Kitabı oku: «Stahnke und der Spökenkieker», sayfa 2

Yazı tipi:

Alles in allem ein ziemlich peinlicher Auftritt, fand der Hauptkommissar.

»Blödsinn«, sagte Kramer.

Stahnke spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Wie – äh …« Sein Mund blieb stumm und offen.

»Blödsinn ist das. Von wegen Wohltäter Wohlmann. Der war als Kinderarzt nicht halb so gut, wie dieser Przy­bilski ihn hinstellt.«

Erleichtert stellte Stahnke fest, dass Kramer nicht ihn gemeint hatte. Dann erst registrierte er die Bedeutung seiner Worte. »Kein guter Arzt? Mangelndes Fachwissen oder menschliche Defizite?«

»Beides, wenn Sie mich fragen«, sagte Kramer. Der hagere Mann blickte zu Boden. Man konnte durch seinen Mantel hindurch sehen, dass er die Fäuste in den Taschen ballte.

»Ja«, sagte Stahnke, »das tue ich. Erzählen Sie mal.«

»Meine Tochter«, sagte Kramer. »Stephanie. Sieben Jahre alt. Sie erinnern sich?«

Der Hauptkommissar nickte. Kramer hatte den kleinen Blondschopf vor ein paar Wochen einmal mit ins Büro gebracht. »Girls day« – was das wohl zu bedeuten hatte? Allzu viel konnte Stahnke mit Kindern nicht anfangen, aber Steffi hatte ihm gefallen. Sie war unglaublich clever, eigentlich so gar nicht kindlich. Vielleicht deshalb.

»Sie hat nur ein Auge«, sagte Kramer. Und verbesserte sich schnell, als er den entsetzten Blick seines Vorgesetzten sah: »Natürlich sind beide Augen noch da, aber sie kann nur auf einem sehen. Das andere ist praktisch blind.«

»Das tut mir Leid.« Stahnkes Stimme klang brüchig.

»Ja.« Kramer fuhr fort: »Sie war erst sechs Monate alt, als mir etwas auffiel. Beim Füttern, wissen Sie. Da saß ich mit ihr im Kinderzimmer, nur die Nachttischlampe brannte, die Kleine war ganz entspannt, saugte mit Hingabe und schaute mich dabei an, die Augen weit offen und die Pupillen riesengroß. Ich konnte alles darin sehen, mich selbst, das Zimmer, alle meine Träume. Und plötzlich diese kleine Galaxis in ihrem rechten Auge.«

Mein Gott, Kramer, dachte Stahnke. Die Ratio auf zwei Beinen, beherrscht bis zum Gehtnichtmehr, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Dachte ich immer. Dieser Gegenbeweis war nun wirklich nicht nötig. Er wandte sich ab, als sein Kollege das Taschentuch zückte, und drehte sich erst wieder um, als Kramer weitersprach.

»Im selben Moment, als ich diesen Nebel bemerkte, wusste ich auch schon, was das war. Ich wusste es, aber ich konnte es nicht glauben. Statt genauer hinzusehen, wollte ich es einfach nicht wahrhaben, verstehen Sie?«

»Verstehe ich«, sagte Stahnke. »Und dann gingen Sie zu Wohlmann?«

»Er hat mir genau das erzählt, was ich mir zu hören gewünscht hatte. ›Ach, das kennen wir ja, überängstliche Eltern, die bilden sich alles Mögliche ein. Nicht wahr, hahaha, das wollen wir mal nicht so ernst nehmen, was besorgte Eltern so zu sehen glauben.‹ Tja. Ich hab’s ihm geglaubt, weil ich ihm glauben wollte, weil es ja so schön gewesen wäre, wenn es gestimmt hätte.« Kramer schluckte. »Hat aber nicht gestimmt.«

»Was war es denn?«

»Ein Blutgefäß, das da nicht hingehörte. Habe mich später über die Zusammenhänge informiert. Während der Entwicklung eines Embryos werden sozusagen Versorgungsleitungen für bestimmte Organe aufgebaut, zum Beispiel für die Augen. Und wenn die dann fertig aufgebaut sind und nur noch zu Ende wachsen müssen, werden diese Leitungen, also die Adern, wieder abgebaut. Eben aufgelöst. Ihre Substanz geht in den kleinen Körper mit ein.«

»Schlau«, sagte Stahnke.

