Kitabı oku: «Verrat verjährt nicht», sayfa 6

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8.

Heute

Mittag. Stahnke packte sein Butterbrot aus und biss herzhaft hinein. Der Gouda war hart und zu dick geschnitten, das Brot trocken und krümelig. Butter quoll zwischen seinen Zähnen hervor und kleckste über die Unterlippe auf seinen Unterarm. Natürlich war keine Serviette zur Hand. Was für eine Sauerei!

Sibylle Wiemken schob ihm eine Taschentuchbox über den schmalen Spalt zwischen ihren Schreibtischen. Die Hoffnung, sein Missgeschick könnte unbemerkt geblieben sein, war somit dahin. Er dankte mit einem verkniffenen Lächeln. Brotkrümel rieselten von seinem schlecht rasierten Kinn.

In Sachen Krümel konnte seine Kollegin mithalten; ihr Mittagsimbiss bestand aus einer Packung runder Doppelwaffeln, die bis zu ihm herüber nach Butter rochen, mit einer zähen Sirupschicht in der Mitte. Plombenzieher und Kalorienbomben. Stroopwaffeltjes, die Dinger waren berühmt, er kannte sie und mied sie wie die Pest. Viel zu süß, er bekam Sodbrennen davon.

Vor ihm auf dem Schreibtisch lag Seiferts Bericht. Stahnke schüttelte die Krümel vom Papier, ein großer Fettfleck blieb zurück. Der Hauptkommissar wickelte den Rest seiner Stulle in das gebrauchte Papiertaschentuch und versenkte das Bündel im Papierkorb.

Schiffspassagen Schleuse Oldenburg, zu Berg und zu Tal, aha. Eine Reihe von Schiffsnamen und Tonnagen war aufgelistet, dazu die Namen der Eigner und Schiffsführer. Mit Uhrzeiten, Schleuse ein, Schleuse aus. Sah gut aus, tatsächlich jedoch hatte Seifert es sich leicht gemacht und nur das Protokollbuch kopiert. Wenigstens hatte sein Kollege den fraglichen Zeitraum markiert. Während der Abwesenheit dieser Frau Dressel mitsamt ihrem Boot vom Jachtklub-Anleger hatten zwei Binnenschiffe die Schleuse passiert, eins in Richtung Hunte und Weser, eins in Richtung Küstenkanal. Beide waren Holländer, beide hatten Container geladen. Mit dem Abwärtsfahrer mussten sie reden. Früher sprachen fast alle Holländer gut Deutsch; mittlerweile wurde man beim Cafébesuch in Groningen auf Englisch angesprochen. Der Gedanke behagte Stahnke gar nicht. Unten auf dem Ausdruck befand sich ein handschriftlicher Zusatz, mit dünnem Bleistift, den hätte er fast übersehen. »Laut Aussage Schleusenwärter wurde kein weiterer Sportbootverkehr zwischen Auslaufen und Rückkehr der Sting beobachtet«, stand da. »Lediglich ein Angelboot zeitweise während des Nachmittags an verschiedenen Positionen. Eine Person, vermutlich männlich. Schlauchboot, dunkelrot.«

Stahnke lehnte sich zurück. Ein Angler? Einer, der mit seinem roten Gummiboot stundenlang im Hafenbecken dümpelte, um mal hier, mal dort seine Würmer zu baden? Wann sollte der denn wohl diesen hochgewachsenen älteren Mann in seine Gewalt gebracht, ihn gefoltert, gefesselt, mitsamt einer Autofelge an Bord genommen und im Jachthafen versenkt und ertränkt haben? Nein, als Täter kam dieser Angler wohl nicht in Frage. Aber vielleicht als Helfer. Mit der Aufgabe, den Schwimmsteg des Jachtklubs im Auge zu behalten und zu melden, sobald ein bestimmtes Motorboot seinen Liegeplatz verließ. Und dem eigentlichen Täter dann bei seiner Tat zur Hand zu gehen. Aber das setzte voraus, dass diese Journalistin mit dem engen T-Shirt richtiglag mit ihrer Behauptung, die Tat hätte irgendetwas mit ihr zu tun. Jemand wolle ihr etwas mitteilen, sie unter Druck setzen. Nur wusste diese Person leider nicht, wer. Und auch nicht, warum. Spielte die sich bloß auf? Möglich; ihre ganze Attitüde hatte in Stahnkes Augen etwas Wichtigtuerisches. In jungen Jahren zu kurz gekommen, brauchte sie daher besonders viel Aufmerksamkeit, so was in der Art. Wie er solche Leute verabscheute!

