Kitabı oku: «Kenia Leak»

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Über dieses Buch

Damit hat Jürg Mettler nicht gerechnet. Sein Freund Tetu, der pensionierte und erblinde­te Polizist aus Kenia, kommt zu Besuch. Er will in der Schweiz seine Augen operieren lassen. Ein Vorwand. Was will der Alte wirklich?

Nach zwei Wochen, als er wieder sehen kann, gesteht ihm Tetu endlich den wahren Grund: Ihm ist eine heisse CD zugespielt worden, auf der offenbar Belastendes über den Clan des kenianischen Finanzministers Kimele gespeichert ist. Tetu braucht die Hilfe seines Freundes. Aber warum lässt der Rentner nicht einfach die Finger davon? Schon einmal hatten sie beide gegen Kimele ermittelt und es nur knapp überlebt. ­Widerwillig lässt sich Mettler, der heute als Betreuer Asylsuchender arbeitet, darauf ein.

Als Erstes stossen sie auf Dokumente, die ausgerechnet Mettler ­in ein schiefes Licht rücken. Dieser behauptet, die Dateien seien gefälscht. Aber woher hat Mettler das Geld, mit dem er sich das Haus auf dem ­Iselisberg gekauft hat? Tetus Misstrauen dem ehemaligen Freund gegenüber wächst mit jedem Erklärungsversuch Mettlers.

Auch mit der Technik sind die alten Herren überfordert, und so weiss Kimele schon bald, wo er seine Daten suchen muss …


Foto Anne Buergisser

Peter Höner, geboren 1947 in Eupen, ­aufgewachsen in Belgien und der Schweiz, Schauspielstudium in Hamburg und Schauspieler u. a. in Basel, Bremen und ­Berlin. Seit 1981 freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, 1986–1990 ­Afrikaaufenthalt. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern. Im Limmat Verlag sind sieben Romane lieferbar, darunter die vier ersten Kriminalromane mit Jürg Mettler.

Peter Höner

Kenia Leak

Kriminalroman

Limmat Verlag

Zürich

Die Handlung des Romans ist frei ­erfunden. Ähnlichkeiten ­mit lebenden oder verstorbenen Personen sind ­zufällig.

Ende März 2016
Prolog

Er hätte sich sein Gesicht gerne genauer angeschaut, aber es gab keinen Spiegel, nicht einmal ein Fenster. Die verkrustete Schicht aus Blut und Schmutz, ein höckeriger, verschorfter Belag auf Wangen und Stirne schmerzte nicht mehr, wenn er ihn berührte.

Die Wände waren bis zur Decke gekachelt, weisse Fliesen wie in einer Metzgerei. Einen halben Meter über dem Tisch baumelte eine Neonröhre. Die Ecken des Raums verschwanden in der Dunkelheit, und nachdem man die Türe hinter ihm verriegelt hatte, war er sich lange Zeit nicht sicher, ob er allein war oder ob sich jemand in einem Winkel verbarg und ihn ­beobachtete.

Etwas später, als er sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, entdeckte er mehrere Haken an der Wand, eine Eisenstange, die an Seilen von der Decke hing und einen aufgerollten Wasserschlauch. Es musste sich um einen ehemaligen Schlachtraum handeln, und wenn er die Luft einsog, glaubte er den Blutgeruch wahrzunehmen, der sich in den Fugen festgesetzt hatte.

Bevor sie ihn hierhergebracht hatten, hatten sie ihn gezwungen, die Kleider zu wechseln, hatten ihm frische Anstalts­kleider gegeben, die so makellos sauber waren, dass er einen Moment lang glaubte, er wäre vor Gericht geladen. Einer hatte ihm sogar ein Pflaster auf die Nase geklebt und ihm das Blut aus den Augen gewischt.

Kaum hier angekommen, wurden die Kabelbinder, mit denen er gefesselt war, durchgeschnitten, und jemand zog ihm das Tuch vom Kopf.

