken und hielt beide Hände trichterförmig an die Wangen, holte tief Luft und begann aus Leibeskräften zu schreien.

»Frühstückspause! Tee ist fertig!«

Schlagartig war Ruhe.

Während die Dachdecker frühstückten, flüchtete sich Stahnke in den Garten, um die vorübergehende Ruhe auszukosten. Gelingen wollte es ihm nicht, denn das, was sich da vor seiner Nase ausbreitete, sah nicht wie eine Baustelle aus, sondern wie ein Trümmergrundstück. Dort, wo die Balken des alten Daches im Mauerwerk gesteckt hatten, waren die Klinkerwände unregelmäßig ausgezackt wie jahrhundertealte, verwitterte Burgmauern. Der Schuttcontainer quoll über, und längst nicht jeder Stein und jede Pfanne hatten ihr Ziel auch getroffen. Die ausrangierten Dachbalken bildeten dort, wo einmal Rasen gewesen war, einen wirren Haufen, der einen Panzer hätte aufhalten können, und im Vorgarten türmten sich die Reste von Leichtbauwänden und Deckenvertäfelungen. Alles war mit einer dicken, knirschenden Schicht Mörtelstaub überzuckert. Drinnen wie draußen, denn auf die Idee, den Durchbruch der Flurtreppe zum Dachgeschoss abzudecken, waren die Handwerker erst mit einiger Verspätung gekommen.

Stahnke seufzte. Warum nur hatte er sich für die Zeit des Umbaus Urlaub genommen, statt in aller Ruhe Verbrecher zu jagen? Um genau dieses Szenario im Auge behalten zu können, klar. Aber was er sich damit angetan hatte, wurde ihm erst nach und nach klar.

Immerhin ging es nach endlos scheinenden Tagen gefühlter Untätigkeit inzwischen wenigstens voran. Kaum nämlich war das alte Dach abgerissen gewesen, hatten sich die Handwerker immer wieder verflüchtigt wie Morgennebel in der Sommersonne. Regelmäßig hatten sie zwar morgens im halb sieben auf seiner Auffahrt gestanden, lauthals schwadronierend, mit Werkzeugen scheppernd und Hoffnung auf schnelle Baufortschritte weckend – um dann jedoch schleunigst zu anderen Baustellen zu verschwinden, auf denen die Firma Biernoth & Harms andere, offenbar noch ungeduldigere Bauherren bei Laune halten musste. Der Hochsommer war schließlich die Hochsaison im Dachdeckergewerbe, und wenn sich ein deutscher Handwerker auch nicht teilen und auf mehreren Baustellen gleichzeitig präsent sein konnte, so konnte er doch immerhin versuchen, genau diesen Eindruck zu erwecken.

Das Ausmaß dieser Präsenz hing dabei offenbar davon ab, wie überzeugend der jeweilige Bauherr seiner wachsenden Ungeduld Ausdruck verlieh. Als Stahnke das erst kapiert hatte, hatte er sich Biernoth zur Brust genommen. Seitdem ging es richtig voran.

Biernoth selber gehörte zwar nicht zu der vierköpfigen Crew, die sich seither jeden Vormittag zwischen neun und halb zehn in Stahnkes Küche versammelte, um den dort bereitstehenden Tee zu trinken, die mitgebrachten Stullen zu verzehren und dabei die Weltlage zu diskutieren. Dafür aber der dicke Harms, Biernoths Kompagnon, außerdem Marco, der stets lächelnde Tausendsassa, der jedes technische Problem lösen konnte, ohne viel Aufhebens davon zu machen, sowie der schöne Kevin, der zu Latzhose und blonder Lockenmähne immer tief ausgeschnittene Trägerhemdchen trug, und die sommersprossige Annika, Auszubildende im dritten Lehrjahr.

