Kitabı oku: «Zorn und Zärtlichkeit», sayfa 3

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Stinus hatte sich wieder dem Modellschiff zugewandt. Seine Finger wanderten über den Glassturz wie Matrosen, die begierig darauf waren, in die Wanten zu entern. Das gab Erika Zeit, die Worte des Jungen zu Bildern umzuformen. Marschieren in Holzschuhen! Sie wusste, wie weh das tat, wenn die Klompen nicht genau passten. Torf stechen mit einem Holzspaten! Draußen im Schuppen lag so ein klobiges Ding, es war schwer und nur mit viel Kraftaufwand zum Graben in die Erde zu bekommen. War man da nicht schon nach einer halben Stunde fix und fertig? Antreten kannte sie, das machten sie in der Schule auch, manchmal sogar im Regen. Wenn man müde war, fiel einem das bestimmt nicht leicht, schon gar nicht stundenlang. Und Prügelgasse? Dieses Wort hatte sie noch nie gehört, aber sie konnte es sich ausmalen. O Gott, dachte Erika, lieber Gott, wie kannst du das nur zulassen!

Was, wenn sie selbst all das ertragen müsste? Sterben würde sie, früher oder später. Wahrscheinlich früher, wenn sie befürchten musste, dass solches Leid kein Ende hatte. Wenn es keine Hoffnung gab. Bestimmt starben dort im Moor viele Menschen, jeden Tag, und je länger es dauerte, desto mehr. Ihr Opa lebte noch, hatte dieser Janssen gesagt. Wann? Wie lange war das schon wieder her? Was war seitdem passiert?

Sie wollte Stinus fragen, wie viele Menschen in diesem Lager schon gestorben waren. Vielleicht hatte Janssen ja sogar damit geprahlt. Aber sie fragte lieber nicht, hatte Angst, dass er noch einmal die Achseln zucken würde. Das könnte sie nicht ertragen.

Vermutlich hatte dieser Janssen aber doch nicht mit Toten geprahlt. Darüber wurde nicht offen gesprochen. Merkwürdig eigentlich, wenn man bedachte, wie laut und unverblümt gedroht und angekündigt wurde. Warum zögerte man bei der Vollzugsmeldung? Glaubte man, irgendjemanden damit täuschen zu können? Lächerlich, es weiß doch sowieso jeder, was läuft, dachte Erika. Sie jetzt auch.

Was konnte man tun? Was konnte sie tun? Sie war nur ein Kind, und die Nazis waren mächtig und überall, selbst das andere Kind in diesem Raum gehörte zu ihnen. Wer sich gegen die Nazis stellte, spielte mit seinem Leben. Was blieb? Erika wusste, was ein Märtyrer war, das hatte sie in Religion gelernt. Märtyrer gingen sehenden Auges in den Tod, wenn sie an etwas glaubten. Erika aber hatte nie begriffen, wozu ein Märtyrertod gut sein sollte. Sie liebte ihren Großvater, aber was konnte ihr Tod ihm helfen? Wie konnte der ihn retten, ihm wenigstens einen weiteren Monat verschaffen, eine Woche, einen Tag?

Hoffnung. Das Wort stand ihr plötzlich vor Augen. Ohne Hoffnung starb man schneller. Mit Hoffnung – später? War Hoffnung nur Trug, eine unnötige Verlängerung unerträglicher Leiden? Das konnte man nicht wissen. Und das war vielleicht schon alles, worauf man hoffen konnte.

»Ich möchte meinem Opa eine Nachricht zukommen lassen«, sagte Erika leise, aber mit fester Stimme.

»Was?« Stinus fuhr herum. »Bist du wahnsinnig? Weißt du, was passiert, wenn das rauskommt?« Er schien sich das gerade vorzustellen, denn seine Augen quollen hervor.

Jetzt war es an Erika, die Achseln zu zucken. »Auch nicht mehr als jetzt schon, denke ich«, sagte sie leichthin. Janssen hatte Stinus etwas erzählt, das ihr wichtig war; dafür müsste sie ihm dankbar sein. Stattdessen erwog sie, den Mann unter Druck zu setzen, ebenso wie Stinus, ohne Gewissensbisse, denn beide hatten sich schuldig gemacht.