Kramer lächelte: »Ja, nicht wahr? Ist schon eine tolle Sache, das Leben, so rein planungstechnisch. Nur leider wurde diese eine Versorgungsleitung nicht wieder abgebaut. Sie blieb bestehen, dort, wo sie nicht mehr hingehörte. Echter Planungsfehler.«

»Genetischer Defekt?«

»Vermutlich.« Kramers Blick ging an Stahnke vorbei ins Leere. »Die Ader saß als Fremdkörper an der Linse, weiß und gekrümmt, wie eine winzig kleine Galaxis, und hat sie getrübt. Wenn man rechtzeitig operiert hätte, wäre die Linse zwar wohl auch nicht mehr zu retten gewesen, auf jeden Fall aber hätte man die Sehfähigkeit des Auges annähernd erhalten können, und dann hätte Steffi die Möglichkeit gehabt, sich eines Tages als Erwachsene eine künstliche Linse implantieren zu lassen. Das kann sie jetzt abhaken.«

»Kann Steffi denn mit dem rechten Auge gar nichts mehr sehen?«

»Praktisch nichts. Selbst die restliche Sehfähigkeit, die paar Prozent, die anfangs noch nachzuweisen waren, wurde nicht erhalten. Das hat Wohlmann auch versaut. Falsch therapiert, zu spät, zu halbherzig. Der Augenarzt, zu dem wir später gegangen sind, hat’s gar nicht glauben wollen. Aber da war der Schaden schon angerichtet.«

»Und was hat dieser … dieser Doktor Wohlmann dazu gesagt?« Stahnke bekam seine Kiefer nur mit Mühe auseinander. Die verkrampften Muskeln schmerzten.

»Was er gesagt hat? ›Glückwunsch zu Ihrer Diagnose, Sie hatten ja wohl doch Recht.‹ Das hat er gesagt. Wirklich wahr. Steffi hat den doch überhaupt nicht interessiert. Ich bin damals aus dieser Praxis rausgegangen wie betäubt. Und nie wieder hingegangen. Wir haben sofort danach den Kinderarzt gewechselt. Wer weiß …«

»Ja«, sagte Stahnke. Nicht, dass er Kramer eine Affekthandlung zugetraut hätte. Eine Gewalttat schon gar nicht. Aber verstanden hätte er es. Was sicher ein Fehler war, überlegte er, denn schließlich war Rache keine Privatsache, sondern – tja, seine. Seine Sache. In gewisser Weise. Als Sachwalter des staatlichen Gewaltmonopols. Aber immerhin wäre dies schon Motiv Nummer drei. Erstens religiöser Wahn, zweitens Eifersucht, drittens Rache. Ein nettes Sortiment. Man musste nur noch seine Wahl treffen. »Rache«, murmelte er vor sich hin.

»Was?« Kramer schreckte hoch.

»Wir sollten uns doch mal die Patientenkartei durchschauen«, sagte Stahnke. »Vielleicht mit Mergner zusammen, der sieht bestimmt Dinge, die wir nicht sehen. Oder nicht verstehen. Wo sind denn die Akten hier?«

»In den Metallschränken nebenan«, sagte Kramer. »Steht jedenfalls dran. Die Dinger sind abgeschlossen. Aber da kommen wir schon ran. Soll ich den Przybilski rufen?«

»Przybilski.« Stahnke stutzte.

»Ja, Sie wissen doch, den Hausmeister …« Er unterbrach sich, weil Stahnke ungeduldig abwinkte. Da war etwas, kein Gedanke, keine Erinnerung, sondern nur ein Zipfelchen davon, irgend etwas Erhaschtes. Was?

»Die Zeitung«, sagte er. »Her das Ding.«

Kramer fragte nicht, sondern schob das Blatt wortlos über den Tisch.

Der Sportteil. Regionalsport, Bundesliga, Lokalsport? Nein. Huren- und sonstige Anzeigen auch nicht. Was war es?

Geboren, geheiratet, gestorben. Das war es. Die Todesanzeigen. Schnell überflog er die fett gedruckten Namen in den schwarz umrandeten Annoncen. Blätterte um, schaute, blätterte zurück. Nein, das war es nicht. Kein Przybilski. Kein kleines Kind dieses Namens, gestorben wegen ärztlicher Interesselosigkeit und Selbstüberschätzung, kein kleiner Engel, der nach Rache schrie.

Oder? Nicht so hastig, Stahnke, nicht so luschig. Schau genauer hin.

Er las die Lebensdaten der Verstorbenen. Erstaunlich, wie alt die Leute in Ostfriesland wurden … aber hier, geboren 1990, ein kleiner Junge. Aber er trug einen ganz anderen Namen und hatte auch nicht in Leer gelebt. Die Anzeige war mit einem Kreuz versehen und mit einem Spruch. Nein, kein Bibelwort: »Enttäuschtes Hoffen brennt heißer als die Hölle.« Ach herrje, wer ließ sich denn so was einfallen?