Sibylle Wiemken verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich. Eine halbe Minute später schwang die Bürotür wieder auf. War das etwa schon Olivia Dressel? Seit wann kamen Journalisten zu früh? Na, vielleicht war ihr noch etwas Wichtiges eingefallen. Der Hauptkommissar ließ seinen Drehstuhl herumschwingen.

Es war aber nicht Olivia Dressel, es war seine junge Kollegin, die Kommissarin Manuela Schönborn. Hochgewachsen, schlank, sehr hellhäutig, sehr ernst. Mitte 20. Sehr gut sieht sie aus mit ihren langen blonden Haaren, dachte Stahnke. Es hieß, die Polizei stelle bevorzugt hübsche Frauen ein, wenn sie denn schon Frauen einstellen musste. Wenn das stimmte, wäre es ein Armutszeugnis. Manuela Schönborn taugte nicht als Gegenbeweis.

»Hier.« Sie legte eine Mappe auf Stahnkes Schreibtisch, trat einen Schritt zurück, verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken. Ihre blassen Wangen zeigten hektisch rote Flecken, ihre Wimpern flatterten.

»Bitte setzen Sie sich.« Bloß nicht zu väterlich, dachte der Hauptkommissar, während er die Mappe öffnete. Das hatte Sina ihm ausgetrieben. Väterlich wirke auch nur geringschätzig gegenüber einer jüngeren Frau. Wie dann? »Sei ganz normal«, hatte Sina verlangt. Was war normal? »Das ist relativ.« Na super.

Die Mappe enthielt einen Stapel Fotografien, farbige Papierabzüge, wie sie bis vor einigen Jahren üblich gewesen waren. Sogar ein paar Polaroids waren dabei. Feiermotive, vermutlich hatte einer die Polaroidkamera als Party-Gag mitgebracht. Die junge Frau hier, war das Manuela selbst? Nein. »Ihre Mutter sah Ihnen sehr ähnlich«, stellte Stahnke fest. »Oder Sie ihr. Wie sagt man?«

»Danke. Meine Mutter war eine sehr schöne Frau«, erwiderte Manuela Schönborn, die sich einen Stuhl an die Seite des Schreibtisches gezogen hatte. Ihre Wangen waren inzwischen vollständig in zartes Rosa getaucht, aber ihr Blick war fest. Hellblaue Augen, das Klischee war komplett.

Manuelas schöne Mutter war auf beinahe jedem der mitgebrachten Fotos zu sehen. Mal alleine, meistens aber im Kreis anderer junger Leute, Studentinnen überwiegend, gelegentlich auch junger Männer, überwiegend mit langen Haaren und struppigen Bärten. Stahnke fühlte sich an Marian Godehau erinnert. Ein bisschen auch an Thorsten Venema.

Auf einigen Fotos waren im Hintergrund Unigebäude zu erkennen, auf anderen das Johann-Justus-Wohnheim. Manchmal auch nur Landschaft oder Baggerseen. Man war wohl öfter gemeinsam spazieren gegangen oder im Sommer schwimmen. Lustig ist das Studentenleben, kam es Stahnke in den Sinn, faria, faria ho! Ach nein, falsches Lied – Zigeuner, nicht Studenten.

Einer der wenigen abgelichteten Männer ohne Bart und Langhaarmatte war Heino Zander. Ein gut aussehender Mann, blond und hochgewachsen, auffallend seriös in dieser Gesellschaft. Auf den Gruppenbildern war er nie dabei, dafür gab es eine ganze Reihe Fotos, die die beiden als Paar zeigten. Manchmal mit Feiernden im Hintergrund, was aber nur den Eindruck unterstrich, dass diese zwei zusammengehörten. Manuelas Mutter sah glücklich aus, und auch Heino Zander lächelte. Ein wenig schief und spöttisch, aber immerhin.

Stahnke hielt beim Durchblättern der Fotos inne. Er sortierte die Bilder aus, die Zander zeigten, stauchte sie zu einem Stapel zusammen, hielt sie fest und ließ seinen Daumen über die Kante gleiten. Heino Zanders Gesicht huschte vorbei, wieder und wieder, in den verschiedensten Größen und Situationen. Aber immer mit demselben Lächeln.

»Wie lange ging das denn mit Zander und Ihrer Mutter?«, fragte der Hauptkommissar.