Alles in allem eine schlagkräftige Mannschaft, die in den letzten Tagen dafür gesorgt hatte, dass sich auf Stahnkes Haus, das nach dem Dachabriss wie ein zertretener Schuhkarton ausgesehen hatte, inzwischen schon das helle Balkengerippe des neuen Daches erhob wie ein halb eingelöstes Versprechen. Zwei der vier Handwerker, der dicke Harms und der freundliche Marco, waren schon dabei, Dachlatten anzunageln und alles für das Einpassen der Isoliermatten vorzubereiten, während Kevin und Annika Leichtbauwände für den Innenausbau hochzogen. Alle vier benutzten dabei Nagelgeräte, sogenannte Druckluftnagler, pistolenähnliche Dinger, mit denen sie einfach per Fingerdruck eiserne Stifte in rasender Geschwindigkeit beliebig tief in jede Art von Holz treiben konnten. Und das taten sie ausgiebig. So ausgiebig, dass Stahnke, der sich eingebildet hatte, von Berufs wegen schussfest zu sein, kurz davor war, den Verstand zu verlieren. Denn jeder Nagelvorgang war mit einer heftigen Detonation verbunden.

Er blickte zur Uhr. Schon kurz vor halb zehn, gleich würde die Ballerei wieder losgehen. Vielleicht sollte er einen Spaziergang einlegen. Oder eine Radtour. Irgendwas, bloß eine Weile weg von dieser Knallerei.

Auf der Einfahrt quietschte ein Fahrrad. Etwa schon die Post? Ach nein, Gaby. Stahnke konnte ihre schwarze Mähne gerade noch hinter der Hecke verschwinden sehen. Wie jeden Tag hatte sie Kevin das Frühstück gebracht. Gegen halb zwölf würde sie noch einmal auftauschen, das hatte Stahnke schon spitzgekriegt, und ihrem Kevin den Ostfriesischen Kurier bringen, die Lokalzeitung aus Norden, die sie sich extra mit der Post schicken ließ, denn Kevin war gebürtiger Norder und hing an seiner Heimatstadt. Die Ostfriesen-Zeitung, die man in Leer las, war für ihn kein Ersatz.

Wirklich praktisch, wenn das eigene Haus samt Ehefrau nur zwei Straßen weit weg vom aktuellen Arbeitsplatz lag und man sich dermaßen bedienen lassen konnte. Obwohl – was waren das für Kerle, die nicht einmal in der Lage waren, sich die eigenen Stullen zu schmieren?

Als der Hauptkommissar seine Küche betrat, lief er direkt in ein Sperrfeuer stummer Blicke aus vier Augenpaaren hinein. Bleiernes Schweigen lag über einem Stillleben, das komponiert war aus fleckigen Bechern, Teerändern und Krümeln auf der hölzernen Tischplatte, leeren Tupperdosen, zerknüllten Butterbrotpapieren und vier Menschen mit geröteten Wangen. Stahnke räusperte sich. Das hier sah nach mühsam unterdrücktem Krach aus. Etwas, das er auf seiner Baustelle überhaupt nicht gebrauchen konnte.

Der schöne Kevin begann zu pfeifen. Es klang wie Paint it black, eine alte Stones-Nummer, die gerade durch einen Werbespot mal wieder populär geworden war. Mit provozierend gespitztem Mund verschränkte Kevin die Arme. Die Gesichter der beiden anderen Männer verfinsterten sich noch weiter. Annika schlug die Augen nieder.

Stahnke klatschte in die Hände und blickte betont frohgemut in die Runde. »Na, alles klar? Darf ich den Herren noch etwas bringen? Oder der Dame?«

Die vier Dachdecker erhoben sich wortlos.

Die Sache mit der Fahrradtour war wohl doch keine schlechte Idee, fand Stahnke.

Als er gegen Mittag zurückkehrte, sonnendurchglüht und ausgepumpt, standen nicht nur der Biernoth-Bulli und die Wagen der Bauarbeiter vor seinem Grundstück, sondern auch ein Streifenwagen der Polizei. Außerdem ein unauffälliges Zivilauto, das ihm wohlbekannt war, und ein Leichenwagen. Vor der Panzersperre im Garten stand sein Kollege Kramer, flankiert von zwei Uniformierten. Oben auf dem Balkenhaufen lag der schöne Kevin. Die Reihe kleiner roter Flecken, die über die gesamte Breite seiner Stirn verlief, nahm sich aus wie eine exotische, wenn auch etwas einfallslose Tätowierung. Seinem guten Aussehen tat sie kaum Abbruch. Das tat schon eher die Tatsache, dass der schöne Kevin tot war.