Zum ersten Mal seit Tagen konnte er sich frei bewegen.

Er marschierte vor den Wänden auf und ab, umkreiste den Tisch, prüfte den Fussboden und suchte in Ecken und unter der Decke nach versteckten Kameras. Er klopfte mit seinen Knöcheln die Kacheln ab. Er rüttelte an der Tür.

Er begann zu schwitzen, er zitterte, er klammerte sich an den Tisch. Er ahnte, wohin man ihn geholt hatte. Und wozu.

Die Angst vor dem, was auf ihn zuzukommen drohte, zwang ihn, sich auf den Stuhl zu setzen. Er liess den Ober­körper vornüber auf den Tisch fallen, sein Atem ging schwer und stossweise. Er hustete und spuckte Blut.

Er brauchte seine Medikamente. Heilen konnten sie ihn nicht, aber zumindest sorgten sie dafür, dass er beschwerdefrei atmen und damit leben konnte. Wenigstens noch ein paar Monate, vielleicht ein Jahr.

Die Zeit verstrich langsam. Sein Herz tat ihm weh, die Lungen schmerzten, bald fühlte er seinen Hintern nicht mehr. Die Beine. Wenn ihn ein Hustenanfall aufrüttelte, glaubte er, kurz eingeschlafen zu sein, irgendwie mit verdrehtem Kopf unter der Neonröhre.

Als er hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, wusste er längst nicht mehr, wie lange er schon hier war.

«Francis Ali Odongo. Ich hätte mir zu deiner Pensionierung weiss Gott eine schönere Begegnung vorgestellt.»

Er erkannte die Stimme sofort, diesen krächzenden, scharfen Tonfall, die gehässige Rechthaberei. Samuel Kimele, der Professor und ehemalige Finanzminister, Kopf des Kimele­clans. Der Mann, der so gern als Onkel Sam auftrat, als stamme er aus Amerika und nicht aus einem Nest in der Nähe von Kisumu.

Hinter Kimele bauten sich zwei Typen mit Baseballschlägern auf.

Er schnellte auf, wischte hastig mit dem Ärmel den blutigen Auswurf vom Tisch und nahm Haltung an. Fehlte nur, dass er die Hacken zusammenschlug. Im letzten Moment gelang es ihm, den blödsinnigen Impuls zu unterdrücken, und er streckte dem Minister die Hand entgegen.

Sie waren beide gleich alt, waren zusammen in die Schule gegangen, hatten dieselben Lehrer. Auch später noch, als sie beide Karriere machten, der Minister als Politiker, er als Beamter, grüssten sie sich, wenn sie einander begegneten, obwohl er Kimele immer verdächtigte, nicht zu wissen, wem er zunickte.

Kimele übersah seine Hand, die in die Dunkelheit ragte und für einen Moment im Raum stehen blieb.

Er setzte sich, legte die Hände auf den Tisch und wartete.

Der Minister begann, vor dem Tisch hin und her zu schreiten. Wenn er in den Schein der Neonröhre kam, blitzte ein Knopf seines Anzugs, Schultern und Kopf verschwanden im Dunkeln, nur manchmal, wenn der Mann stehen blieb und auf ihn herabschaute, glaubte er die matt glänzenden Spiegel seiner Brillengläser zu erkennen.

Er beruhigte sich.

Der Besuch des Ministers war eine Überraschung, und dessen Anwesenheit bewahrte ihn vor Schlimmerem. Zumindest für den Moment.

«Odongo. Vor mehr als dreissig Jahren hast du bei der Steuerbehörde angefangen. Als Kommissär. Subalterner Sachbear­bei­ter für Zollvergehen. Vor einem Monat bist du als einer der Direktoren der Finanzverwaltung in Pension gegangen. Du schaust auf ein reiches und erfülltes Leben zurück», eröffnete Kimele salbungsvoll, indem er vor dem Tisch stehen blieb und die Fingerspitzen seiner Hände aufeinanderlegte. Schlanke Finger, geschmeidige Fingerkuppen, die sich im Licht sanft berührten, als müssten sie ihre Empfindlichkeit überprüfen. «Jedermann wünschte dir noch ein paar glückliche Jahre. – Ich weiss, du bist krank, aber in guten Händen, alles spricht dafür, dass du dich erholen wirst.»