Stahnke sah zu Kramer hinüber. Der Oberkommissar hatte sich wieder hingesetzt, die Beine gespreizt, den Oberkörper geneigt, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, die Handflächen gegeneinander gepresst und den Blick zu Boden gerichtet. Oh ja, auch er hatte gehofft. Obwohl er gesehen hatte und wusste. Aber da war einer, der hatte seiner Hoffnung Nahrung gegeben. Nicht aus Bosheit, nein, aus reiner Bequemlichkeit und Besserwisserei. Was war wohl schlimmer?

Stahnke wandte sich ab. Sein Blick streifte den Heizkörper. Schau genau hin, verdammt noch mal.

Wieder las er die Anzeige: »Enttäuschtes Hoffen brennt heißer als die Hölle. Viel zu früh … nach langem Leiden … in Liebe…«, dann die Namen der Eltern und Großeltern, Geschwister gab es offenbar keine, aber da: »Dein Patenonkel.« Und dahinter der Name.

»Also doch«, sagte Stahnke. »Erich Przybilski.« Das Bauerngesicht. Er hatte genau hingeschaut: Die Augen hinter den vorgehaltenen Händen waren trocken gewesen.

»Was?« Wieder wurde Kramer aus seinen Gedanken hochgeschreckt.

»Holen Sie Przybilski her«, sagt Stahnke. »Bitte. Und seien Sie höflich zu ihm.«

DAS BLINZELN DES AUTOMATEN

Als er den Automaten sah, konnte sich Stahnke eines Grinsens nicht erwehren. »Kottan«, murmelte er leise vor sich hin. Tatsächlich erinnerte der ungeschlachte beigefarbene Kasten stark an den sadistischen Apparat aus der österreichischen Krimiserie. »Kein Kaffee für den Präsidenten«, zitierte der Hauptkommissar leise und stellte sich dabei seinen eigenen Chef vor, wie er versuchte, den Getränkeautomaten von einer Felsklippe zu stürzen.

»Wie bitte?«

Stahnke zuckte zusammen, aber es war nur Kramer.

»Nichts, nichts. Lassen Sie sich nicht stören.«

Kramer hob kurz eine Augenbraue und wandte sich ab. Spock, dachte Stahnke. Faszinierend. Dann schüttelte er den schweren, vom Vorabend her noch etwas umwölkten Kopf. Offenbar hatte er neben dem Wein- auch den Fernsehgenuss übertrieben, mangels anderweitiger Gesellschaft. Vielleicht sollte er es mal mit einem Kaffee versuchen.

Cappuccino sei alle, signalisierte ein rotes Lämpchen. Es schien ein wenig zu blinzeln. Also entschied sich Stahnke für »Kaffee mit Kaffeeweißer und Zucker«. Der Automat schluckte die Münzen und spie heiße Flüssigkeit aus. Allerdings keinen Becher, so dass die Plörre direkt in den Ausguss lief. Das Plätschern und Gurgeln erinnerte entfernt an unterdrücktes Lachen.

»Eigentlich wollten wir da ja noch Fingerabdrücke nehmen.« Der Vorwurf, der in Kramers Stimme mitschwang, wurde durch einen Anflug von Schadenfreude leicht gemildert.

»Oh.« Stahnke versteckte die kräftigen Hände in den Taschen seines Trenchcoats. Dort trug er sie ohnehin am liebsten. »Dann berichten Sie mal«, sagte er, denn ein Themenwechsel schien angebracht.

»Ein Küchenmesser«, referierte Kramer. »Klinge knapp zwanzig Zentimeter lang, sehr scharf. Glatt eingedrungen, genau zwischen zwei Rippen hindurch. Herzkammerperforation. Der Tod dürfte sofort eingetreten sein.«

Der Tote lag auf dem Rücken, längs vor der Spüle, von der Tür zur Redaktions-Teeküche halb verborgen. Stahnke runzelte die Stirn, während er die Leiche betrachtete. Eigentlich gab es nichts Ungewöhnliches zu sehen, wenn man einmal die Tatsache, dass da ein Mann von höchstens fünfunddreißig Jahren mit einem Messer in der Brust tot am Boden lag, nicht als ungewöhnlich einstufte; so etwas erlebte man eben gelegentlich in diesem Beruf. Nein, Leichen an sich irritierten den Hauptkommissar nicht mehr. Aber was dann?

