Kitabı oku: «Fritz und Alfred Rotter»
„Was verlangt man denn schon vom Geschick?
Bisschen Liebe, bisschen Glück!
Bisschen Rausch und Vergessen, bisschen Gefühl,
lieber Gott, sag doch selbst, ist das denn so viel?
Wir brauchen so wenig zum Glück!
Bisschen Wein und ein bisschen Musik!
Und ein Herz, dem ein und alles man ist,
bis man sich und die Welt ringsum vergisst.“
Aus der Operette Mit dir allein auf einer einsamen Insel von Ralph Benatzky, ab Mai 1930 am Metropol-Theater
Berlin-Mitte, Friedrichstraße, um 1926
Peter Kamber
FRITZ und ALFRED
ROTTER
Ein Leben zwischen
Theaterglanz
und Tod im Exil
INHALT
VORSPIEL
Herzhaft weinen
„Morgen geht’s uns gut!“
Die Rotterbühnen
Hoffen auf Fritzi Massary
AKT I
„Schaie & Simonson, Herren- und Knaben-Konfektion“
Zerfetzte Reclamhefte unter der Schulbank
Der gute Ruf
Der misslungene Versuch, das Theater statt das Deutsche Reich zu retten
Beobachtung des Geisteszustands
„Der Lebensschüler“
Zeiten der Ruhe, Zeiten des Sturms
AKT II
Verlorene Jahre – und die verweigerte Theaterkonzession
Novemberrevolution 1918 und ihr Ende: Ein ganz persönlicher Kampf mit der Theaterpolizei
Salonkomödien – das Spiel geht weiter
„Sich amüsieren“ – Theater wie im Kino
Die beiden Bindelbands
Frivoles Berlin: Die Rotters als „Publikumsbarometer“
Im Spiel bleiben – Kultur der Hyperinflation
„Filigran aus Luft, Lust, Lächeln“
„Reklame macht nicht den Erfolg“
Der Vorwurf: „Nackte Spekulation auf den Sexus“
Die „gefährlichsten Menschen“ in der „lustigsten Stadt der Welt“
AKT III
Bälle, Mode und Film – Berlin 1925
Das andere Leben von Fritz Rotter
Ein Skandal, eine Ohrfeige und ein mysteriöser Tod
Verhängnis Börse
Richard Tauber und Käthe Dorsch: „O Mädchen, mein Mädchen“
„Land des Lächelns“ 1929
Operette und Große Depression: Das „wahre Zeittheater“
Rhythmus und Glücksrausch der Liebe: Ralph Benatzky und Paul Abraham
Der Bruch mit Lehár
Rückschläge
Ku’damm-Krawall 1931 – und ein Entschluss
Weihnachten 1931
Bitteres Ende eines Mäzens
Die Erschütterungen des Sommers 1932
Triumphe und böse Überraschungen
Einfach weitermachen
„Ball im Savoy“ und die Aussicht auf „kolossale Gelder“
AKT IV
Tumult um „Hitlers Bart“
In der Silvesternacht über den Tisch gezogen
Keine Schonung
Zeit gewinnen
Die letzte Chance – oder: „Sein oder Nichtsein des größten Theater-Konzerns“
Eine Pressekonferenz und ihre Folgen
Die Motive von Richard Bars
Endspiel
Nichts geht mehr
Abschied von Berlin: Fritz Rotters überstürzte Abreise
Wetterwechsel
AKT V
Warum die Operette den Untergang der Weimarer Republik nicht verhindern kann
„Nicht um zu hassen, um zu lieben, bin ich da“
Der Plan „dreier Wirrköpfe“
Die Bedeutung der Zahlen
Propaganda
„Hiebe prasseln“ – der Boykott vom 1. April 1933
Die Vorbereitung des Anschlags
Das Drama vom 5. April 1933
Trauerfeier und Flucht Fritz Rotters nach Paris
Der Prozess gegen die liechtensteinischen Täter
Der Prozess gegen die deutschen Täter
„Mich massakrieren lassen“ – der Tod von Fritz Rotter
NACHSPIEL
ANHANG
Danksagung
Editorische Notiz
Quellen
Anmerkungen
Register
Bildnachweis
Zuschauerraum des Metropol-Theaters in Berlin, ca. 1936
VORSPIEL
HERZHAFT WEINEN
Wer im Garten lauscht, hört als Klavierklangwolke, was Monate später auf den Operettenbühnen der Brüder Rotter Beifallsstürme entfesselt und selbst in Amerika wahrgenommen wird. Die gemietete Villa an der Kunz-Buntschuh-Straße 16–18 („die eisernen Tore“ sind „mit vergoldetem R geziert“)1 in Grunewald halten Kritiker wie der Berliner Journalist Stefan Großmann für „pompös“2 – sie ist für Fritz und Alfred Rotter Mittelpunkt des Lebens. Auch wenn sie mit den Zahlungen im Rückstand sind: Die rauschenden Premierenfeiern hier müssen weitergehen. Es geht „bis mittags gewöhnlich leise zu“, denn „ein Theaterdirektor kann erst um 2 Uhr anfangen“, zitiert Alfred Rotter sein Vorbild und ersten Förderer, den Regisseur Otto Brahm3. „Von zwei Uhr an war dieses vielräumige Haus in allen Zimmern besetzt und mit Geschäften und Mahlzeiten, Projekten und Konferenzen, mit Musik und Debatten angefüllt.“4
In der Villa erklingt auch zum ersten Mal ein langsamer Tangorhythmus.