»Ein halbes Jahr«, sagte die Kommissarin. »Die meiste Zeit hat er sie wohl nicht gut behandelt, aber sie war über beide Ohren in ihn verliebt. Dann hat er Schluss gemacht, von einem Tag auf den anderen. Genau an dem Tag, als sie ihm erzählt hat, dass sie schwanger sei.«

Stahnkes Augenbrauen schnellten in die Höhe. Hochgewachsen, blond, gut aussehend – klar, die Ähnlichkeit war augenfällig. War seine Kollegin wirklich die Tochter des Opfers? Aber nein, das kam vom Alter her nicht hin. Die Fotos mussten aus den frühen 80er-Jahren stammen. Wenn Manuela Schönborn damals gezeugt worden wäre, müsste sie mindestens zehn Jahre älter sein.

»Sie hat ihm natürlich eine Szene gemacht«, fuhr die junge Kommissarin fort. »Hat auf seine Mitverantwortung gepocht. Da hat er sie geschlagen. Und rausgeworfen.«

»Das hat sie sich gefallen lassen?«, entfuhr es Stahnke. Die Jahre mit Sina hatten ihre Spuren hinterlassen.

»Ja«, antwortete Manuela Schönborn, ihre Stimme so hart wie ihre Miene. »Das hat sie. Ich kann mir das heute auch kaum vorstellen, aber ich war damals noch nicht auf der Welt.«

Der Hauptkommissar schluckte. Er ahnte, wie es weitergegangen war.

»Sie ist dann nach Holland gefahren«, berichtete die Kommissarin mit belegter Stimme. »Viele machten das noch so, obwohl Abtreibungen auch in Deutschland legalisiert waren. Aber der gesetzlich verordnete Spießroutenlauf war quälend, den wollten sich viele Frauen nicht antun. Einige bekamen lieber unerwünschte Kinder. Meine Mutter fuhr nach Groningen.« Sie beugte sich vor, griff nach den Fotos, die nicht Heino Zander zeigten, und suchte ein Gruppenbild heraus: »Hier, das ist Rainer Schönborn. Gehörte damals schon zum Freundeskreis meiner Mutter. Er hat sie bei allem unterstützt, auch finanziell, aber vor allem psychisch. Oder moralisch, wie Sie wollen. Zwei Jahre später hat er meine Mutter geheiratet. Und als dann keiner mehr damit rechnete, kam ich auf die Welt.«

Rainer Schönborn, einer von den struppigen Marian-Typen auf den Uni-Fotos. Haare und Bart straßenköterbraun, mittelgroß, leichter Bauchansatz. Mit solchen Leuten führten hübsche Frauen tiefgründige Gespräche, dachte Stahnke, nächtelang. Mit dem Sowieso kann man über alles reden, hach! Aber nach Hause und in die Kiste ließen sie sich von den anderen abschleppen. Von den großen, gut aussehenden Heinos mit dem abfälligen Grinsen. Mann ey, Frauen!

»Ihr Vater also.« Rein optisch konnte Stahnke keine Ähnlichkeit zwischen dem Mann auf dem Foto und seiner Kollegin feststellen. Sie kam offensichtlich ganz nach ihrer Mutter. »Haben er und Heino Zander sich eigentlich gekannt? Und wenn ja, hat er ihn nicht mal zur Rede gestellt?«

Die Kommissarin nickte. »Sie kannten sich nur flüchtig; unterschiedliche Fächer und Studiengänge, verschiedene Semester, da sieht man einander höchstens in der Mensa oder auf Partys. Vielmehr Feten, so sagte man damals. Und was das andere betrifft …« Sie verzog kurz ihren Mund, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Mein Vater war nicht so der kämpferische Typ. Weich, sehr auf Ausgleich bedacht. Den hätte einer wie Heino Zander ungespitzt in den Boden gerammt.« Sie schüttelte den Kopf.

»War?«, hakte Stahnke nach. »Ihr Vater lebt nicht mehr?«

»Nein. Er starb zwei Jahre nach meiner Geburt an Krebs. Gesichtskrebs, das muss eklig gewesen sein. Ging dafür relativ schnell. Dagegen hat er auch nicht sonderlich hart gekämpft.«

Sibylle Wiemken betrat das Büro, eine Ermittlungsakte unter dem Arm, und nickte ihrer jungen Kollegin freundlich zu. Die kurze Unterbrechung reichte Stahnke, um sich wieder zu fangen. »Ihre Mutter hat Sie also allein aufgezogen?«, fragte er. »Oder hat sie wieder geheiratet?«

»Hat sie nicht«, erwiderte Manuela Schönborn. »Sie hat gearbeitet und für mich gesorgt, bis ich 18 Jahre alt war. An dem Tag hat sie sich umgebracht.«

»Aber Kind!« Oberkommissarin Wiemken ließ die Akte fallen. »Du armes Kind! Das wusste ich noch gar nicht.«

Manuela Schönborn rang sich ein bitteres Lächeln ab. »So was erzählt man auch nicht im Kollegengespräch. Sorry, ich hätte das gerne weiterhin für mich behalten. Aber ich bin nun einmal Polizistin, also werde ich hier nichts, das relevant sein könnte, für mich behalten.«

Stahnke fragte nicht, er starrte die junge Frau nur an. Er hatte so etwas geahnt.