Der Tote war mittelgroß und halbwegs schlank, trug braune Halbschuhe, blaue Jeans und ein schwarzblau kariertes Holzfällerhemd, auf dem sich rund um die Klinge, die zu etwa zwei Dritteln eingedrungen war, ein recht kleiner Blutfleck ausgebreitet hatte – bester Beleg für einen sauberen Stich und einen schnellen Tod. Das Gesicht war oval, die Frisur weder lang noch kurz, die Brille mittelgroß, das Gestell mittelstark. An diesem Mann gab es so gar nichts Auffälliges. War es womöglich das, was ihm aufgefallen war?

Nein. »Kramer«, sagte Stahnke, »schauen Sie doch mal, wie der liegt.«

Kramer schaute. Und zuckte die Achseln. »Auf dem Rücken«, sagte der Oberkommissar in einem Ton, als habe er noch niemals etwas Überflüssigeres ausgesprochen.

»Quatsch«, sagte Stahnke. »Oder ja, natürlich auf dem Rücken. Aber wie er daliegt! Total – na, ungeschickt eben, nicht wahr? Steif und irgendwie paddelig. So liegt man doch nicht.«

Kramer betrachtete seinen Vorgesetzten wie ein freundlicher Arzt einen eingebildeten Kranken. »Steif ist er jedenfalls«, sagte er dann. Den Rest ließ er unkommentiert, und das sagte alles.

»Wann ist der Tod denn eingetreten?«, fragte Stahnke.

»Gestern Abend zwischen halb elf und halb zwölf«, antwortete Kramer. »Um halb elf hat man ihn nämlich noch unten in der Technik gesehen. Irgendwann in der Stunde danach muss es ihn dann erwischt haben.«

»Was hatte er denn um diese Zeit noch hier zu suchen?«

»Der Mann«, Kramer blätterte in seinen Notizen, »übrigens ein gewisser Thomas Kretschmer, ist oder vielmehr war Sportredakteur der Ostfriesland-Nachrichten, gestern Abend hatte er Dienst, und Kickers Emden hat gespielt. Fußball-Oberliga. 0:3 verloren. Den Spielbericht hat Kretschmer noch aktuell geschrieben. Dann hat er sich in der Technik vergewissert, dass alles passte, und ist gegangen. Unten dachten alle, er sei nach Hause. Offensichtlich aber ist er noch einmal in den ersten Stock zurückgekehrt und in die Teeküche gegangen. Tja, und da liegt er immer noch.«

»Thomas Kretschmer also.« Stahnke war nicht gerade sportbegeistert, aber die Artikel mit dem Kürzel »teka« hatte er immer gerne gelesen. Nicht der Themen wegen, sondern weil ihm der Stil gefiel. Kretschmer hatte sich stets weniger für Resultate interessiert als für die Dramaturgie von Sportereignissen. An welchem Punkt war die Partie gekippt, welches Detail hatte sich im Nachhinein als richtungweisend herausgestellt? Kretschmer hatte einen scharfen Blick für die innere Struktur von Geschehnissen gehabt. Und sich Stahnke damit als verwandte Seele empfohlen.

»Gibt es schon eine Tätervermutung?«, fragte der Hauptkommissar. »Hatte Kretschmer Feinde?« Sportredakteure konnten sich schnell unbeliebt machen. Mehr als ein Trainer verdankte Kretschmers spitzer Feder schließlich einen vorzeitigen Jobverlust, und auch mit manchem Spieler war »teka« nicht eben freundlich umgesprungen. Wobei er seine Kritik zumeist in subtile Formulierungen kleidete. »Jatzke verwaltete den linken Flügel« – herrlich vernichtend. Aber ob Fußballer das überhaupt kapierten?

Kramer schüttelte den Kopf: »Ich habe bisher nur mit dem Hausmeister und den Sekretärinnen sprechen können; die Redakteure kommen erst später. Kretschmer scheint allgemein beliebt gewesen zu sein. Höflich, zurückhaltend, eben ein richtig netter Kollege.«

Stahnke nickte. Dieses Sozialprofil deckte sich hundertprozentig mit der äußeren Erscheinung des Ermordeten. Dabei steckten hinter dieser unscheinbaren Schale doch ein scharfer analytischer Geist und ein überdurchschnittliches Stilgefühl. Eine seltsame Diskrepanz, aber beileibe keine seltene. Der Hauptkommissar rieb sich die runden Wangen. Gab es nicht auch bei ihm selbst diesen seltsamen Kontrast zwischen körperlicher Plumpheit und geistiger Eleganz?

Allerdings hatte ihn noch keiner deshalb umgebracht.