Kimele wanderte hinter dem Tisch hin und her, als wolle er ihm Gelegenheit geben, ein paar Worte zu seiner Krankheit zu sagen. Er schnaubte, dann blieb er erneut stehen, holte Luft und wurde lauter:

«Aber nein, dich sticht seit Jahren etwas ganz Anderes. Etwas, was nichts mit deinem Herzen zu tun hat. – Oder doch?»

Der Minister wartete auf einen Protest. Wahrscheinlich hatte er gehofft, sein blosses Erscheinen mache ihn gefügig.

Dann nahm er den Faden wieder auf.

«Glaubst du wirklich, wir hätten deine ‹Sammlung› nicht bemerkt? – Mich hat immer ein bisschen belustigt, was du dir alles aus den Akten kopiert hast. Deine Notizen! Die doppelt und dreifach verschlüsselten Rechenkünste eines begabten Buchhalters. Wertloses Zeug, das niemand ernst zu nehmen brauchte. Die Spielerei eines Kontrollfreaks. Harmlos. Zumal du die Daten niemandem gezeigt und an niemanden weitergegeben hast.»

Kimele seufzte, als würde er ihn bedauern und nahm seine Gänge wieder auf. Er verschwand in der Dunkelheit der Zelle, das Blitzen der Knöpfe verriet seine Kehrtwendungen.

«Nun gut. Ich liess dich gewähren. Die Marotte eines Spinners. Von wirklich entscheidenden Dingen hattest du keine Ahnung. – Doch dann, vor rund zwei Monaten beginnst du damit, eine Datenbank anzulegen. Als hättest du erst jetzt ­begriffen, wie umfassend und gewaltig elektronische Speichermedien sind. Und alles, was bis anhin mehr oder weniger offen auf deinem Schreibtisch herumlag, wird nun …», seine Stimme wurde schärfer, «verschlüsselt, katalogisiert, ergänzt, aufgefüllt, nachgeführt und … «, Kimele stand vor dem Tisch und zischte: «Verheimlicht! Aus einem Spiel, einer Marotte, wird Diebstahl. Ja, Verrat!»

Der Minister stützte sich auf dem Tisch auf und schob sein Gesicht ins Licht der Neonröhre, als wolle er sich unter ihr durchwinden, um auf ihn loszugehen. Er holte Luft und geiferte:

«Ich weiss nicht, was du dir von den Daten erwartest, aber indem du verheimlichst, was du zusammenklaust, leistest du Vorschub zu einem kriminellen Akt.»

Scheinbar ruhiger zog er sich wieder zurück, schnaufte schwer und bemühte sich um einen gemässigteren Ton:

«Du glaubst, mir zu schaden. Willst mich und meine Familie blossstellen. Wie kurzsichtig, mein Lieber, wie dumm. Deine Machenschaften schaden einzig und allein Kenia. Deinem Volk. Deiner Familie. Du verrätst dein Land. – Ist dir klar, was du da gemacht hast? Weisst du, wie so etwas genannt wird? Weisst du das?», und dann donnerte er: «Hochverrat! – Und darauf steht die Todesstrafe. Nicht nur in Krisenzeiten.»

Kimele versuchte, ihn einzuschüchtern. Doch er kannte die Gesetze nicht. Kein Wunder für einen wie ihn, der Korruption als Schmiermittel verstand und sich über Betrug und Steuerhinterziehungen freute wie ein kleiner Junge, dem es gelungen war, einem unvorsichtigen Nachbarn ein paar Eier zu klauen.