»Meine Mutter hat mir einen Brief hinterlassen«, sagte Manuela Schönborn. »Sie hat alles aufgeschrieben. Wie sie auf Heino Zander hereingefallen ist, wie sie sich hat täuschen lassen von seinem Aussehen und seinem vielen Geld. Wie er sie gedemütigt und im Stich gelassen hat, als sie ihn am nötigsten brauchte. Dass sie sich die Abtreibung niemals verziehen hat. Dass sie die Liebe meines Vaters nur ausgenutzt hat und sich auch deswegen schuldig fühlte. Schuldig auch an seinem Tod.« Sie senkte ihre Wimpern und schüttelte den Kopf: »Meine Mutter glaubte fest, dass Krebs eine Folge negativer Gedanken sein kann. Vater war wohl klar, dass er nur zweite Wahl war. Dass meine Mutter ihn nie geliebt hat, sondern nur entlohnt. Für seine Hilfe. Das hat sie wirklich so aufgeschrieben! Nach seinem Tod hat sie nur meinetwegen durchgehalten, aber nur solange wie unbedingt nötig. Dann hat sie sich umgebracht, so wie diese andere Frau. Nur mit Schlaftabletten, ganz unspektakulär. Ich war die ganze Nacht weg, meinen 18. Geburtstag feiern mit Freundinnen. Sie hatte alle Zeit der Welt.«

Stahnke räusperte sich. »Diesen Brief würde ich gerne sehen«, sagte er.

»Das glaube ich«, sagte Manuela Schönborn. »Aber das geht leider nicht. Ich habe ihn verbrannt.«

»Verbrannt?«, fragte der Hauptkommissar. Er traute seinen Ohren nicht.

»Den Abschiedsbrief deiner Mutter?«, empörte sich Sibylle Wiemken. »Wie konntest du …« Sie unterbrach sich. »Wurde der denn nicht zu den Akten genommen? Der Todesfall wurde doch bestimmt untersucht?«

Die junge Kommissarin schüttelte den Kopf. »Unserem alten Hausarzt habe ich ihn gezeigt. Der hat daraufhin eine natürliche Todesursache bescheinigt. Inzwischen ist der selbst längst tot. Den Brief bekam ich zurück.« Sie atmete tief ein und aus. »Ich konnte ihn nicht ertragen. Dieser Brief enthielt das Fazit zweier zerstörter Leben. Die Trümmer, aus denen ich hervorgegangen bin. Es ist schwer genug, mit solch einer Hypothek zu leben, selbst wenn man es schafft, sie zu verdrängen. Die meiste Zeit. Dieser Brief hat mich daran gehindert. Darum habe ich ihn vernichtet.«

Sie verschränkte die Arme. Stahnke stützte sein Kinn in die Handflächen. Eine Minute lang war es totenstill im Zimmer. Dann fragte Oberkommissarin Wiemken: »Wer war diese andere Frau, die du vorhin erwähntest? Die sich ebenfalls umgebracht hat?«

9.