Himmel, dachte Erika, was tue ich hier? War ich nicht vor ein paar Wochen noch ein Kind?

Stinus starrte und schwieg, schien ihren Gedankenpfaden zu folgen und zum gleichen Ergebnis zu kommen. Er nickte nachdenklich. »Habt ihr Schnaps?«, fragte er dann unvermittelt.

»Glaube schon«, antwortete Erika. In der Speisekammer standen bestimmt noch ein paar Flaschen. Oma hatte immer auf Vorratshaltung geachtet, und seit Opa weg war, trank hier ja keiner mehr Korn.

»Gut«, sagte Stinus. »Wir können es versuchen. Janssen kommt ja ziemlich oft nach Jemgum, wenn er frei hat. Mit Schnaps wird es gehen. Schreib du was auf. Aber keine Namen, verstanden? Schreib so, dass dein Opa weiß, von wem es ist, aber sonst keiner.« Er verschränkte seine Arme vor der schmalen Brust und richtete sich zu seiner ganzen, bescheidenen Größe auf. »Und ich will etwas dafür.«

Nicht das Schiff, dachte Erika, bitte, bitte nicht das Schiff. Was soll ich bloß Oma erzählen? Und kann ich etwa nein sagen? Bitte nicht das Schiff!

»Du musst mit mir nächsten Sommer zum Müggenmarkt gehen«, verlangte Stinus. »Und auch zum Gallimarkt nach Leer. Nächsten Monat! Ich in Uniform, du mit Zöpfen. Mit Händeanfassen! Sonst mache ich es nicht. Na, was ist?«

Gott sei Dank. Erika strahlte vor Erleichterung. Nur ein paar Jahrmarktsbesuche, was war das schon! »Abgemacht«, sagte sie.

Jetzt strahlte auch Stinus. So, als hätte er einen überraschend guten Preis erzielt.

5.

Wäre er bloß nicht noch einmal in sein Büro gegangen! Und hätte er, einmal dort, nur die Finger vom Telefon gelassen! Gegen antrainierte Reflexe aber kam auch ein Stahnke nicht an, und so hatte er Schmitz am Ohr gehabt, den Kollegen Schmatzeschmitz aus Emden mit der erbetenen Info in diesem zähen, überlagerten, vielleicht schon erkalteten Fall von Brandstiftung, auf dem er seit Wochen uninspiriert herumkaute, weit uninspirierter als dieser Schmitz auf seinen ewigen Lakritzen. Klar, dass er seinen Kollegen nicht mit zwei Worten abfertigen konnte, schließlich erwies der ihm ja einen Gefallen. Also kaute ihm Schmatzeschmitz ein Ohr ab. Hörbar. Stahnke hatte ein paar Notizen auf seine Schreibunterlage gekrickelt, sich mehrmals bedankt und es schließlich doch noch geschafft, das Gespräch zu beenden, ohne die freundschaftlichen Kontakte zum Emder Ableger der Inspektion entscheidend zu gefährden. Trotzdem, eine Viertelstunde hatte ihn das gekostet.

Und jetzt war er zu spät.

Als er den feuchten, gewölbeartigen Keller betrat, war Dedo de Beer schon da. Wie ein Feldherr ohne Hügel stand er inmitten geschäftiger Overall-Träger, die er dirigierte wie ein eingespieltes Orchester, das seine Partitur im Schlaf beherrschte und vielleicht alles Mögliche brauchte, bestimmt aber keinen Dirigenten. Auch Kramer war da, wie Stahnke mit aufwallender Eifersucht feststellte. Immerhin aber hielt er Abstand zum neuen Chef.