Er räusperte sich: »Kennen wir schon die Herkunft der Tatwaffe?«

»Sie stammt vermutlich aus der Schublade dort drüben«, sagte Kramer. »Dort gibt es ein ganzes Sammelsurium an Besteck und Küchengerätschaften, lauter Einzelstücke. Hier werden nämlich immer die Geburtstagsbrötchen geschmiert und die Kuchen aufgeschnitten, da bleibt immer mal etwas liegen.«

Der Messergriff war schwarz, offenbar aus Plastik. Das war günstig. »Fingerabdrücke?«

Kramer nickte. »Sind abgenommen und werden gerade untersucht. Es scheinen die Abdrücke einer einzigen Person zu sein.«

»Das könnte uns ja den Job ein bisschen erleichtern.« Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Was, wenn der Täter nicht zu den Beschäftigten der »Ostfriesland-Nachrichten« gehörte, sondern von außen gekommen war? Dann würden ihnen die Abdrücke herzlich wenig nützen. Es sei denn, er wäre ein Profi, den sie bereits in ihrer Kartei hatten. Aber diese Leute hinterließen gewöhnlich überhaupt keine Spuren.

Erneut musterte Stahnke den Toten. Auf sein Äußeres hatte Kretschmer sichtlich keinen Wert gelegt. Kleidung und Frisur drückten bewusste Nachlässigkeit aus, ohne bereits verkommen zu wirken. Als Sportredakteur musste er tagtäglich mit dem Körperkult, der in dieser Szene herrschte, konfrontiert gewesen sein. Diesem Kult hatte er sich offenkundig verweigert. Und andere Schwerpunkte gesetzt. Stahnke glaubte in einen Spiegel zu blicken.

»Chef.« Kramer winkte ihn hinaus auf den Flur. »Dies hier ist Frau Antje Winkler, Lokalredakteurin. Sie hat den Toten gut gekannt.«

Antje Winkler war mittelgroß, rotblond und sommersprossig; ihr Make-up war um die Augen herum verwischt, aber sie hatte sich bereits wieder im Griff. Trotzdem beschloss Stahnke, sich dem Thema auf Umwegen zu nähern. »Wer hat eigentlich Zugang zu den Räumen der Redaktion?«, fragte er. »Abends, meine ich.«

Die Rotblonde antwortete mit Turbogeschwindigkeit; Stahnke staunte, dass sich die Worte, die sich da im Eiltempo über ihre leuchtend roten Lippen drängten, nicht gegenseitig beiseite rempelten. »Praktisch jeder, der einen Schlüssel zu diesem Haus hat, und das sind alle, die hier beschäftigt sind. Es gibt zwar eine Zwischentür, die sich nur mit den Schlüsseln der Redaktionsangehörigen öffnen lässt, aber die steht häufig offen. Da verlässt sich immer einer auf den anderen, und am Ende ist dann wieder eine Kamera weg.«

»Heute früh war die Zwischentür aber zu«, unterbrach Kramer. »Ordnungsgemäß abgeschlossen. Hat der Hausmeister ausgesagt.«

»Das heißt also, die Tür wurde nach dem Mord abgeschlossen«, überlegte Stahnke. »Womöglich vom Mörder selbst. Das würde den Kreis der Verdächtigen auf die Redaktionsmitglieder eingrenzen. Es sei denn, Kretschmer hätte sich und seinen Mörder selbst hier eingeschlossen, und der Täter ist anschließend durch ein Fenster im Erdgeschoss raus. Oder mit Kretschmers Schlüssel.«

»Beides scheidet aus«, warf Kramer ein. »Laut Hausmeister waren alle Fenster geschlossen, und Kretschmers Redaktionsschlüssel haben wir am Bund in seiner Hosentasche gefunden.«

Fleißiger Kramer. Also einer von Kretschmers Kollegen. Stahnke wandte sich wieder an die Lokalredakteurin: »Frau Winkler, wie war denn Kretschmers Verhältnis zu den anderen Redaktionsmitgliedern? Gab es da Spannungen, Rivalitäten, vielleicht sogar Feindschaften?«

Die Rotblonde zuckte die Schultern: »Eigentlich war der Thomas ziemlich beliebt. Feinde hatte er hier bestimmt nicht, so nett und höflich, wie er immer war.« Sie runzelte die Stirn: »Spannungen gibt’s natürlich immer irgendwie, nicht wahr. Ich weiß, dass die Typen aus der Reportage nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Aber das war purer Neid. Diese Reporter halten sich ja für die absoluten Edelfedern, und auf die Sportler und die Lokalen gucken sie verächtlich herab, das ist in jeder Zeitung so, nicht nur bei uns. Na, und was die Schreibe angeht, gab es bei uns in Wahrheit keinen besseren als den Thomas. Das hat die Reporter-Schnösel ganz schön gewurmt.« Einen Augenblick lang strahlte Antje Winkler; die Frage, wem ihre Sympathien in dieser Angelegenheit gegolten hatten, erübrigte sich. Schnell aber wurde das Gesicht der jungen Frau wieder ernst. »Armer Thomas.«