Sommer 1937

Hinter der Grenze schmeckte die Luft irgendwie anders. Frischer. Freier. Besser. Dabei sah das Land jenseits von Nieuweschans auch nicht anders aus als rund um Oldenburg. Satt grünes Gras, schwarz-weiße Kühe, hingetupfte Bäume, moorbraunes Wasser in den Kanälen. Der Eemskanaal, der immer wieder linker Hand in Sicht kam, hätte auch der Küstenkanal oder irgendeine Wasserstraße in Ostfriesland sein können. Aber die Augen saßen nun einmal im Kopf, und der Kopf wusste Bescheid. Hier lagen die Dinge anders. Bei der Grenzkontrolle hatte es keine Probleme gegeben. Georg Zander wusste immer vorher, wer wann Dienst hatte und wer für kleine Gefälligkeiten empfänglich war. Dabei sahen alle Papiere korrekt aus und hätten bestimmt einer oberflächlichen Prüfung standgehalten. Aber sicher war sicher. Allein wegen der Möbel, die mit auf der Ladefläche des großen Lastwagens standen. Wundervoll geschnitzte Schränke und Anrichten, ein großer Tisch mit erlesenen Intarsien, passende Stühle und schwere Ledersessel. Solches Zeug ließ sich in Deutschland immer schwerer an den Mann bringen. Jeder wusste, woher diese Dinge stammten, niemand bot mehr dafür als unbedingt nötig. Das war in Holland anders. Klar, auch hier wussten die meisten Bescheid, was jenseits der Schlagbäume vor sich ging; auch hier war das den meisten Leuten herzlich egal. Jeder musste sehen, wo er blieb; hatten sie nicht ihre eigenen Sorgen? Der entscheidende Unterschied bestand darin, dass der Markt hier noch nicht so überfüttert war. Die Niederlande waren exportorientiert, viele Artikel gingen direkt weiter nach Übersee. Entsprechend hoch waren die Preise. Groningens Silhouette kam in Sicht, überragt vom Turm der Martinikirche. Etwas zu forsch lenkte Erhard seinen Wagen über das Kopfsteinpflaster; lautes Rumpeln von der Ladefläche rief ihn zur Ordnung. Hoffentlich hatten sie die kostbaren Möbel ausreichend abgepolstert. Um das Porzellan machte er sich keine Sorgen, da war alles in Butter. Schmuck, Tafelsilber und Bargeld waren unempfindlich. Je näher er dem Bahnhof kam, desto mehr nahm der Verkehr zu. Einmal gab es sogar einen Stau; ein Pferdefuhrwerk hatte einen Teil seiner hochgetürmten Heuladung verloren, zwei Knechte mühten sich mit langen Gabeln, das Missgeschick zu richten, während sich die wartenden Chauffeure einen Spaß daraus machten, sich gegenseitig mit ihren Hupen zu übertönen. Erhard machte dabei nicht mit, wartete geduldig und sang lieber leise vor sich hin. Nur nicht auffallen, diese Devise galt immer und überall. Zumal mit solch kostbarer Ladung an Bord.

Nach wie vor lief ihr Geschäft prächtig. Georg Zanders Prophezeiung hatte sich nicht bewahrheitet. Der Staat bemühte sich zwar um mehr Kontrolle der Geschäfte mit dem veräußerten Besitz jüdischer Emigranten, hatte dabei jedoch mit mehreren Nachteilen zu kämpfen. Zum einen hatte die Gegenseite, also Leute wie die Zanders und er, einen Erfahrungsvorsprung von mehreren Jahren; zum anderen waren die Gebrüder Zander als SS-Offiziere selbst Teil des nationalsozialistischen Machtapparats und konnten sich alle wichtigen Informationen ohne größere Schwierigkeiten beschaffen. So spielten sie Hase und Igel und waren stets vor dem Hasen am Ziel. Allerdings waren sie nicht die einzigen Igel im Spiel. Längst nicht mehr. Die Konkurrenz nahm zu, man lief sich über den Weg, kam einander in die Quere. Das verdarb die Preise und erhöhte das Risiko. Die Gefahr, dass einer dieser Mitbewerber durch eigene Ungeschicklichkeit aufflog, dass er dann andere verriet und mit reinriss, wuchs mehr und mehr. Das Ende des Weges kam näher, Schritt für Schritt. Erhard Köhler durfte den richtigen Moment zum Aussteigen nicht verpassen.

Eigentlich hätte er längst aufhören können, denn die Zanders und er schwammen im Geld. Auch wenn Georg und Hasko sich selbst größere Stücke vom Kuchen genehmigten als ihm, obwohl er die Hauptarbeit erledigte, blieb für ihn immer noch mehr als genug übrig. Allein durch seinen offiziellen Anteil. Von dem anderen ganz zu schweigen.

Als es endlich weiterging, wechselte Erhard vom Stationsweg über die Herebrug auf die andere Seite des Kanals und bog nach links in den Ubbo-Emmius-Singel ein. Ab hier wurde die Strecke unübersichtlich, aber Erhard kannte sich aus und lenkte seinen Lkw flüssig durch die engen Gassen. Sein Ziel war die Pottebakkersrijge. Das schmutzig grüne Holztor neben einer dunklen Backsteinfassade öffnete sich wie von Geisterhand, als er sich näherte, und schloss sich wieder, kaum dass er es passiert hatte. Wieder einmal hatte er ihren Groninger Stützpunkt ohne Komplikationen erreicht.