«An wen hast du die Daten verkauft?», drängte Kimele und versetzte der Lampe einen Stoss. «An die Amerikaner? An die Weltbank? – Noch wissen wir nicht, wem du die Daten zugespielt hast. Warum sie noch nicht veröffentlicht worden sind. Vielleicht weil deine Helfershelfer nicht so couragiert sind, wie du dir das erhofft hast? Vielleicht weil sie intelligenter sind als du? Oder weil sie festgestellt haben, wie haltlos deine Unterstellungen sind. – Ich kenne dich, Odongo, deine Selbstüberschätzung, deine Überheblichkeit. Einer wie du glaubt immer, alles richtig zu machen. Aber ich warne dich, du bist nichts, gar nichts! Ich brauche nur mit den Fingern zu schnippen und …», der Minister sog die Luft ein wie ein Ertrinkender. «Dich gibt es gar nicht. Einen Francis Ali Odongo hat es nie gegeben. – Ich bin deine letzte Chance. Du sagst mir jetzt, wo und wie ich zu den Daten komme, oder du teilst mir mit, an wen du sie weitergegeben hast», Kimele schob ein Smartphone über den Tisch, «Namen und Adressen. Hier und jetzt. – Die Aufnahme läuft.»

Odongo fixierte das Smartphone. Auf dem Display war eine Art Tape abgebildet, ein rotes Licht suggerierte ein offenes Mikrofon, und ein wanderndes Dreieck, dass eine Aufnahme gemacht wurde. Die Dinger konnten mittlerweile wirklich alles. Er drehte das kleine Gerät in seinen Händen, genoss trotz seiner prekären Lage die Geschmeidigkeit des Materials und fand schliesslich den digitalen Button, mit dem sich die Aufnahme beenden liess. Wortlos legte er das Utensil auf den Tisch zurück.

«Also gut, Odongo, wie viel willst du?», fragte der Minister und behielt seinen aufflammenden Zorn gerade noch unter Kontrolle.

Er schwieg. Kimele platzte der Kragen. Seine Stimme überschlug sich:

«Herrgott noch mal Odongo! Hast du den Verstand verloren? – Was macht dich so sicher, dass du hier wieder rauskommst? – Wenn einer schon so blöd ist, dass er sich erwischen lässt … Also! Wie viel?»

Wütend marschierte Kimele im Dunkeln vor der Wand hin und her. Laut schnaufend rang er seinen Atem nieder, bis es ihm, scheinbar wohlwollend, fast nachsichtig gelang, seine Frage zu wiederholen und ein Angebot zu präzisieren.

«Noch ist Zeit, Francis. Wir beide regeln das, wir beide. Zwei alte Schulkameraden. Von Mzee zu Mzee. – Du sagst mir, wie viel, und wir erhalten die Daten. – Eine Million? Zwei? – Verdammt, Odongo, jetzt mach endlich den Mund auf!»

Der Minister stand ihm erneut gegenüber, seine Oberschenkel vor der Tischkante. Die Hose. Im kalten Licht glänzte ein Fettfleck. Wie verletzlich seine Eier waren, seitlich weggerutscht hinter einem dünnen Stückchen Stoff.

Er schwieg, kämpfte gegen einen Hustenanfall, presste eine Hand vor den Mund, würgte den Schleim hinunter. Nur keine Schwäche zeigen. Nicht jetzt. Dass er wie ein Schuljunge vom Sitz gesprungen war, sollte ihm kein zweites Mal widerfahren, dieses Zeichen devoter Dienstbarkeit.

Er schwieg, starrte auf den Hosenbund, studierte das Fischgratmuster des Stoffs und wartete.

Mit einem Ruck wurden seine Arme zurückgerissen und seine Handgelenke an die Stuhlbeine gefesselt. Erschrocken wollte er aufstehen, wurde aber in den Stuhl gedrückt und mit einem Strick auf die Sitzfläche gebunden. Ein Wurm, der sich in einen Stuhl krümmte, nur Kopf und Füsse liessen sich noch bewegen.