Neid auf fähigere Kollegen – so etwas gab es wohl in jedem Betrieb, auch bei der Polizei. Das alleine aber war noch kein Mordmotiv. »Standen in der Redaktion eigentlich personelle Veränderungen an? Oder hat es kürzlich welche gegeben? Versetzungen, Beförderungen vielleicht?«

Antje Winkler kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Offenbar hatte sie begriffen, worauf Stahnke hinaus wollte. »Thomas hatte keinerlei Karriere-Ambitionen. Er wollte kein Chef werden. Wollte genau den Job machen, den er machte. Beneidenswert.« Wieder verdüsterte sich ihr Blick.

Stahnke schaute Kramer an; der schaute ausdruckslos zurück. Einen pflegeleichteren Kollegen als Thomas Kretschmer schien es niemals irgendwo gegeben zu haben. Jedenfalls, soweit es die Redaktion, den eigenen Betrieb betraf. Nach außen dagegen, in seinen Artikeln, war Kretschmer durchaus scharf und spitz gewesen – ganz so wie die Messerklinge, die sein Leben vorzeitig beendet hatte. Wenn es also Feinde gab, so konnten sie nur von außen kommen. Aber genau das, nämlich von außen kommen, konnte der Täter ganz offensichtlich nicht. Wegen der verschlossenen Tür. Da biss sich doch die Katze in den Schwanz.

Eine laute Stimme ertönte plötzlich, ohne dass irgendjemand zu sehen gewesen wäre. Der Redaktionsflur war lang, so lang wie das gesamte Zeitungsgebäude, nur unterbrochen vom Treppenhaus, das ihn in der Mitte teilte. Die Glastüren standen offen. Die schallende Männerstimme musste ganz vom anderen Ende herübertönen. Ein beachtliches Organ.

Antje Winkler verdrehte die Augen. »Der schon wieder!«, stöhnte sie. »Sonst kommt der Proll doch nie so früh. Hat wohl gerochen, dass es hier etwas zu schnüffeln und zu tratschen gibt.«

»Proll?« Kramer zückte seinen Stift.

»Eigentlich heißt er Prollwitz«, sagte Antje Winkler. »Aber wir nennen ihn alle nur den Proll. Ein nerviger Typ. Genau das Gegenteil von Thomas Kretschmer. Wenn der hier …« Erschrocken schlug sie sich die Hände vor den Mund.

»Wenn der hier was?«, hakte Stahnke nach. »Nur keine falsche Scheu, erzählen Sie.«

Die Rotblonde ließ sich nicht lange bitten, viel zu groß schien der Mitteilungsdrang zu sein. »Na ja, also wenn der Proll hier liegen würde mit einem Messer in der Brust, dann hätte ich mich nicht gewundert. Keiner hätte das. Jeder, der mit dem zusammenarbeiten muss, bekommt früher oder später automatisch Mordgedanken.«

»Was ist denn so schlimm an dem?«, fragte Stahnke. »Laut ist er, na schön, aber sind andere das nicht auch?«

»Wenn’s nur das wäre! Der Proll ist nicht nur laut, der ist vor allem aufdringlich. Der quatscht einem die Ohren ab, ganz egal, ob man vielleicht gerade etwas Dringendes zu erledigen hat oder nicht, und bläst einem dabei seine Cappuccino-Fahne ins Gesicht. Das Zeug holt er sich nämlich andauernd aus dem Automaten hier. Und er zieht natürlich am liebsten über Kollegen her. Den wird man nicht los, wenn der sich einmal an einem festgelabert hat, da kann man so deutlich werden wie man will, der reagiert einfach nicht. Thomas hatte besonders unter ihm zu leiden, er braucht halt seine Konzentration, wenn er schreibt. Ein oder zwei Mal hat er ihn regelrecht rausgeschmissen.«

»Ach«, unterbrach Stahnke. »Dann kann es also sein, dass der Prollwitz einen Groll gegen Kretschmer hegte?«

Antje Winkler lachte: »Ach was, so etwas merkt der doch überhaupt nicht! Wenn Sie mal nach dem Gegenteil von Sensibilität suchen, dann nehmen Sie den Proll. Der Mann ist gegen alles immun. Der hat Hornhaut auf der Seele. Wenn er überhaupt eine Seele hat.«