Irgendwie, irgendwo, irgendwann, trat auch an mich der Augenblick heran, wo ich die Freiheit des Herzens verspielt und wo beklommen ich gefühlt: Ich bin verliebt … irgendwo, irgendwann, irgendwie, fliegt durch die Luft ein Fünkchen Sympathie, sucht ein fremdes Herz, wo es zündelt und brennt, bis man, schon halb verbrannt, erkennt: Ich bin verliebt …
Der Ohrwurm Ich bin verliebt stammt aus der Operette Mit dir allein auf einer einsamen Insel des Komponisten Ralph Benatzky. Im Dezember 1929 haben die Brüder Rotter die Aufführung in Dresden am Residenz-Theater getestet, ehe sie sie nach Berlin in ihr Metropol-Theater bringen – in jenes Haus, das nach dem Krieg als Komische Oper wiedererstehen wird.
Als Stefan Großmann, der die Rotter-Villa von innen und außen kennt, seine oben zitierte Rückschau im Januar 1933 veröffentlicht, trennen Berlin nur noch zwei Tage vom Beginn der Diktatur. Zu diesem Zeitpunkt sind die Rotters seit gut zwei Wochen insolvent und bereits außer Landes, aber scheinbar noch nicht am Ende ihrer Karriere: „Die Brüder Rotter stellen einen Typus dar, auf den Berlin nicht leicht verzichten kann, sie sind die letzten Theaterunternehmer“5, so Großmann. „Jeder, der seit fünf Jahren in Berlin als freier Unternehmer Theater betreiben wollte, ist mehr oder weniger schnell zusammengebrochen“, währenddessen „blieben die Rotters quicklebendig, sie hatten Schulden, aber immer wieder kam ein ungewöhnlicher Publikumserfolg, der sie rettete“.6
Die Erfolgsoperetten der untergehenden Weimarer Republik sind melancholisch, geheimnisvoll, wehmütig und fröhlich zugleich, berückend im Glücksversprechen, furios euphorisch und frivol, schmerzhaft sehnsuchtsvoll, mit schmachtenden Schlagern. O Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich! Wie leuchtet dein Auge, wie liebst du mich!, stimmt Richard Tauber 1928 in Franz Lehárs Goethe-Singspiel Friederike7 an. Der Tenor ist jahrelang der größte Star der Rotterbühnen, und diese Lehár-Operette, unter der „Direktion“ von Fritz und Alfred Rotter, bricht alle Rekorde: „Und so ist denn das Wunder zustandegekommen: in diesem Haus, in dem sich das getrüffeltste Publikum von Berlin […] zu versammeln pflegte, wird in die Taschentücher geschluchzt …“8
Auch der New York Times fällt die spezielle Wehmut der Rotter-Produktionen auf: Die Zeitung zitiert Alfred Rotter, den älteren der beiden Brüder, mit den Worten, das Publikum komme in eine Operette, um herzhaft zu weinen.9
Und doch: Am 25. Dezember 1931 wechseln die Brüder mit Morgen geht’s uns gut! von Ralph Benatzky das Genre zur jazzbetonten Musical-Komödie, als ob die Weltwirtschaftskrise schon fast vorüber wäre und ihnen das Wasser nicht selbst bis zum Hals stünde. Sie spüren, dass das Publikum nach Neuem verlangt, und sind sich sicher, auf der richtigen Fährte zu sein. Im Schlussgesang heißt es:
Ja, morgen geht’s uns gut, ich weiß das, morgen geht’s uns gut, was heißt das, noch ein bisschen Mut, und auf einmal blitzt auf ein Sonnenstrahl! Wie schwer’s jetzt auch ist, ich bin und bleib’ Optimist, und rufe: Morgen geht’s uns gut, das Glück, es ist uns nah! Hurrah! Hurrah!