»Ja, genau dahin. Sehr gut, sehr gut.« De Beer begleitete die Aufstellung einer dieser neuartigen Rundum-Kameras, die ein geradezu plastisches Abbild des gesamten Tatortes festzuhalten vermochten, mit einem steten Fluss von Kommandos. Dass sich keiner der Techniker darum kümmerte, scherte ihn überhaupt nicht. »Jawoll, so muss das gehen. Das ist die neue Zeit, was, Kollegen? Genau das brauchen wir hier. Keine veralteten Methoden aus der Mottenkiste.« Beifallheischend schaute de Beer um sich. »Fossilien. Ab damit ins Museum! Die alten Zeiten sind vorbei. Einen Stahnke zum Beispiel kann hier wirklich keiner gebrauchen.« Dass sein Blick im selben Moment auf den Träger dieses Namens fiel, hätte kein Dramaturg wirkungsvoller arrangieren können. De Beer verstummte und erstarrte, und mit ihm verstummte und erstarrte jeder andere im Raum.

Warum Stahnke gerade jetzt breit zu lächeln anfing, hätte er selbst nicht zu erklären vermocht. Vielleicht, weil es nun offensichtlich war. Die Fehde war erklärt, die Duellforderung ausgesprochen, es gab kein Zurück, jedenfalls nicht mehr zu vernünftig-friedlicher Kooperation. Fein, dachte der Hauptkommissar, dann also herunter mit den Handschuhen. Und jeder hier konnte bezeugen, dass er nicht angefangen hatte.

Ob de Beer das ähnlich sah? Sein Blick jedenfalls zuckte zurück wie Finger von einer heißen Herdplatte, blitzartig und doch zu spät, und sein grauer Teint zeigte eine leichte rosa Beimischung. Vergeblich versuchte der Kriminalrat, in die Feldherrnrolle zurückzufinden; seine Befehlsgesten gerieten zu einem hilflosen Rudern der Hände, während ein plötzliches Stottern seinen ohnehin überflüssigen Kommandos jede Überzeugungskraft raubte. Einige Sekunden lang ertrug de Beer die ausdruckslosen Blicke seiner Untergebenen, dann brach er mit einem fahrigen »Na, Sie wissen dann ja Bescheid!« seine Versuche ab, wirbelte herum und stürmte dem Ausgang zu. Dabei musste er dicht an Stahnke vorbei, und es war sicherlich nicht einfach, den Hauptkommissar dabei keines weiteren Blickes zu würdigen, aber de Beer brachte das fertig. Stahnke glaubte seine Zähne knirschen zu hören, konnte jedoch nicht ganz ausschließen, dass das Wunschdenken war.

Die Hände tief in den Hosentaschen, tapste er zu Kramer hinüber, peinlich darauf bedacht, nichts zu berühren, was bereits markiert war oder auch nur eventuell als Spur in Frage kam. »Danke für die Nachricht«, murmelte er.

Kramer zuckte nur die Achseln. Wortlos reichte er dem Hauptkommissar ein Paar Latexhandschuhe.

Während Stahnke die widerspenstigen Dinger überstreifte, nahm er die ihn umgebende Szene in sich auf, wie er es vor Jahrzehnten gelernt hatte, lange vor der Erfindung dieser elektronischen Rundum-Kameras. Der Kellerboden sah aus, wie man es nach einer Überschwemmung erwarten konnte, übersät mit allerlei aus den Ecken gespülten, eingeweichten Gegenständen und kleinen Pfützen, die sich in den Löchern und Vertiefungen des unebenen, abgenutzten Bodens hielten, obwohl die Flächen bereits abgetrocknet waren. Was fehlte, waren Schlamm oder größere Mengen Erde und Sand; hier hatte sauberes Leitungswasser gestanden, keine Dreckbrühe aus dem Abwasserkanal oder der heruntergewirtschafteten Ems.

Ganz am Rand des Gewölbes und doch im Zentrum aller Aktivitäten stand die Kiste. Ein Sarg – das war Stahnkes erster Gedanke, aber immerhin wusste er auch bereits, was sich darin befand. Eine Leiche. Und Wasser. Dieses Wasser wurde gerade von zwei Beamten in gazeartigen weißen Overalls vorsichtig abgepumpt; offenbar sollte die Flüssigkeit noch gründlich untersucht werden. Sicherlich eine richtige Maßnahme, dachte Stahnke, auch wenn er bezweifelte, dass man etwas Signifikantes darin entdecken würde. Aber zweifeln hieß nicht wissen, und auf Wissen kam es an.