Die schnarrende Männerstimme war während des Gesprächs keinen Augenblick lang verstummt. Jetzt wurde sie plötzlich lauter Ein kleiner, bulliger Mann war auf dem Gang erschienen und näherte sich mit schnellen Schritten, den Kopf mit der Halbglatze vorgereckt. Dass er seinen Gesprächspartner hatte zurücklassen müssen, schien ihm nichts auszumachen, wohl weil ihn am anderen Ende des Flurs ja neue erwarteten. Die Worte, die der Mann immer noch pausenlos ausstieß, ergaben für Stahnke keinen Sinn; offenbar waren es Fetzen der just abgebrochenen Unterhaltung, die er unermüdlich wiederholte, um die Pause bis zur nächsten zu überbrücken. Sein Blick war ebenso unstet wie sein Gang übertrieben fest; Stahnke bereitete sich auf einen unangenehmen Wortwechsel vor.

Unmittelbar vor ihm aber schlug der bullige Mann plötzlich einen Haken, umkurvte auch Kramer und stürmte auf die Teeküche zu. Ehe die beiden Polizisten reagieren konnten, hatte Prollwitz die Tür erreicht und ließ sie mit einem wuchtigen Stoß seiner flachen Hand aufplatzen. Das Türblatt verfehlte die Leiche nur knapp und schlug krachend an die Innenwand.

»Sind Sie wahnsinnig«, brüllte Stahnke. »Verschwinden Sie hier, das ist ein Tatort!«

Kramer sagte gar nichts, sondern machte einen schnellen Schritt, packte den vorwitzigen Burschen am Kragen und riss ihn zurück. Eine Behandlung, die Prollwitz weiter nichts auszumachen schien. Er hatte gesehen, was er sehen wollte, und machte sich bereits auf den Rückweg. »He, Becker, du Lappen«, brüllte er durch den Korridor, »das ist dein Messer, das der Kretschmer da in der Brust hat! Das Ding, das du Weihnachten hier vergessen hast, damals, als wir deinen Stollen gegessen haben. War ja staubtrocken, das Zeug!« Mit jedem Schritt schallte seine Stimme ein bisschen leiser, und Stahnke stellte fest, dass er dafür dankbar war.

»Zum Glück sind ja nicht alle so«, nahm Antje Winkler ihren Berufsstand in Schutz.

Stahnke ging darauf nicht weiter ein, hatte die Worte tatsächlich gar nicht wahrgenommen. »Sagen Sie, welchen Job macht denn der Prollwitz hier?«, fragte er die Lokalredakteurin. Kramer, der die Teeküchentür wieder zugezogen hatte, horchte auf; in der Stimme seines Chefs schwang wieder einmal dieser gewisse Ton mit.

»Umbruchredakteur«, sagte die Rotblonde. »Er kontrolliert jede redaktionelle Seite, die von der Abteilung Druckvorstufe verarbeitet worden ist, ehe die eigentliche Druckplatte angefertigt wird. Darum fängt er gewöhnlich auch erst mittags an, weil er ja jeden Abend bis 23 Uhr bleiben muss. Gott sei Dank, so muss man ihn wenigstens nicht den ganzen Tag lang ertragen.«

»Dann müsste er ja gestern Abend zur Tatzeit hier im Haus gewesen sein«, stellte Kramer fest. Typisch für ihn, dass ihn selbst solch eine Nachricht nicht aus der Fassung brachte.

»Tatzeit? Ach, Sie meinen …« Antje Winkler stutzte und begriff. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, also wirklich nicht. So blöd wie der ist, aber einen Mord – nee. Jedenfalls nicht, wenn dabei nichts für ihn zu holen ist. Und da sehe ich nichts.«

Stahnke nickte zerstreut, schien mit seinen Gedanken schon wieder woanders zu sein. »Noch einmal zu Kretschmer. Schreiben konnte er ja, da sind wir uns einig. Aber wie war er denn sonst so, ich meine, in den alltäglichen Dingen, wie hat er sich da angestellt? Ein patenter Mensch?«

Antje Winkler lächelte; es sah nachsichtig aus. »Ach wissen Sie, der Thomas hat so viel Talent zum Schreiben mitbekommen, da war für andere Dinge wohl nichts mehr übrig. Der hat nicht einmal eine Flasche aufschrauben können, ohne sich zu bekleckern. Zwei linke Hände, sage ich nur. Total paddelig. Aber ihm konnte man’s ja nicht übel nehmen, nett wie er war.«

»Danke, Frau Winkler«, sagte Stahnke. »Sie haben uns sehr geholfen.« Etwas verwirrt ging die Rotblonde davon, den Korridor entlang, dorthin, wo Prollwitz’ schnarrendes Organ nach wie vor dröhnte.