„MORGEN GEHT’S UNS GUT!“
Ein halbes Jahr nach der Premiere von Morgen geht’s uns gut!, im Sommer 1932, sind Fritz und sein Bruder Alfred vierundvierzig und sechsundvierzig Jahre alt. Sie beide und, wie anzunehmen ist, auch eine Anzahl ihrer Angestellten folgen einem Gerichtsvollzieher namens Schablin, der das Verzeichnis der gepfändeten Gegenstände diktiert. Schauplatz ist immer noch die Villa in Berlin-Grunewald. Der Blick durch die Fenster auf das Grün kann in Anwesenheit des Pfändungsbeamten nicht beruhigen.
Das 8 Uhr-Blatt in Nürnberg, dem Fritz Rotter im folgenden Jahr im liechtensteinischen Exil das längste Interview seines Lebens geben wird, bezeichnet ihn, den Jüngeren, als „Pfiffikus, wie er im Buche steht“, als „eigentliche Triebfeder der Rotter’schen Unternehmungen“.10 Er ist der stillere, aber wenn er redet, der gewandtere der Brüder.
Alfred hingegen, einen Kopf größer, stets auf etwas unsichere Weise um Dominanz bemüht, gilt als heftiger. Vielleicht geht also der ältere Bruder neben Schablin her und macht lautstark Einwände geltend. In einem Brief betont er nur wenige Wochen später: „Wir haben die größte Mühe, trotz der großen äußeren Erfolge die täglichen Betriebskosten einschließlich der für die Premiere gemachten Vorspesen zu decken. Es ist ja auch ganz selbstverständlich, dass heute selbst ein erfolgreich arbeitendes Unternehmen nicht noch Rücklagen machen kann, denn dann hätten wir ja keine Wirtschaftsmisere.“11
Sie lassen das Speisezimmer hinter sich – den großen runden Tisch, um den herum vierundzwanzig Personen Platz finden, aber lediglich achtzehn Sessel mit Arm- und Rückenlehne verteilt sind. An der Unterseite tragen diese bereits den Pfändungs-„Kuckuck“, wie es in Berlin heißt. Auch die drei Ölbilder – zwei mit goldenem, eines mit schwarzem Rahmen, so der Beamte lapidar – sind auf diese Weise markiert, ebenso der über sieben Meter lange Orientteppich und der Wandgobelin, letzterer drei mal fünf Meter groß.
Viel Platz ist in der seit der Inflationszeit angemieteten Villa mit sechzehn Zimmern, die dem Kunstmaler Richard Mette und seiner Frau gehört und am westlichen Ende des Kurfürstendamms unweit des Halensees liegt. Fritz und Alfred Rotter müssen sich unter den Augen des Gerichtsvollziehers nicht eigens verständigen. Niemals wird von Außenstehenden auch nur ein Anzeichen einer Uneinigkeit zwischen ihnen wahrgenommen, so verschieden sie als Charaktere sein mögen. Alfred inszeniert an den Rotterbühnen und vertritt sie nach außen, die Verhandlungen führt meist Fritz. Beide wissen, es wird diesmal eng.