Der Körper war der eines alten Mannes, der wohl nicht sehr groß gewesen war, sofern man das von einem Liegenden überhaupt bestimmt sagen konnte. Der Tote trug weiße Unterwäsche, war weder dick noch dünn. Sein nasses, weißgraues Haar war halblang und noch sehr dicht, nur in der Stirn ein wenig gelichtet. Die Augenlider waren geöffnet, die Augen dunkelbraun. Die Nase war kräftig, der Mund breit, die Lippen waren schmal, das Kinn war rund, aber breit, weder fliehend noch vorstehend. Kein besonders auffälliges Signalement, musste Stahnke sich selber eingestehen.

»Hatte er etwas bei sich?«, fragte er Kramer, der wieder einmal neben ihm aufgetaucht war wie aus der Erde gewachsen. Stahnke wies auf den Boden: »Hier liegt ja allerhand rum, auch Kleidung.«

Kramer schüttelte den Kopf. »Eher unwahrscheinlich, dass etwas davon dem Toten gehört hat, die meisten Sachen müssen hier schon lange gelegen haben. Kommen auch von der Größe her nicht hin. Auf alle Fälle keine Spur von Papieren jeder Art, Ausweis, Führerschein, Geldkarten, nichts. Irgendwer hat ihn gründlich gefilzt.«

»Wurde er schon gedackelt?«

»Nein.« Ein Wie denn auch? schwang unhörbar mit. Klar, zunächst einmal musste die Leiche ja aus dem Wasser und der Kiste heraus, ehe man eine Daktyloskopie vornehmen konnte. Eine Maßnahme, deren Erfolg angesichts der aufgeweichten Haut und der verschrumpelten Fingerspitzen des Toten zudem recht zweifelhaft war. Bloß gut, dass de Beer nicht in Hörweite gewesen war! Aber wie auch immer, Fingerabdrücke würden nur dann etwas nützen, wenn der Tote bereits in der Kartei erfasst war.

»Glaubst du denn, dass er Akte hat?«, fragte der Hauptkommissar.

»Sieht nicht aus wie einer, der bei uns arbeiten lässt«, erwiderte Kramer.

»Wieso glaubst du das?«

»Nur so ein Gefühl.« Kramer wandte sich wieder ab; so bekam er nicht mit, dass Stahnke leise durch die Zähne pfiff. Sieh an, Kramer hat nicht nur ein Gefühl, er äußert es auch! So was gehört im Kalender angekreuzt, dachte Stahnke, und zwar rot.

Ein Fotograf mit konventionell aussehender, aber natürlich ebenfalls digitaler Kamera schoss eine Fotoserie, ehe der Körper aus der entleerten Kiste gehoben wurde, und der Hauptkommissar vergewisserte sich, dass auch Porträtaufnahmen darunter waren. Dann musterte er die Plastikriemen, mit denen der Tote an Händen und Füßen gefesselt war. Kabelbinder aus weißem Kunststoff, die lange Version, allem Anschein nach in handelsüblicher Ausführung. Konnten überall gekauft worden sein, aber immerhin, wieder ein Detail, an dem man ansetzen konnte und musste.

Das Innere der sargähnlichen Kiste sah verwittert aus. Zahlreiche tiefe Schrammen und Kerben deuteten auf intensive, vermutlich langjährige Nutzung hin. Nutzung als was? Die Wasserreste am zerfurchten Boden der Kiste schienen Spuren von Sand aufzuweisen, mit dunklen Beimischungen. Hatte der Sand an dem fast nackten Körper gehaftet, oder befand er sich schon länger in dem Behältnis? Stahnke riet auf Letzteres. Vielleicht war in dieser Kiste etwas gelagert worden, Kartoffeln etwa oder andere Vorräte, dabei sammelten sich leicht Sand und Erdkrümel an. Andererseits machten Kartoffeln keine Schrammen … Werkzeuge vielleicht? Oder Gartengeräte. Ja, das war es wohl. Damit wäre auch das sargartige Format der Kiste zu erklären.