Kimele schob das Smartphone über den Tisch. Das Aufnahmegerät war bereits wieder eingeschaltet.

«Francis Ali Odongo. Wie kommst du eigentlich zu deinem zweiten Namen? Hat deine Mutter mit einem Türken gevögelt? Vielleicht muss ich mal jemanden vorbeischicken, der ein paar Fragen stellt. – Du weisst, wer dir helfen kann.»

Hosenbund und Fischgratmuster verschwanden aus dem Schein der Neonröhre. Flüchtig hörte er, wie die Türe hinter ihm ins Schloss fiel.

Sein Kopf wurde nach hinten gebogen und eine Hand schob sich ihm übers Gesicht, umschloss seine Nase und drückte zu. Sein Kiefer klappte auf, ein Schlauch wurde ihm in den Mund gestossen und tiefer, und er spürte den kalten Wasserstrahl, der durch seine Kehle schoss.

Man liess ihn volllaufen, ersäufte ihn. Kurz bevor er erstickte, gab man seine Nase frei und riss ihm den Schlauch aus dem Rachen. Die Sitzfläche kippte nach vorn, er knallte mit der Stirne auf die Tischplatte, der Stuhl wurde zur Decke gezogen, er hing am Haken, Kopf und Füsse baumelten über dem Tisch.

Er erbrach Wasser und Blut, rang um Atem und spürte, wie ihm die Adern anschwollen.

Dann knallten die Baseballschläger auf die Fussknöchel. Er hörte das Knacken der Knochen.

Montag, 2. Mai 2016
Restzeit: 4 T — 9 Std — 27 Min

Der Schweizer Frühling war eine Enttäuschung. Die Begeisterung, ein geradezu rauschhaftes Entzücken, das mit einer Jahreszeit verbunden wurde, die er nicht kannte, erwies sich als ein launisches Hin und Her von heftigem Regen und wenig Sonne. Ein paar Stunden heizten das Land auf, das sich nach einem Gewitter in langen Dauerregen wieder abkühlte und in hinterhältig klaren Nächten erfror.

Seit vierzehn Tagen wohnte Robinson Njoroge Tetu zusammen mit seiner Enkelin Naomi im Haus seines Freundes Jürg Mettler und fror. Trotz Pullover, Strickjacke und dicken Socken.

Ob da draussen Schnee liege, wollte er von Mettler wissen. Er bezweifelte, dass alles um ihn herum grün war, wuchs und blühte. Trotz der saftigen Stängel, die ihm seine Enkelin in den Schoss legte, wehrte er sich dagegen zu glauben, was er nicht sah.

Einmal, er stand zusammen mit Mettler in dessen Hühnerstall – auch wenn es lange her sein musste, dass hier Hühner Eier legten, es roch nach Erde, faulem Holz und Benzin –, trommelte ein Regen aufs Blechdach. Ein Prasseln, das immer heftiger wurde. Das Wasser hatte sich in Eis verwandelt. Mettler legte ihm ein paar Hagelkörner in die Hand. Der Hagelschlag dauerte nur wenige Sekunden, trotzdem jammerte Mett­ler, sein Garten gleiche einer Eiswüste und seine Salate hätten sich in grünen Matsch verwandelt.

Der Hotelier, Hobbypilot und Detektiv als Salatgärtner? Eine merkwürdige Vorstellung, von der sich Tetu ebenso wenig ein Bild machen konnte wie von dem kalten Grün, das ihn angeblich lückenlos umgab.

Kurz danach wurden seine Augen operiert und nun, drei Tage später, durfte er den Verband entfernen und sollte nach über zwölf Jahren wieder sehen können.