Der Gerichtsvollzieher schätzt auch in der Diele die breiten Teppiche, den 24-flammigen Kronleuchter, die elf Ölgemälde und die Gruppe mit Ledersofa, sechs Armlehnsesseln und rundem Tisch – und gibt einen lächerlich geringen Preis an. Während Fritz sich vermutlich zurückhält, wird Alfred, womöglich auch persönlich gekränkt, weiter auf den Mann einreden. Der wird ihm antworten, dass bei Zwangsversteigerungen – sollte es dazu kommen – nur wenig reinzuholen ist. Wer macht schon nicht Konkurs dieser Tage? Alfred Rotter mag erwidern, dass sie mehrere Theaterhäuser bespielen, hunderten von Menschen auf und hinter der Bühne Arbeit verschaffen. Doch ein Gerichtsvollzieher ist Menschen im Ausnahmezustand gewöhnt und wird sich weder einfühlend noch abweisend verhalten. Möglicherweise sagt er: Ich bin hierherbestellt worden, der Rest ist Sache der Klagenden, die ihre Ansprüche verteidigen. Zwei Leuchter zu sieben Flammen auf dem Kamin: 60 Reichsmark.12
Die Villa in der Kunz-Buntschuh-Straße 16–18 in Berlin-Grunewald (einzig erhaltene Fotografie von 1933)
Sicher macht sich auch Alfreds Frau, Gertrud Rotter-Leers, bemerkbar. Sie stammt aus Hannover, ist am 25. Dezember 1894 geboren13 und hat vermutlich selbst einmal auf Theaterbühnen gestanden – von ihrem verschollenen Tagebuch sind nur zwei Eintragungen überliefert. Trude, wie alle sie nennen, ist nicht nur öfter bei den Proben dabei, sondern auch in die Finanzverwaltung eingebunden – täglich rechnet sie mit den Kassiererinnen an den Theatern ab. Sie habe sich „zuerst in Fritz verliebt“, dann aber Alfred geheiratet,14 noch im Krieg, am 10. Juli 1917.
Die siebenunddreißigjährige Trude also fängt vielleicht einen verzweifelten Blick ihrer Zofe Klara Walter auf, weil auch ihre Worte den Gerichtsvollzieher nicht umstimmen können. Die andere Hausbedienstete, Marta Juraschewski, wird sich im Hintergrund halten, genauso wie Fritz Rotters Friseur und Diener August Wittmoser, genannt Archibald, der von sich sagt, er sei „als Faktotum“ für alles Mögliche angestellt. Archibalds besonderes Merkmal, nämlich dass er nicht größer als ein Meter vierzig und „bucklig“ ist, kümmert hier niemanden. Die bei der Tageskasse anfallenden Münzbeträge und kleinen Scheine bringt er jeweils zur Bank und kehrt mit großen Scheinen zurück.
Nicht gefehlt haben dürfte auch der Oberbuchhalter der Rotterbühnen, Conrad Wolff, der mehr weiß, als er sagen kann oder darf. Seine Räume hat er im obersten Stockwerk der Villa, sämtliche Geschäftsbücher der einzelnen Gesellschaften werden dort geführt und aufbewahrt. Es ist nicht seine Schuld, dass sich die Bücher in einem „haarsträubenden Zustand“15 befinden.
Sie schreiten ins sogenannte Herrenzimmer. Neun Ölbilder. Gleiche Geschichte. Eine Bibliothek, Eiche geschnitzt: 200 Reichsmark. Als Nächstes das Musikzimmer: Der Flügel von der Firma Grotrian-Steinweg ist zum Glück nur gemietet, seit Dezember 1929. Der Buchhalter wird den Vertrag zur Hand haben, 35 Reichsmark monatlich. Fünf Bilder. Alles wird taxiert und mit den blaugefärbten Reichsadlern als Pfandsache markiert. Zum Schluss geht es in den Salon: acht Bilder für 1340 Reichsmark. – Es ist einfach nur zum Weinen.
Alfred Rotter verweigert die Unterschrift. Schablin, der Gerichtsvollzieher, wird dessen Bruder Fritz Rotter gar nicht erst auffordern und erklärt den Vorgang trotzdem für „geschlossen“: 31 290 Reichsmark, in Gänze. Bis zur Versteigerung bleibe genügend Zeit.
Fritz Rotter
Alfred Rotter
Gertrud Rotter
DIE ROTTERBÜHNEN
Von den beiden Brüdern bespielt werden im Frühjahr 1932 folgende Bühnen: Metropol-Theater, Theater des Westens, Lessing-Theater, Admiralspalast, Lustspielhaus, Zentraltheater Berlin, Zentraltheater Dresden, Albertheater Dresden, Mellini-Theater Hannover.16 1931 haben sie in Breslau für kurze Zeit auch das Stadttheater gemietet.
Doch man muss ein Theater wie etwa das Metropol nicht besitzen, um darin zu spielen. Mitten in der Wirtschaftskrise ist es nicht schwer, Pachtverträge zu bekommen. Und nach den großen Theaterpleiten 1930 und 1931 geht kaum noch jemand dieses Risiko ein – viele Bühnen stehen leer.