Nicht aber das, was sich in den Ecken und Ritzen befand. Stahnke beugte sich weiter vor, die Hände auf dem Rücken, um nur ja keine Spuren zu gefährden. Alle Winkel und Stöße innerhalb der Kiste waren mit einer weißen Masse abgedichtet. Vermutlich Silikon, sauber aus einer Patrone in alle Ritzen gedrückt und glattgestrichen. Da hatte einer sorgfältige Vorbereitungen betrieben. Warum eigentlich? Und wie sorgfältig? Vielleicht hatte der Täter die Silikonwürste ja mit dem Finger geglättet.

Mit einer Kopfbewegung wies Stahnke einen der Techniker auf die Dichtungen hin. Die Antwort bestand aus einem müden Nicken und einem Rollen der Augen. Man sollte den Leuten eben nicht ihren eigenen Job erklären, dachte der Hauptkommissar. Es reichte, wenn de Beer das tat.

Die Leiche war inzwischen auf eine Plane gebettet worden, und Dr. Mergner hatte mit einer ersten, flüchtigen Inaugenscheinnahme begonnen. »Fitter alter Knabe«, meinte der Mediziner und zwinkerte hinter seinen flaschenbodendicken Brillengläsern. Seine eigenen Haare waren deutlich spärlicher und weißer als die des Toten, dafür sträubten sie sich in alle Richtungen. »An die achtzig Jahre, würde ich sagen, vielleicht älter. Kriegsgeneration. Da, eine Narbe an der Schulter. Dies hier am Unterarm könnte eine weitere sein. Und wer weiß, was da noch alles unter der Wäsche ist.«

»Diese Narben scheint er ja wohl auf jeden Fall überlebt zu haben, richtig?«, unterbrach Stahnke den Pathologen. »Mich würde vor allem die mutmaßliche Todesursache interessieren.«

Mergner rollte seine Augen exakt so wie zuvor der Kriminaltechniker. »Nun geht das wieder los! Stahnke, werden Sie nicht albern. Wurde dieser Corpus nicht eben erst aus einer wassergefüllten Kiste gezogen? Einer verschlossenen noch dazu, wie der Leichenfinder zu Protokoll gegeben hat? Da werden Sie ja wohl nicht erwarten, dass ich vorschnell diagnostiziere, der Mann sei ertrunken. Denn wenn das stimmt, wäre dafür kein Ruhm zu ernten. Falls das aber nicht stimmt, und dafür bleiben ja immerhin ein paar Prozent Restwahrscheinlichkeit, hätte ich mich mit einer vorschnellen Festlegung gründlichen blamiert. Sie verstehen?«

»Natürlich«, erwiderte Stahnke in beschwichtigendem Ton. »Zumal der ganze Keller ja völlig unter Wasser stand.«

Diesmal war Mergners Blick voller Verachtung, und der Doktor würdigte den Hauptkommissar keines weiteren Kommentars.

»Eine Kiste mit Wasser, ein gefesselter Mann«, murmelte Stahnke vor sich hin. »Woran erinnert mich das?«

»Waterboarding«, antwortete Kramer, der wieder einmal direkt neben Stahnkes rechtem Ellenbogen aus dem Boden gewachsen zu sein schien, ohne zu zögern. »Folter durch scheinbares Ertränken. Wird von den Amerikanern gerne angewandt. Gewöhnlich aber nicht hier bei uns.«

»Waterboarding?«, fragte Stahnke. »Geht das nicht anders?«

»Stimmt schon«, bestätigte Kramer. »Bei den Amis wird der Delinquent rücklings auf ein schräges Brett geschnallt, so dass der Kopf tiefer liegt als die Füße, dann wird ihm Wasser so übers Gesicht und in Mund und Nase geschüttet, dass das Opfer zu ertrinken glaubt. Was meistens nicht geschieht, aber die Möglichkeit reicht ja, um Panik auszulösen.« Der Oberkommissar zuckte die Achseln. »Anders, klar. Aber mit dieser Kiste ginge das auch. Siehst du das kleine Loch da im Deckel? Das wurde kürzlich erst hineingebohrt, die Ränder sind frisch. Der Durchmesser entspricht dem eines Gartenschlauchs. Stell dir mal vor: Delinquent da hinein, Deckel zu, Schlauch ins Loch, und dann Wasser marsch. Nicht zu schnell natürlich, damit das Opfer auch Zeit hat, vor Angst fast wahnsinnig zu werden.«

