Kitabı oku: «Treffpunkt Mitte», sayfa 2

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II.

Am nächsten Vormittag betrat Nicolesci schon um neun Uhr sein Büro. Auf das gewohnte Frühstück am Engelsbecken hatte er verzichtet, was ihm heute nicht einmal schwerfiel, da es regnete und er auf der Terrasse nicht hätte sitzen können. Die Feuchtigkeit ließ ihn zudem seine alte Knieverletzung, ein Andenken aus Afghanistan, stärker spüren. Er war auf kürzestem Weg in die Brückenstraße gelaufen und hatte lediglich ein belegtes Brötchen und eine Tasse Kaffee beim Bäcker nebenan im Stehen verzehrt.

Ilona Schaller saß noch nicht an ihrem Platz – aus gutem Grund, wie er angesichts des Papierstapels auf seinem Schreibtisch feststellte. Sie hatte wohl bis Mitternacht recherchiert und telefoniert. Nicolesci überflog die Seiten, stockte an manchen Stellen, las intensiver. Ein eigenartiges Unternehmen, diese Firma RealLife. Nach eigener Aussage eine florierende Presseagentur, spezialisiert auf Berichte über Prominente oder solche, die es zu sein glaubten, eine Vielzahl freiberuflicher Mitarbeiter wurde aufgelistet, Rechercheure, Journalisten, Fotografen. Eigenartigerweise hatte Ilona Schaller aber nur wenige veröffentlichte Beiträge finden können, die unter dem Namen der Agentur erschienen waren. Möglicherweise recherchieren sie hauptsächlich, hatte seine Mitarbeiterin am Rand notiert, und die Beiträge werden von Mitarbeitern der jeweiligen Medien geschrieben. Das soll durchaus üblich in der Branche sein. Möglicherweise. Es könnte natürlich auch sein, dass sie in ihrer Eigenwerbung maßlos übertrieben haben, dachte Nicolesci, oder aber, dass die Agentur ihr Geld nicht mit den Artikeln verdient, die veröffentlicht werden, sondern mit denjenigen, die sie nicht publizieren. Gutbetuchte Prominente zahlten sicherlich häufig besser für unangenehme Informationen über sich selbst, ihre Geschäfte oder andere Machenschaften als Zeitung, Funk und Fernsehen.

Eine halbe Stunde später hörte er Ilona Schaller im Vorzimmer rumoren, kurz darauf klopfte sie an seine Tür und brachte ihm den morgendlichen Tee, ordentlich aufgebrüht, und stellte das Kännchen auf den Samowar neben seinem Schreibtisch. Sie schaute ihn fragend an.

»Hervorragende Arbeit«, lobte Nicolesci und wies auf die Unterlagen auf seinem Schreibtisch, »wenn die Dame kommt, bringen Sie sie gleich zu mir herein – und bitte das Knöpfchen nicht vergessen.« Sie nickte nur und verließ sein Büro.

Mit dem »Knöpfchen« war die bürointerne Bild- und Tonaufzeichnung gemeint, die er bei allen wichtigen Besprechungen mitlaufen ließ, um Aussagen seiner Besucher lückenlos zu dokumentieren. Außerdem schaute er sich diese Aufzeichnungen gelegentlich auch nachträglich noch einmal an, um den Tonfall oder die Mimik eines Gesprächspartners zu studieren.

Zwanzig Minuten nach zehn Uhr hörte er den Summer, kurz darauf die metallene Eingangstür scheppern, er vernahm zwei weibliche Stimmen, und schon klopfte es an seiner Tür.

Er rief »Herein« und Ilona Schaller führte eine etwa vierzigjährige Frau in sein Büro. Sie trug das Outfit erfolgreicher Geschäftsfrauen, einen schwarzen Hosenanzug, das Jackett locker geöffnet, eine hellblaue Bluse und eine Laptop-Tasche in der rechten Hand. Einen Knopf mehr hätte sie an ihrer Bluse schließen können, dachte Nicolesci, die hellblauen Spitzen des BHs, die aus dem Ausschnitt hervorblitzten, trübten den seriösen Eindruck ein wenig. Aber vielleicht gehörte dies ja zu den Gepflogenheiten in der Medienbranche. Die vielen Fältchen in dem braungebrannten, dezent geschminkten und von roten Locken umrahmten Gesicht ließen auf eine bewegte Vergangenheit schließen, die braunen Augen wanderten prüfend über die Regale und richteten sich dann direkt auf Nicolesci.