Mit Grundstück und Gebäude gehören ihnen das Lessing-Theater auf dem Boden des heutigen Ministeriums für Bildung und Forschung am Kapelle-Ufer in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs, zweitens das öfter mal leerstehende Lustspielhaus am unteren Ende der Friedrichstraße sowie drittens das Zentraltheater an der Alten Jakobstraße in Berlin, beide in Kreuzberg. Jede einzelne Liegenschaft ist mit Hypotheken schwer belastet.
Für Dramen und Komödien nehmen die Rotters noch das Deutsche Künstlertheater und das Theater in der Stresemannstraße (heutiges Hebbel am Ufer) hinzu.
Seit 1931 bespielen sie von Fall zu Fall auch das Theater im Admiralspalast schräg gegenüber des Bahnhofs Friedrichstraße und teilen sich mit dem Verpächter die Kasseneinnahmen – das Risiko tragen die Brüder Rotter selbst.
In Dauerpacht halten sie hingegen seit Frühjahr 1931 die Plaza, das Varieté-Theater in der alten umgebauten Halle des verlegten Ostbahnhofs in Friedrichshain mit 3000 Plätzen, wo im vierzehntägigen Wechsel „Billigversionen jener im Westen der Stadt erfolgreich inszenierten Rotter-Operetten“ gezeigt werden.17
Eine Anekdote über die Rotters in der Plaza erzählt der Direktor des Theaters am Schiffbauerdamm, Ernst Josef Aufricht, in seinen Erinnerungen18: Als er selbst nach dem großen künstlerischen Erfolg des Revolutionsstücks von Ernst Toller über den Matrosenaufstand in Kiel 1918, Feuer aus den Kesseln (31.8.1930), zu seiner Enttäuschung am Schiffbauerdamm auf den Eintrittskarten sitzenbleibt, genauso wie schon mit Bertolt Brechts Happy End (2.9.1929) – bezahlt gemacht hat sich nur die Dreigroschenoper (31.8.1928) –, verschickt er „tausende von Freikarten an Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen, um das Theater wenigstens einen Monat zu füllen“. Aber die Leute sind nicht in das Toller-Stück zu bringen. Aufricht:
„Die Freikarten wurden nicht angenommen. ‚Wollen Sie wissen, was die Arbeiter und die Arbeitslosen sich ansehen?‘, fragte mich jemand. ‚Gehen Sie in die Plaza!‘ Eine als Theater umgebaute ehemalige Bahnhofshalle war am Nachmittag ausverkauft. Man spielte drei Vorstellungen am Tag. Ein billiger Platz kostete 30 Pfennig. Die Brüder Rotter brachten ihre abgespielten Operetten in die Plaza und hatten im Vertrag mit der Direktion des Hauses, nur drittrangige Kräfte zu engagieren, um das Publikum nicht zu verwöhnen und anspruchslos zu halten. Als der Graf von Luxemburg [Operette von Franz Lehár] sich seine Zigarette mit einem Hundertmarkschein anzündete, vergaßen die Zuschauer ihre graue Misere und applaudierten begeistert.“
Hubert Marischka und Adele Sandrock in Der Graf von Luxemburg, 1928
Im Mai 1932 schon haben die Rotters kurz geglaubt, alle ihre Theater schließen zu müssen. Die nationalsozialistische Zeitung Der Angriff höhnt: „[…] aber es wird sicher allgemein interessieren, dass die Theaterdirektoren Rotter (mit jüdischem Namen Scheye) am 2. Mai den Offenbarungseid geleistet haben.“19 Das ist in mehrerer Hinsicht falsch: Erstens heißen sie richtig Schaie mit ai (der Name leitet sich vom hebräischen Namen des Propheten Jesaja ab), zweitens haben sie, wie es der Theaterkritiker der Vossischen Zeitung Monty Jacobs richtigstellt, „das Recht, auf dem Theater einen falschen Namen anzulegen“20, und drittens: Es geht weiter! Der Dresdner Bank allein schulden die Rotters zwar über eine Million, sie bieten aber auch Sicherheiten, und die Bank hält still. Andere Gläubiger stimmen einer Umschuldung und Teilzahlungen aus der täglichen Theaterkasse zu.