Stahnke bekam eine Gänsehaut. Er starrte Kramer mit großen Augen an. »Du bist ja richtig zu Spekulationen aufgelegt! Und dann auch noch zu so brutalen. Gab es gestern einen James Bond im Fernsehen?«

»Nein«, erwiderte Kramer ungerührt. »Aber eine Doku aus dem Irak.«

Stahnke nickte. Seine Gänsehaut blieb. »Was die Details angeht, sind solche Typen bestimmt nicht kleinlich«, sagte er betont forsch. »Andere Länder, andere Foltersitten, nicht wahr? Und wer foltert, nimmt immer auch billigend in Kauf, dass der Gefolterte Schaden nimmt oder stirbt. Was meinst du – war dies hier ein versehentlicher Tod? Irgendwer versuchte von diesem Mann eine Information zu erzwingen, und er ist ihm unter den Händen weggestorben? Sozusagen ein Betriebsunfall?«

»Nicht unbedingt. Vielleicht hat der Täter ja auch alles bekommen, was er wollte, und hatte keine Verwendung für einen lästigen Zeugen.«

»Ertränkt also, nicht ertrunken«, konstatierte Stahnke.

Kramer nickte.

Stahnke schaute auf das Gesicht des Toten, dessen Schädel gerade von Mergner befingert wurde. Sah der womöglich aus wie ein Iraker? Eher nicht – allerdings mochte die Blässe des Todes den Eindruck verfälschen. Wie auch immer, Kramers Agentenphantasien waren doch sehr weit hergeholt. Immerhin befanden sie sich hier in Leer, einer Kleinstadt im äußersten Nordwesten der Bundesrepublik, gleich hinterm Deich und vor der holländischen Grenze. In dieser Ecke tummelten sich gewiss keine gewalttätigen Islamisten und deren Gegenspieler, die Geheimdienste gewalttätiger Großmächte.

Oder?

»Aha.« Das war Mergner. Gegen seinen Willen hatte er sein Protestschweigen gebrochen. »Schwellungen am Hinterkopf! Unter dem beneidenswert dichten Haarschopf nicht zu sehen, sondern nur zu ertasten. Mehrere Schwellungen. Der Mann wurde also vermutlich bewusstlos geschlagen.«

»Während er in der Wasserkiste lag?«, fragte Stahnke. »Oder vorher?«

Mergner stemmte die Hände in die Hüften und wackelte mit dem Kopf. »Vorher, nachher, vielleicht auch zwischen zwei Anwendungen!«, keifte er mit verstellter Stimme. »Mann, Stahnke! Lernen Sie es denn nie?«

»Wer weiß?«, raunte der Hauptkommissar und wandte sich wieder Kramer zu. »Als Erstes müssen wir wissen, wer der Tote ist. Irgendwelche Anhaltspunkte?«

»Keine Papiere, wie gesagt«, resümierte Kramer. »Die beiden Handwerker, die den Mann gefunden haben, kennen ihn nicht. Hier gibt es keine Hausbewohner, die man fragen könnte; das Gebäude steht leer. Sowie wir die Fotos haben, klappern wir die Nachbarn ab, vielleicht hat ihn einer von denen schon mal gesehen. Parallel Abnahme und Abgleich der Fingerabdrücke. Wenn das alles nichts bringt, müssten wir an die Presse gehen.«

Stahnke nickte. Mehr fiel ihm dazu auch nicht ein; Kramer war wieder einmal perfekt. Man konnte ihn getrost in Eigenregie machen lassen. Der Hauptkommissar nickte versonnen, dann zuckte er plötzlich zusammen. De Beers Worte waren ihm wieder eingefallen. »Einen Stahnke kann hier wirklich keiner gebrauchen!« – Hatte der Mann damit womöglich recht?

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Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
Hacim:
452 s. 5 illüstrasyon
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9783839264720
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