»Und?« Kramer zeigte Anzeichen von Ungeduld – unglaublich.

Stahnke verschränkte die Arme hinter dem Rücken und wippte auf den Fußballen. »Wir haben den Mörder«, sagte er und wies mit dem Kopf in Richtung Teeküche. »Da drinnen liegt er.«

»Kretschmer selbst?« Kramer zog die Mundwinkel herab. »Selbstmord? Mit einem Küchenmesser? Also ich weiß nicht …«

»Natürlich nicht«, korrigierte Stahnke. »Kretschmer hat genau genommen auch keinen Mord begangen, sondern einen Mordversuch.«

»Und an wem?«

»Dieser Kretschmer«, sagte Stahnke, »war ein erstklassiger Schreiber. Seine Texte bedeuteten ihm etwas, sehr viel sogar, nicht zuletzt deshalb, weil sie das Einzige waren, worauf er sich etwas einbilden konnte. Die waren nicht einfach so hingeschmiert, die waren komponiert. Selbst unter Zeitdruck. Ich habe einige seiner aktuellen Berichte gelesen – erste Sahne, auch wenn er kaum mehr als eine halbe Stunde Zeit für hundert Zeilen hatte. So etwas erfordert natürlich volle Konzentration.«

Kramer nickte langsam; ihm dämmerte etwas. »Und wenn Kretschmer eins nicht gebrauchen konnte bei seiner Arbeit«, sagte er langsam, »dann war das …«

»Penetrante Störung, genau«, fuhr Stahnke fort. »Und dieser Proll, vielmehr Prollwitz, muss ihn mehr gestört haben, als selbst ein friedfertiges Schaf wie Kretschmer ertragen konnte. Schließlich sind Sportreporter praktisch die Einzigen, die neben dem Umbruchredakteur nach 22 Uhr noch hier oben sind. Und da Prollwitz offenbar ständig einen Gesprächspartner braucht, bekam Kretschmer regelmäßig den ganzen Segen ab.«

»Bis es dann reichte«, ergänzte Kramer. »Zum Beispiel gestern Abend, als wieder einmal ein später Spielbericht zu schreiben war. Na gut. Kretschmer griff also zum Messer – und dann? Kam Prollwitz ihm zuvor?«

Stahnkes Handy unterbrach die Unterhaltung mit dem Darth-Vader-Motiv. Das kriminaltechnische Labor. Der Hauptkommissar lauschte schweigend, bedankte sich dann und schaltete aus. »Auf dem Messergriff sind Kretschmers eigene Fingerabdrücke«, berichtete er. »Und zwar ausschließlich.«

»Und das heißt?«

»Dass es so war, wie ich’s mir dachte«, sagte Stahnke. »Kretschmer schreibt unter Stress, Prollwitz nervt und stört ihn. Kretschmer geht in die Technik, stellt fest, dass er mit seiner Arbeit unzufrieden ist, kann aber nichts mehr ändern, weil keine Zeit mehr ist. Wütend läuft er nach oben, geht in die Teeküche und greift sich ein scharfes Messer. Da hört er Prollwitz über den Gang kommen, der sich vermutlich wieder einmal einen Cappuccino holen will, und versteckt sich hinter der Tür, um ihm aufzulauern.«

Kramer nickte. »Ja, so weit klar. Aber dann?«

Statt einer Antwort streckte Stahnke den Kopf vor, ging mit schnellen Schritten auf die Tür zu und ließ sie mit einem wuchtigen Stoß seiner flachen Hand aufplatzen. Das Türblatt schlug krachend an die Innenwand.

»Dort stand Kretschmer«, sagte Stahnke. »Die Hand am Messergriff, das Messer in Stoßhaltung. Und weil er so paddelig war, zeigte die Spitze in diesem Moment vermutlich auf seinen eigenen Körper.«

»So dass die Tür ihm die Klinge in die Brust getrieben hat.«

Trotzdem schien Kramer noch nicht ganz überzeugt: »Aber dann müsste Prollwitz das doch mitbekommen haben. Warum hat der denn nichts gesagt, wenn es doch ein Unfall war?«

Stahnke zeigte auf den Kaffeeautomaten. Bei »Cappuccino« leuchtete ein rotes Lämpchen. »Sein Lieblingsgetränk war nicht vorrätig«, sagte er. »Prollwitz hat die Tür aufgestoßen, das rote Lämpchen gesehen, auf dem Absatz kehrtgemacht und ist davongestapft, noch ehe der Kretschmer umfallen konnte.«

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25 mayıs 2021
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