»Lieber Herr Nicolesci, es ist ja so erfreulich, dass wir uns endlich einmal persönlich kennen lernen«, sprudelte es zwischen den vollen Lippen hervor, »ich habe ja schon sooo viel von Ihnen gehört und freue mich …«

»Frau von Mahlzahn?«

»Oh, entschuldigen Sie vielmals, mein lieber Herr Nicolesci, da habe ich glatt vergessen, mich vorzustellen: Dagmar von Mahlzahn, Geschäftsführerin der Presseagentur RealLife. Das ›von‹ können Sie aber gerne weglassen und das Mahlzahn ebenfalls. Sagen Sie doch einfach Dagmar, dann redet es sich gleich viel besser. Sehen Sie, mein lieber Herr Nicolesci, oder darf ich auch Alexandru zu Ihnen sagen, deshalb sind wir doch zusammengekommen, um ein wenig zu reden. Ich hoffe, Sie nehmen mir den kleinen Zwischenfall gestern nicht übel. Also, ich konnte ja nun wirklich nichts dafür. Sie kennen das ja sicherlich auch, immer diese unfähigen Mitarbeiter, man gibt ihnen klare Anweisungen, und meine Anweisungen an Hilmar waren nun wirklich klar und eindeutig, was sage ich da, unmissverständlich waren meine …«

»Möchten Sie sich nicht erst einmal setzen, Frau von Mahlzahn?«, unterbrach Nicolesci und wies auf einen der Besucherstühle vor seinem Schreibtisch.

»Nichts lieber als das, mein lieber Alexandru, nichts lieber als das, da redet es sich doch gleich viel gemütlicher, und zum Reden sind wir ja auch …«

»Darf ich Ihnen ein Gläschen Tee kredenzen? Falls Sie aber Kaffee vorziehen oder etwas Stärkeres, ich hätte da einen hervorragenden Moskovskaya …«

»Einen Tee, einen Tee, Alexandru, das wäre jetzt genau das Richtige bei diesem Wetter. Ein entsetzliches Wetter, finden Sie nicht auch? Gerade für uns Presseleute, die wir doch immer auf Achse sind. Kaum jemand kann sich ja vorstellen, welche Probleme dieses Wetter uns bereitet. Stellen Sie sich nur einmal den Fotografen oder Kameramann vor, der bei solch einem Regen irgendwo draußen auf der Lauer … Aber was erzähle ich das Ihnen … Bei ihrem Beruf ist es doch nichts anderes, immer bei Wind und Wetter …«

Eigentlich eine aparte Person, überlegte Nicolesci, wenn sie bloß nicht so viel reden würde. Höflichkeit hin, Höflichkeit her, er unterbrach ihren Redeschwall.

»Meine liebe Frau von Mahlzahn, meine Zeit ist etwas begrenzt und die Ihre sicherlich auch. Vielleicht könnten wir dann einmal zur Sache …«

»Aber natürlich, Alexandru, eigentlich sind wir ja schon mittendrin. Kurz und knapp gesagt handelt es sich um Ihre Mitarbeit. Wie ich schon ausführte, handelt es sich bei meiner Agentur um ein Unternehmen, das auf Berichte über prominente Zeitgenossen spezialisiert ist. Nun ist bei uns ein gewisser personeller Engpass entstanden, eben auch krankheitsbedingt, die Frühjahrsgrippe bei diesem Wetter, und in solchen Fällen greifen wir gerne auf externe Spezialisten zurück. Da Sie mir als ein solcher Spezialist empfohlen worden sind, von mehreren Seiten empfohlen, wie ich betonen möchte … Also man hat Ihnen allerbeste Referenzen …«

So, so, dachte Alexandru Nicolesci, man hatte ihn empfohlen. Nun gut, er hatte in den beiden Jahren, seit er in Berlin tätig war, schon vielfältige Kontakte geknüpft, also hatte ihn möglicherweise einer seiner Kunden weiterempfohlen. Was ganz sicher aber nicht stimmte, waren die krankheitsbedingten Ausfälle. Seine Beschattung hatte vor drei Tagen begonnen, und bis zu dieser Zeit hatten nahezu sommerliche Temperaturen geherrscht.

»Vielleicht könnten Sie einmal etwas konkreter werden.«

Nicolescis schmale Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln.

»Aber natürlich, mein lieber Alexandru, werden wir konkret. Meine Zeit ist ja auch fürchterlich begrenzt, mindestens achtundvierzig Stunden müsste der Tag haben, um alle Dinge gewissenhaft zu erledigen. Erst gestern hatte ich schon morgens um sechs meinen ersten Termin, eine Homestory mit Tom Blancks, Sie wissen doch der Filmstar, der erst kürzlich in der überaus erfolgreichen Hollywood-Produktion die Hauptrolle gespielt hat. Sie haben den Film sicherlich auch gesehen, ein wahnsinniger Actionstreifen, es ging da um einen amerikanischen Agenten, der gegen die chinesischen …«

»Diesen Schauspieler soll ich jetzt also überwachen?« Nicolescis Lächeln wurde etwas ironischer.