Der Mann, der ihn zur Begrüßung herzlich umarmte, hatte die Figur eines Würfels: klein, breit, enorm muskulös. Seine Haut war haselnussbraun, sein schwarzes Haar war stark geölt und lag am Kopf wie ein Helm. In seinem schneeweißen Gebiss, von breit lächelnden Lippen entblößt, glänzte ein goldener Schneidezahn. »Grüß dich, Djamel, zerquetsch mich nicht!«, rief Erhard lachend und klopfte seinem Vetter auf die Schulter wie ein Ringer, der seine Aufgabe signalisiert. »Ah, das fühlt sich teuer an. Seit wann trägst du Seidenhemden?«

»Seit der Kiste mit den Bildern.« Djamel hob Erhard hoch und schüttelte ihn spielerisch wie eine Stoffpuppe. »Lauter holländische Meister! Namen hab’ ich vergessen, aber die Ölschinken haben sie mir nur so aus den Händen gerissen. Einige der Käufer kamen aus Amsterdam und Den Haag. Sogar ein Museumsdirektor war dabei.«

»Museumsdirektor?« Erhard befreite sich aus dem Griff seines Cousins und zog seine Weste zurecht. »Hat der sich denn mit unseren Herkunftsnachweisen zufriedengegeben? Und mit den Echtheitszertifikaten?« Einige davon hatte er selbst geschrieben. Streng nach originalen Vorbildern, aber dennoch so falsch wie das Stöhnen einer Hure.

»Zufrieden? Der hat getanzt vor Freude.« Djamel klatschte kräftig in die Hände und deutete ein paar Tanzschritte an. »Was glaubst du, wie glücklich der war, wieder ein paar Werke seiner berühmten Landsleute aufhängen zu dürfen. Da interessiert den doch nicht, was aus ein paar deutschen Juden geworden ist. Für einen Holländer sind Deutsche doch alle Moffen, egal ob christlich oder jüdisch.« Er begann, die Verschnürung der Lkw-Plane zu lösen. »Und was bringst du heute für Schätze?«

Zum Abladen der Möbel winkte Djamel zwei junge Männer heran, Roma aus dem Osten, die anscheinend weder Holländisch noch Deutsch sprachen und in einer Holzhütte innerhalb der Umzäunung hausten, Nachtwächter und Gelegenheitsarbeiter zugleich. Die Kisten und Butterfässer trugen Erhard und Djamel selbst ins Lagerhaus. Das Porzellan befreite Djamel mit eigenen Händen aus der schützenden Butter. Dass er sich dabei sein teures Seidenhemd befleckte, war ihm vollkommen egal.

»Latscho! Das gibt wieder gute Umsätze«, freute er sich, nachdem sie alle Eingänge genauestens aufgelistet und abgehakt hatten. »Für die Möbel weiß ich schon Abnehmer, neureiche Kaufleute, die gerne Adel spielen möchten. Für die wäre vielleicht auch dieses Service etwas.« Zärtlich strichen seine breiten Finger über die fettigen Schnörkel und Ornamente, die Erhard reichlich übertrieben fand.

Etwas von der Butter sammelte Djamel auf einem Stück Pergamentpapier. »So, jetzt gehen wir in die Küche, zur Feier des Tages mache ich uns Pfannkuchen.«

»Pfannkuchen?« Erhard Köhler verzog seinen Mund. »Solch ein Süßkram ist doch nichts für einen arbeitenden Menschen! Mir ist eher nach etwas Deftigem.« Auf ein zünftiges Gulasch hatte er gehofft, mit Paprika und Kartoffeln, vielleicht auch Bratfisch oder Sauerkraut mit Bohnen. So etwas hatte es früher oft gegeben, als in Deutschland noch große Roma-Treffen stattgefunden hatte. Lange vorbei. Damals hatte seine Mutter noch gelebt, dachte Erhard. Schnell schloss er die schwere Tür in seinem Inneren wieder und schob den Riegel vor. Schmerz war nicht gut, er trübte nur den Blick für die schnellen Entscheidungen, die das Leben jeden Tag von ihm verlangte. Wie an der Schießbude, wenn man die große Auswahl wollte; da musste auch jeder Schuss ein Treffer sein. Schmerz störte dabei und gehörte weggesperrt.