Die Erblindung in den Gefängnissen von Kenia hatte ihn seiner Sehkraft beraubt, nicht aber seiner Bilder. Seine Vorstellung der Welt blieb lebendig. Alles, was er einatmete und hörte, stattete sein Kopf mit Licht und Schatten, Farben und Formen aus. Ein Handy zum Beispiel, diese glatte Dose, mit dem sich telefonieren liess. Von überall nach überall. Er kannte die flachen Plastiketuis. Seine Söhne standen damit hinter dem Haus oder in den Feldern und schwatzten zwischen Mais und Bohnen, als hätten sie den Verstand verloren. Auch ihm hatten sie so ein Ding ans Ohr gedrückt, und Naomi wollte ihn noch heute mit seiner Familie in Kenia verbinden, damit er dieser von seiner Heilung berichten könne.

Tetu und Mettler waren allein im Haus auf dem Iselisberg. Moody hatte Naomi zu einer Fahrradtour abgeholt, er wollte ihr die Badeseen zeigen, obwohl es für ein Bad noch viel zu kalt war.

Naomi wollte erst zu Hause bleiben, wollte dabei sein, wenn ihr Grossvater den Verband abnahm, aber Tetu verlangte, dass sie Moodys Angebot annahm. Auch wenn er manchmal fand, Mettlers Enkel kümmere sich etwas allzu eifrig um seine Enkelin, für einmal war er froh darüber.

Naomi hätte ihm alles aufgezählt, wahllos, was ihr gerade aufgefallen wäre. Und genau dies wollte er verhindern. Er wollte selbst erleben, was es zu sehen gab.

Mettler warnte vor dem Sonnenlicht.

«Nach dem Regen ist es geradezu aussergewöhnlich klar heute.» Gleichzeitig versprach er, ihn an einen angenehmen Ort zu entführen. «In den Schatten meines Nussbaums.»

Tetu schmunzelte.

Mettler sprach auffällig oft von seinen Dingen. Von seinem Haus, seinem Wagen, seinen Werkzeugen … Nicht, dass es ihn störte, aber im Zusammenhang mit einem Garten, Salaten oder einem Hund fand er diese Besitzansprüche zumindest merkwürdig.

Gemeinsam mit Mettlers Hund, seinem Busoni, stolperten sie über eine glitschige Wiese hangabwärts zu einem Sitzplatz mit Bank und Tisch.

Im Schatten des Nussbaums war es trotz Sonne ziemlich kühl, und Tetu verkroch sich in die Strickjacke, die ihm Mettler geliehen hatte und von der er sich kaum noch trennen konnte. Er presste die Oberarme an den Körper und hätte sich für einen ersten Blick einen wärmeren Platz gewünscht. Hoffentlich beseitigte das Ende der Dunkelheit auch sein dauerndes Frösteln.

Sie sassen auf der Bank und schwiegen. Tetu verfolgte Mettlers regelmässigen Atem, hörte die leisen Geräusche der Blätter des Baumes. Mücken summten. Manchmal schoss brummend eine Fliege aus dem Nichts, kurvte um den Tisch und war wieder weg. Im Tal war ab und zu ein Auto zu hören, es roch nach einer saftigen Wiese, nach Kräutern, nach Blumen und dem bitteren Saft des Nussbaums, nach Feuchtigkeit, die in der Sonne verdampfte.

Dann spürte er Mettlers Hand auf dem Rücken.

«Ich knüpfe dir jetzt die Binde auf. Das Ablösen der Pflaster überlasse ich dir. – Bist du bereit?»

Tetu nickte und Mettler nestelte hinter seinem Kopf an ­Fäden und Klammern. Der Druck um Stirn und Schläfen liess nach, die Binde erschlaffte, und Mettler zog ihm das Tuch über die Ohren und aus der Stirn.

Den frischen Wind empfand er als angenehm. Dass der Verband ihn nicht mehr einengte. Die Pflaster spürte er nicht. Seine Augen blieben geschlossen, er sass am Tisch, stützte den Kopf in die Hände und wartete. Er löste die Pflaster. Er war­tete, weil er sich nicht getraute, die Augenlider anzuheben. Er wartete, weil er sich vor dem Licht fürchtete, der Helligkeit, die genauso gut eine Blendung bedeuten konnte. Er wartete, weil er wusste, dass mit dem Schauen ein neues Leben anfing, ein Leben, von dem er nicht sicher war, ob er es überhaupt noch einmal wollte.