»Etwa zwanzig Stahlstifte hat er im Hirn«, sagte Kramer, nachdem der Tote abtransportiert worden war und sich die beiden Kriminalbeamten auf der Terrasse niedergelassen hatten. »Welcher davon der tödliche war, wird die Obduktion erweisen.«

Wieder einmal musste Stahnke das Gefühl unterdrücken, veräppelt zu werden. Kramer hatte nicht etwa einen schlechten Witz gemacht, Kramer war eben so. Unglaublich effizient und mörderisch humorlos.

»Die Stahlstifte entstammen einem Druckluftnagler«, fuhr Kramer fort. »Vermutlich einem Gerät der Marke Haubold, denn alle Arbeiter hier auf der Baustelle tragen baugleiche Geräte dieses Typs, auch der Tote.« Bei der Nennung des Fabrikats verzog Kramer keine Miene.

»Fundort gleich Tatort?«

Kramer nickte: »Davon ist auszugehen, sagen die Kollegen von der Spurensicherung. Keinerlei Hinweis auf einen Transport.«

»Kann man feststellen, aus welchem, äh, Nagler genau die Projektile stammen?«, fragte Stahnke weiter. Geschosse aus Gewehren oder Pistolen waren ziemlich genau zu identifizieren, weil die Läufe der Waffen sogenannte Züge aufwiesen, die den Kugeln den nötigen Drall verliehen und ihnen dabei zugleich eine Markierung verpassten, die so individuell war wie ein Fingerabdruck.

Kramer schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Jedenfalls hat noch keiner ein entsprechendes Verfahren für diese Nagler entwickelt. Es gibt zwar unterschiedliche Nagelgrößen, aber ansonsten keine speziellen Kennzeichen. Einer ist wie der andere.«

»Einer wie der andere«, sinnierte Stahnke, »und das zwanzigmal. Einer neben dem anderen. Wie lange dauert das eigentlich, einem zwanzig Nägel durch die Stirn ins Hirn zu knallen?«

»Kommt drauf an«, sagte Kramer, der natürlich wieder umfassend informiert war. »Man kann diese Dinger auf Dauerfeuer stellen, wie Sturmgewehre oder Maschinenpistolen. Dann hauen die zwanzig Schuss in einer Sekunde raus. Und so, wie die Treffer sitzen, sieht mir das ganz danach aus. Die Durchschlagskraft war vermutlich auf Maximum eingestellt. Eine kurze Bewegung aus dem Handgelenk, und schon ist das Lochmuster gestanzt.«

»Maximale Durchschlagskraft.« Stahnke schauderte. »Braucht man für derart gefährliche Werkzeuge eigentlich eine Sondergenehmigung?«

Kramer schüttelte den Kopf. »Nein, braucht man nicht. Ebenso wenig wie für Hammer, Kreissäge, Axt und Schlagbohrer. Die können auch allesamt tödlich sein.«

»Na schön, so viel zum mutmaßlichen Tathergang«, sagte Stahnke. »Wer aber war nun der Täter?«

Der dicke Harms, der freundliche Marco und die sommersprossige Annika saßen um den immer noch teefleckigen und vollgekrümelten Küchentisch herum, als hätten sie ihre Frühstückspause niemals unterbrochen. Nur dass der Stuhl zwischen Marco und Annika jetzt leer war. Dafür stand Polizeihauptmeister Rieken mit verschränkten Armen und ausdruckslosem Gesicht neben der Spüle.

Kramer bat die Handwerker einen nach dem anderen heraus auf die Terrasse.

Gefunden hätten sie den Toten quasi gemeinsam, sagten alle drei übereinstimmend aus, nachdem Harms mehrmals vergeblich nach Kevin gerufen und dann alle nachschauen geschickt hatte. Beobachtet haben wollte keiner die Tat. Begangen natürlich erst recht nicht.