»Nach etwas Deftigem steht dir der Sinn? Kannst du haben, mein Lieber, kannst du haben.« Djamel dirigierte ihn in die große Küche, zückte sein Klappmesser und beförderte eine großzügige Portion Butter in die vorgeheizte Pfanne, dass es zischte. »Pannekoeken met Ham en Kaas, sollst mal sehen, wie gut das schmeckt.«

Von der Decke hingen mächtige Schinken, dicke Hartwürste und eine ganze Speckseite. Djamel schnitt ein großzügiges Stück vom Speck ab, zerkleinerte es mit geübten Bewegungen und offensichtlich rasiermesserscharfer Klinge und briet sie in einer kleinen Extrapfanne scharf an. In die große Pfanne kamen zwei Kellen flüssiger Teig; nach dem Stocken und Wenden wurden Speckstücke und Goudascheiben auf dem halbfertigen Pfannkuchen verteilt, dann kam für die letzten zwei Minuten ein Deckel drauf. Intensiver Duft breitete sich in der Küche aus. Erhard lief das Wasser im Munde zusammen.

Djamel hatte nicht zu viel versprochen. Gebratener Speck, angeschmolzener Käse und leicht gesalzener Pfannkuchenteig passten hervorragend zusammen. »Besser als Peke balitschane guschuma, was?«, fragte Djamel lachend und mit vollem Mund.

»Gebratener Schweinemagen? Bist du verrückt?«, wehrte Erhard ab. »So was essen sie in Süddeutschland auch, hab’ ich gehört. Geh mir bloß weg, darauf kann ich verzichten.«

Gegen den Durst gab es dünnes holländisches Bier. Erhard nahm einen zweiten Pfannkuchen, Djamel vertilgte gleich drei; wie er das anstellte, während er gleichzeitig beide Pfannen im Auge behielt und für mehr Speckwürfel und Goudanachschub sorgte, blieb Erhard ein Rätsel. Den allerletzten Pannekoeken teilten sie sich. Danach musste Erhard seinen Gürtel und den obersten Hosenknopf lösen und kräftig durchschnaufen. Djamel goss Kaffee auf und stellte ihm einen großen Becher hin. »Auf das Leben! So sagen die Juden immer. Recht haben sie. Lass uns das Leben genießen!«

»L’chaim!« Erhard hob seinen Becher, erst zum Toast und dann zum Mund. »Der beste Kaffee meines Lebens«, schwärmte er. »Was ist das hier nur für ein tolles Land! Hier sollten wir für immer bleiben.«

Auch Djamel trank, aber als er seinen Becher absetzte, war sein Überschwang dahin. »Für immer, das ist lang«, murmelte er. »Willst du dir dein Haus für die alten Tage direkt neben einem Vulkan bauen? Was ist, wenn er ausbricht?«

»Zu nah an Deutschland, meinst du?« Erhard wiegte seinen Kopf hin und her. »Brodeln tut es wohl, da hast du recht. Rache für Versailles. Deutsches Blut für deutschen Boden. Kann gut sein, dass irgendwann etwas passiert. Aber doch nicht gegen Holland! Frankreich ist der Erbfeind, England der Rivale, von Polen will man das verlorene Land zurück, und die meisten Untermenschen leben in Russland. Von den Juden mal abgesehen. Was hätten die Holländer zu befürchten? Die haben doch damals sogar den deutschen Kaiser aufgenommen, als der nach dem vergeigten Weltkrieg abgehauen ist.«

Djamel verschränkte seine Hände hinter dem Kopf; seine Oberarmmuskeln spannten sich, die Nähte des Seidenhemdes krachten. »Die Holländer denken etwas anders«, wandte er ein. »Wenn Große erst miteinander kämpfen, werden die Kleinen schnell mal zertreten. Die Nazis sind nicht für Rücksichtnahme bekannt. Auch nicht dafür, dass sie sich an internationale Regeln halten. Und was Untermenschen angeht – du weißt, wer für die Herrenmenschen alles dazuzählt.«

»Mit meinen persönlichen Herrenmenschen komme ich gut zurecht«, wehrte Erhard flapsig ab. Sein Lächeln sollte selbstsicher aussehen, geriet ihm jedoch sehr dünn.