Doch dann, vorsichtig und mit einer Anstrengung, als müsste ein festverklebtes Gewebe mit Kraft durchtrennt werden, wagte er einen ersten Blick.

Nach einem blitzartigen Lichteinfall sah er, stark verschwommen, aber ohne Zweifel, über die Rundung seines Bauchs in die Tiefe. Sah auf Mettlers Hund, auf das struppige Fell eines ausgestreckten Hinterlaufs. Ein Moment totaler Entspannung, und in jäher Aufwallung kaum gekannten Überschwangs presste er die Augen zusammen, um sie kurz darauf erneut zu öffnen und auf das Bild zu schauen, den schlafenden Hund zwischen seinen Schenkeln, die Pfote, das Bein, dar­unter die Kalkadern der dunklen Steinplatte.

So etwas Schönes wie das Fell Busonis glaubte er noch nie gesehen zu haben. Die feinen, gelbbraunen, auch grauen Härchen entlang der Biegung des Beines und wie sie dann immer dichter und länger wurden und sich auf dem Rücken zu einem struppigen, festen Pelz verbanden, erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl, das ihn in seine Kindheit versetzte.

Sein ganzes Erwachsenenleben kannte keine solche Freude.

Er schloss die Augen, richtete sich auf und lehnte sich gegen die Rückenlehne der Bank. Das also bedeutete Sehen! Er hatte es bei allen Bildern doch vergessen.

Es dauerte eine Weile, bis Tetu ein weiteres Mal die Augen öffnete. Die Freude am Sehen auszuhalten, war gar nicht so einfach.

Tetu griff nach der Hand Mettlers, der neben ihm sass und sein Erwachen schweigend begleitete, und er wünschte, er könnte den Freund teilhaben lassen an seiner Begeisterung.

Obwohl sie einander gemeinhin nicht berührten, überliess ihm Mettler seine Hand, zumindest für ein paar lange, sehr lange Augenblicke, die er wohl brauchte, um die neue Welt zu erfassen und mit seiner alten zu verbinden.

Tetu schaute ins Grün des Blätterdachs, in die Wiese, durch die Reihen der Rebstöcke auf die Ufer der Thur, über die grünen Karrees der Felder, die sich scheinbar in Wäldern verloren. Über Hügelzüge und Bergkämme in einen Alpenkranz, der noch schneebedeckt war und hinter dem die Welt zu Ende ging, zumindest die sichtbare, wenn er von den Wolken absah, die vielleicht endlich regenleer und leicht durch den Himmel über ihn hinweg in die Ferne segelten.

Das Schauen forderte Zeit und jeder Augenblick löste ein immer grösseres Staunen aus. Die grünen Hügel Afrikas liessen sich mit dieser Vielfalt auf engstem Raum nicht vergleichen, die neuen Bilder verbanden sich nicht mit den alten und sie reihten sich nicht erfahrungsgemäss aneinander, Wunder stand neben Wunder, als müssten sie das Laufen noch lernen. Und hatten bei aller Weite etwas Kleinräumiges, Putziges.

Tetu hatte keine Ahnung, wie er seine Eindrücke einordnen sollte.

Bis er die Kamele entdeckte.

Drei Kamele trotteten auf der Böschung des Flusses an einem Uferwald entlang. Eines nach dem andern schaukelte durch das grüne Meer, und nicht nur das Grün, nein, auch der Flusskanal, die Böschung, der gerade Weg, die kleinen Bäumchen, die ihre Zweige in den Wind bogen, als wären es Röcke, die sie silbern schimmernd im Wind tanzen liessen, jagten ihm einen solchen Widerwillen ein, dass er entsetzt die Hand vor die Augen schlug. Diese Operation bescherte ihm eine noch viel grössere Blind­heit, als es der langsame Verlust seines Augenlichts je war.