So weit die Gemeinsamkeiten in den Aussagen. Interessanter aber waren die abweichenden Informationen.

»Marco war neidisch auf Kevin«, sagte Annika. »Biernoth wollte Kevin zum Kolonnenführer machen. Auf diesen Posten hat Marco seit Jahren hingearbeitet. Klar, dass er blind vor Hass war, als heute früh die Nachricht kam.«

»Harms hatte Stress mit Kevin«, sagte Marco. »Kevin hat ihm heute Morgen unterstellt, er würde Baumaterial unterschlagen und verschieben. Wollte angeblich Biernoth umgehend davon berichten. Harms ist nur Juniorpartner, der wäre ruckzuck draußen gewesen aus der Firma.«

»Kevin hat Annika bedrängt«, sagte Harms. »Wollte dauernd was von ihr, dabei ist er verheiratet, und Annika hat einen festen Freund, der allerdings nur am Wochenende hier ist. Annika hat ihn gewarnt, aber Kevin ist so ein Typ, der kein Nein akzeptiert, jedenfalls nicht von einer Frau.«

»Na super«, schnaubte Stahnke, als er wieder mit Kramer alleine war. »Drei Motive, eins schöner als das andere. Warum gibt es denn nicht mal ein Motiv, so ein richtig fettes, ein sonnenklares, allein auf weiter Flur? Aber nein, es müssen ja gleich drei sein.«

Kramer zuckte die Achseln. Harte Fakten wurden davon, dass man sie beklagte, auch nicht weicher.

»Drei Motive«, murmelte Stahnke.

Welches wog am schwersten?

*

Vom Treppenabsatz her wirkte Stahnkes neues Dach wie die Innenansicht eines Wal-Skeletts. Teilweise jedenfalls. Konnte man an vielen Stellen zwischen den rippenartigen Balken hindurch noch den blauen Himmel sehen, so verstellten anderswo bereits senkrechte Streben, Türrahmen und Wände den Blick. Das Obergeschoss war im Werden begriffen, Gott sei Dank. Lange genug hatte es ja schon gedauert.

Und wie lange es jetzt noch dauern würde, stand in den Sternen. Nicht zuletzt hing es vom Resultat der laufenden Mordermittlung ab.

Überall lagen Holzabschnitte und Sägemehl, Nägel und Schrauben, nach denen sich heutzutage offenbar keiner mehr bückte, Werkzeuge und Kabel herum. Dort stand eine ganze Batterie von Ladegeräten für die Akku-Schrauber, etwas weiter hinten surrte der Kompressor, mit dem die Druckluftnagler ausgeladen wurden. Auch da gab es einen Mehrfachstecker und ein Kabel, das um die nächstgelegene Leichtbauwand herum führte. Stahnke folgte dem schwarzen Geringel.

Das Zimmer, das hier entstand, hatte sogar schon eine Decke. Es ging nach Westen hinaus, würde einmal schönes Abendlicht haben, und im Sommer würde man von hier aus die Sonne untergehen sehen, falls der Grundstück schräg gegenüber nicht eines Tages doch noch bebaut wurde. Hier würde er später einmal sitzen, hinter einem hohen zweiflügeligen Fenster, das sich im Sommer wie eine Terrassentür öffnen ließ, hier würde er gute Bücher lesen und dazu Musik hören, wann immer ihm der Job Zeit dazu ließ. Ach ja, Zukunftsmusik.

Oder vielleicht doch nicht, korrigierte er sich, als sein Blick auf den staubigen CD-Player fiel. Anscheinend fanden auch die Dachdecker, dass sich dieser Platz hervorragend als Musikzimmer eignete. Nun ja, warum auch nicht. Gegen Musik bei der Arbeit war ja nichts einzuwenden.

Neben dem CD-Player, in der Zimmerecke, die der Fensteröffnung gegenüber lag, leuchtete gelbe Mineralwolle, hochwertiges, dickes Isoliermaterial, Symbol für die nächste Ausbaustufe. Nur lag es da nicht in Rollen, so wie es geliefert worden war, sondern flach, in drei Schichten übereinander. Darüber ein Stück Plastikplane. Und oben drauf eine Wolldecke.