Den Gerichtsvollzieher im Nacken, beginnen sie Ende August und Anfang September 1932 die neue Saison wieder mit drei Produktionen. Ihr Überleben hängt von Fritzi Massary ab, dem Star von Eine Frau, die weiß, was sie will.21
Am Abend des 1. September 1932 steht alles auf dem Spiel – im Metropol-Theater. Seit Ende 1927 haben die Rotters es für 15 000 Reichsmark monatlich gepachtet, zuzüglich Nebenabgaben. Mit wie viel sie im Rückstand sind, darf jetzt nicht das Thema sein. Den Antrag auf Konkurseröffnung haben sie gerade noch abwenden können, indem sie für das Metropol tägliche Ratenzahlungen leisten.
Der Montag Morgen berichtet, Alfred sei derjenige, der an den Rotterbühnen die Stücke „auswählt, umdichtet und inszeniert“.22 Doch das trifft nur bedingt zu. Bis zuletzt hat auch Fritz die Neufassung der Stücke besorgt und ist als Autor wichtiger als Alfred. Heinz Hentschke von der Gesellschaft der Funkfreunde sagt später: „Im übrigen hatte Alfred die Zahlen in groben Zügen ohnehin immer im Kopf.“ Ihr Vetter dagegen, Werner Guthmann, der seit 1918 bei ihnen Bühnenleiter ist, hält ihnen vor, dass „die Bücher nicht in Ordnung“ seien: „Seit Jahren haben wir eine Unmenge Zahlungsbefehle gehabt und ebenso viele Prozesse geführt. Freiwillig wurden überhaupt fast keine Rechnungen bezahlt“ – so wird er es 1933 dem Staatsanwalt schildern.
Die Brüder beschäftigen zudem ihren Schwager Ludwig Apel als Verwaltungsdirektor, der ihnen trotz der familiären Bindung nicht gewogen ist. Er ist der Ehemann von Marianne Leers, der Schwester von Alfred Rotters Ehefrau Gertrud. Apel bedauert, dass er wegen seiner jüdischen Frau die Mitgliedschaft in der NSDAP verloren hat. Aus deutlicher Missgunst gegen die Rotter-Brüder wird er 1933 ein hartes Bild von ihnen zeichnen und eine Chronologie ihrer Verschuldung den Behörden übergeben – die beiden hätten sich 1927/28 „über den Winter hin durchgewurstelt“, dann in Friederike die „Hauptrollen Tauber und Käthe Dorsch zu bisher noch nicht gekannten Rekordgagen herausgestellt“: „Man spielte eben va banque, und das mit vollem Bewusstsein.“
Aber ist diese behauptete größte Schwäche der Rotters – ihr spielerischer, zu jedem Risiko bereiter Wagemut – nicht insgeheim ihre größte Stärke?
Apel sieht das anders: „Hätte Friederike versagt, so wären die Rotters schon damals erledigt gewesen“, meint er, „denn die Hauptdarsteller hatten ihre langfristigen Verträge, die erfüllt werden mussten, in der Tasche“. Apel in missmutigem Ton weiter: „Im nächsten Winter 29/30 gab es im Metro[pol] Lehárs Land des Lächelns, eine Operette, die vor Jahren unter der Bezeichnung Die gelbe Jacke in Wien nicht angesprochen hatte. Lehár hatte alles zur Restaurierung dieses Werkes getan und besonders für Tauber den großen Schlager Dein ist mein ganzes Herz eingefügt. Vera Schwarz glänzte mit ihrer großen Kunst, und so war ein zweiter bedeutender Erfolg gezeitigt, wenn auch nicht in dem Ausmaße wie der von Friederike. Die Rotters waren in dieser Zeit auf ihrer höchsten Höhe. Die Schuldenlast war erträglich, die Gläubiger, besonders die Banken, die noch alte Forderungen hatten, drängten nicht nennenswert, aber trotz allem begann damals schon die Theaterkonjunktur, ebenso wie die der gesamten Wirtschaft, abzuflauen.“23
Fritz Rotter hat ein sehr künstlerisches Verhältnis zum Geld – für ihn ist es der Stoff, der die Wirklichkeit mit der Welt der Fiktion verbindet und am Ende selbst ein Stück Fiktion wird, reine Phantasie: Haben nicht Krieg, Inflation, Deflation und nun die Große Depression gezeigt, dass Geld die Wandelhaftigkeit selbst ist? Ein Ausdruck von Irrealität – und gerade deswegen Spielmittel und Bühne aller Spiele?