«Hast du Schmerzen?», wollte Mettler wissen. «Wird es zu viel?»

«Nein.»

Tetu beugte sich nach vorn, stützte sich mit beiden Händen auf der Bank ab, schaukelte leicht und schaute mit geschlos­senen Augen zu Boden. Er brauchte Zeit. Zeit, um Mettlers Frage zu verdrängen. Diese unverhohlene Neugier. Er hatte sie vergessen. Seit jeher hatten ihn die direkten Fragen des Weissen gestört. Da war ihm eine Hand lieber als diese Schamlosigkeit, an die er sich erst wieder gewöhnen musste.

Schliesslich sagte er leise und es klang wie ein Geständnis:

«Ich glaube, mit meinem Kopf ist etwas nicht in Ordnung.»

Mettler schwieg, und Tetu war froh darüber.

Der Hund stand auf und riss den Tisch mit sich, er drehte sich umständlich und zwängte, so nahm Tetu an, seine Schnauze zwischen Mettlers Knie. Tetu hätte sich gern mit einem Blick versichert, was ihm seine Ohren vermittelten, getraute sich aber nicht. Die Angst vor weiteren Kamelen war zu gross.

«Ich sehe verrückte Dinge, mein Kopf fantasiert und verfälscht, was meine Augen sagen. – Du und Moody, ihr habt mich liebevoll und ausführlich auf diese neue Welt vorbereitet, das viele Grün, und Naomi hat mir bestätigt, was ihr geschildert habt. Jetzt habe ich gesehen, dass ihr recht hattet. – Aber dann marschieren drei Kamele durch meine Bilder, Tiere, die es hier nicht gibt.»

«Deine Augen täuschen dich nicht», hörte er Mettler sagen, als spräche er zu einem Kranken. «Die drei Kamele im Grünen sind, was du siehst. Ein Weinbauer im Tal hält sich diese exotischen Tiere als Attraktion, er bietet seinen Kunden Kamelausflüge an, ‹im Kamelsattel durch die Weinberge›, ein findiger Geschäftsmann. Ob sein Angebot wirklich genutzt wird, weiss ich nicht. Aber was du siehst, stimmt. Drei Kamele schreiten das Flussufer entlang, auf grünen Matten, unter grünen Bäumen. – Du musst lernen, deinen Augen zu vertrauen.»

Tetu blinzelte ins Tal. Die Kamele waren ein gutes Stück vorangekommen. Und jetzt erkannte er auch einzelne Gestalten, die bei ihnen waren. Menschen in bunten Kleidern.

Er drehte sich nach Mettler um.

«Danke», sagte er und versuchte zu lächeln.

Mettler rutschte ans andere Ende der Bank. Er tat, als ob er mehr Platz für seine Beine brauche. Er ging auf Distanz. Tetu konnte sich auf sein Gespür verlassen. Besser als auf seine Augen.

«Nun, mein lieber Robinson Njoroge», eröffnete Mettler seine Befragung, wahrscheinlich mit einem Schmunzeln. «So langsam möchte ich doch wissen, warum du in die Schweiz gekommen bist? Jetzt, nach so langer Zeit? – Hat es etwas mit deiner Enkelin zu tun?»

Tetu war auf die Fragen vorbereitet. Mettler hatte bereits mehrmals versucht, ihm auf den Zahn zu fühlen, aber bislang konnte er Mettlers Neugier mit dem Hinweis auf seine Ope­ration in die Schranken weisen. Er brauchte Zeit, jetzt war sie reif. Trotzdem war er froh, als er hörte, wie Mettler seine Pfeife auf dem Tisch ausklopfte und in seiner Hosentasche nach dem Tabakbeutel kramte. Mettler richtete sich als Zuhörer ein, und Tetu bereitete sich auf eine Rede vor, von der er nicht wusste, wie sie aufgenommen würde.

Er legte den Kopf in den Nacken, verschloss sich mit dem Zeigefinger den Mund und schwieg.

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