Stahnke pfiff leise durch die Zähne. Von »Musik bei der Arbeit« konnte hier wohl nicht die Rede sein. Das hier sah stark nach einem Liebesnest aus. Eins, in dem auf seine Kosten …

Der Hauptkommissar grinste wider Willen. Auch, weil ihm plötzlich die Doppeldeutigkeit der Begriffe »Nageln« und »Decken« in den Sinn kam. Vor allem aber, weil er sich an seine eigene Schul- und Ausbildungszeit erinnerte. Ein richtiger Casanova war er zwar nie gewesen, aber wenn sich mal die Gelegenheit bot … zum Beispiel in dem Lager des Möbelhauses, für das er einige Zeit lang als Auslieferungsfahrer gejobbt hatte. Da gab es eine Verkäuferin, Monika hieß sie wohl, handfest und sommersprossig, ja, dieser Annika gar nicht einmal so unähnlich. Zwei, drei Jahre älter und erfahrener als er. Die hatte genau gewusst, was sie wollte, hatte ihn gelegentlich abgepasst, wenn er eine Lieferung abzuholen hatte, und dann war immer alles vorbereitet gewesen. Matratze, Wolldecke, ja, auch der Kassettenrekorder zum Übertönen verräterischer Geräusche stand bereit. Immer mit derselben Musik drin. Abba, ach herrje, was waren das für Zeiten! Nachher war er immer froh gewesen, dass er im Führerhaus seines Siebeneinhalbtonners alleine war und niemand seine geröteten Wangen sehen konnte. Und immer hatte er Super Trooper vor sich hin gepfiffen, den Song, der genau an der Stelle der Kassette kam, wenn sie beide …

Er bückte sich. Der CD-Player stand auf Pause. Stahnke drückte auf Start.

Paint it black, röhrte Mick Jagger.

Der Hauptkommissar trat in die Fensteröffnung, die bis zum Zimmerboden reichte. Keinerlei Geländer oder Absperrung, und genau darunter auf dem Rasen befand sich der Balkenhaufen, auf dem die Leiche des schönen Kevin gelegen hatte. Hier oben also war der Mord geschehen, nicht dort unten. Hier, wo der schöne Kevin den Song als Begleitmusik gehört hatte, den er anschließend unwillkürlich vor sich hin pfiff. Verräterisch für jeden, der den Zusammenhang kannte.

Warum aber wurde Kevin getötet? Hatte Annika sich gewehrt, als er sie mit Gewalt auf die gelben Matten zerren wollte? Oder war sie zwar zunächst seinem Charme erlegen, hatte dann aber genug von ihm gehabt? Wollte er sie erpressen, hatte er gedroht, sie bei ihrem Freund anzuschwärzen? Gründe genug, und der Druckluftnagler war immer zur Hand.

Vielleicht aber war auch der freundliche Marco heimlich in Annika verliebt gewesen. Zu schüchtern, um etwas zu sagen, hatte er sich aufs Gucken beschränkt, hatte die beiden überrascht und war ausgerastet. Zack, zwanzig Nägel.

Oder gar der fette Harms. Ja was denn, auch dicke Dachdecker waren zu Seitensprüngen fähig. Oder mochten sich zumindest welche wünschen. Und jähzornig sein konnten sie bestimmt auch.

Verdammt, alles war möglich. Nach wie vor kam jeder der drei überlebenden Handwerker als Täter in Frage.

»Alle drei«, grummelte Stahnke vor sich hin. »Mist. Warum denn nicht mal einfach nur einer?«

Er drehte sich langsam um, schlurfte weg von der Fensteröffnung, zurück zum Treppendurchbruch, zurück zu Kramer und dem ungelösten Fall, die dort unten auf ihn warteten.

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Yaş sınırı:
18+
Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
304 s. 7 illüstrasyon
ISBN:
9783839264461
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Telif hakkı:
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