»Herrenmenschen! Hier gibt es auch welche davon.« Djamel schüttelte den Kopf; seine ölglänzende Frisur saß wie gemeißelt. »Zwei davon sind mir letzte Woche begegnet, nachts, am Turfsingel. Hatten ordentlich Genever intus. Die hättest du mal hören sollen. Dreckszigeuner war noch das Netteste.« Er ließ seinen Goldzahn blitzen: »Ich habe sie alle beide vermöbelt. Von wegen Herrenmenschen! Das sind doch die letzten Schlappsäcke. Wenn Rasse das Einzige ist, womit die prahlen können, sind sie sehr arm dran.«

»Verprügelt? Haben die dich erkannt?« Erhard war alarmiert. »Du weißt, dass wir keinen Ärger gebrauchen können. Es ist nicht weit von hier bis zur Grenze. Oder nach Oldenburg.«

»Ach, die waren viel zu besoffen.« Djamel winkte ab. »Außerdem war es dunkel. Und dunkel bin ich auch. Nicht so ein Weißling wie du. Hör mal, wie machst du das, schrubbst du dich jeden Abend mit eurer deutschen Kernseife? Mensch, du bist so hell, du leuchtest im Dunkeln!«

Gegen seinen Willen musste Erhard lachen. Wahrscheinlich hatte sein Vetter recht, man musste sich nicht wegen jeder Kleinigkeit gleich Sorgen machen. Wegen der großen Dinge allerdings schon.

»Lass uns über das Geld reden«, sagte er. »Das geht wie immer nach Luzern. Bargeld über Amsterdam. Alle Wege noch offen? Kontaktmänner sicher? Kuriere auf Abruf?«

Djamel nickte. »Kontenverteilung wie gehabt?«, fragte er leise und mit gerunzelter Stirn.

»Wie immer.« Erhard nickte. »Georg Zander, Hasko Zander, Erhard Köhler.« Er stand auf, reckte sich und schloss Hose und Gürtel. »So, lass uns die Liste kontrollieren, ich muss bald wieder los. Ach ja, eins noch.« Er ließ sich ein Brecheisen reichen und öffnete eine Kiste, die mit edlen Stoffen gefüllt war, griff in die bunte Fülle hinein und förderte eine zerschrammte Ledertasche zutage. »Das hier kommt ins Depot. Für die Familie. Übliche Stelle. Du bürgst mir dafür!«

Djamel öffnete die Tasche und musterte den Inhalt. »Goldbarren«, flüsterte er andächtig. »Und in dem Säckchen? Diamanten? Erhard, mein Lieber, ich bitte dich, übertreib es nicht! Sonst kommen sie dir noch drauf, und dann …«

»Keine Sorge«, beschwichtigte Erhard. »Ich habe die Zander-Brüder auf eine falsche Fährte gesetzt. Die bösen Konkurrenten, verstehst du? Die uns immer zuvorkommen und die besten Geschäfte wegschnappen. Nach denen fahnden die gerade. Da können sie lange suchen!«

»Wer lange sucht, der findet auch«, unkte Djamel. »Irgendwas bestimmt. Und ehe du dich versiehst, hängst du am Haken.«

»Seit wann bist du denn so ein Miesepeter!« Er haute seinem Vetter auf die Schulter; es fühlte sich an, als schlage er auf Stahlbeton. »Es ist doch auch für euch. Für dich, deine Frau, deinen Sohn. Übrigens, spielt er noch Fußball bei Frisia Oldenburg, dein Django? Hab’ ihn lange nicht mehr gesehen.«

»Er spielt noch«, sagte Djamel. »Ist immer noch ein großer Fan von Erich. Will mal genauso spielen wie der. Er schwärmt immer noch von dem legendären Spiel gegen St. Pauli, als dein Bruder alle drei Tore gemacht hat. Mann, das war vielleicht ein Ding.«

»Da war er dabei?« Erhard konnte sich nicht erinnern, Djamels Sohn dort gesehen zu haben, nur, dass irgendwelche Jungs neben der Bank gesessen hatten, genau wie er. »Ich schau mal, wann das nächste Jugendspiel angesetzt ist, dann geh’ ich hin und feuere ihn an«, versprach er; es klang halbherzig, sogar für ihn.

»Lass mal«, sagte Djamel. »Besser nicht. Er hat schon genug Ärger wegen seines Namens. Sobald ihn jemand anfeuert, fangen andere an zu pöbeln. Lieber den Ball flachhalten.«

Sie verabschiedeten sich voneinander, mit langem, festem Handschlag, innigem Augenkontakt und anschließender Umarmung. Djamel war älter als Erhard, etwa so alt wie Erich, und er mochte ihn fast genauso gern. »Pass gut auf alles auf«, sagte Erhard, sobald er wieder Luft bekam. »Für die Familie.«

»Für die Familie«, wiederholte Djamel. »Und sag Bescheid, ehe der Vulkan ausbricht. Nicht erst, wenn’s zu spät ist.«

Erhard startete seinen Lkw und lenkte ihn hinaus auf die Gasse. Das schmutzig grüne Tor schloss sich hinter ihm wie von Geisterhand.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
373 s. 6 illüstrasyon
ISBN:
9783839270042
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