»Aber doch nicht den Tommy, also der Tommy, der …«

»Frau von Mahlzahn, kommen Sie jetzt endlich zur Sache. In zehn Minuten habe ich einen dringenden Termin, und ich pflege meine Treffen pünktlich wahrzunehmen.«

Sie schaute Nicolesci beleidigt an und zog ein Blatt aus ihrer Tasche.

»Es handelt sich um einen gewissen Doktor Herbert Bruchhagen, Ministerialdirektor im Wirtschaftsministerium, weitere Details finden Sie hier«, sie legte die Seite, auf der nur wenige Sätze standen, vor Nicolesci auf den Schreibtisch, »uns interessiert alles über diesen Mann, besonders natürlich Schwächen jeglicher Art, Bestechlichkeit, sexuelle Abartigkeiten, Drogenabhängigkeit und Ähnliches. Soweit alles klar? Sie übernehmen den Job?«

Nicolesci schüttelte den Kopf, sein Pferdeschwanz flog hin und her.

»Ich werde Ihre ausführlichen Unterlagen studieren«, antwortete er, »und mir die Sache überlegen. Morgen komme ich um zehn Uhr in Ihr Büro und werde Ihnen meine Entscheidung mitteilen.«

»Aber das ist doch nicht nötig, wir können doch telefonieren. Sie erreichen mich Tag und Nacht auf meinen Handy.«

Sie gab Nicolesci eine Visitenkarte.

»Ich werde morgen um zehn Uhr bei Ihnen sein, solch wichtige Dinge bespricht man doch nicht am Telefon.«

»Da haben Sie natürlich auch wieder recht. Ich kann aber auch gerne zu Ihnen kommen. Ich habe sowieso hier in der Gegend zu tun. Morgen kommt nämlich der Hansi …«

Es klopfte an der Tür. Ilona Schaller öffnete und rief: »Herr Nicolesci, Ihr Termin mit Herrn Professor Ebenrath!«

»Sie sehen Frau von Mahlzahn, leider muss ich …«, sagte Nicolesci mit einem feinen Lächeln, »ich hätte ja noch gerne weiter … bis morgen um zehn Uhr in ihrem Büro.«

Die Agenturchefin erhob sich, reichte Nicolesci die Hand und verließ wortlos das Büro.

Nicolesci betrachtete interessiert ihr wohlgerundetes Hinterteil. Eigentlich eine feine Dame, wenn sie bloß nicht so viel … und es stellte sich die Frage, ob sie wirklich eine feine Dame war oder nur im übertragenen Sinn. Denn dieser Auftrag stank zum Himmel. Welches Interesse sollte eine Presseagentur, die auf Berichte über Viertel-, Halb- und Ganzprominente spezialisiert war, an einem schnöden Ministerialdirektor im Wirtschaftsministerium haben?

Nicolesci zog den schwarzen Mantel über, nahm den Geigenkasten und ging hinüber zu Ilona Schaller.

»Frau Schaller, ich begebe mich jetzt auf Recherche. Sie könnten bitte schon einige weitere Informationen auf Ihren bewährten Kanälen …«

»Über diesen Doktor Bruchhagen?«

»Aber nicht doch. Was interessiert uns dieser Ministerialdirektor. Bevor ich morgen früh diese Frau von Mahlzahn aufsuche, brauche ich dringend mehr Informationen über ihre Presseagentur. Insbesondere versuchen Sie doch bitte herauszubekommen, ob sie wirklich für Medien recherchiert oder ihr Schweigen verkauft. Interessant wäre auch noch, ob es irgendwelche Hinweise auf geheimdienstliche Verbindungen gibt. Schicken Sie mir die Informationen per Mail und informieren Sie den Herrn Hensche, dass er noch heute die technische Überwachung vorbereitet. Ich schaue heute Nachmittag bei ihm vorbei, um die Details zu besprechen. Morgen bin ich erst gegen Mittag wieder im Büro. Sagen Sie dies auch der Frau von Mahlzahn, falls sie anruft, und sagen Sie ihr, dass ich in der Zwischenzeit nicht zu erreichen bin, aber morgen pünktlich um zehn Uhr in ihrer Agentur erscheinen werde

Alexandru Nicolesci war sicher, dass seine beiden Mitarbeiter die erteilten Aufträge gewissenhaft ausführen würden. Robin Hensche, einer seiner freien Mitarbeiter, war ein blasses, dickliches Jüngelchen, gerade einmal vierundzwanzig Jahre alt, aber ein Ass auf seinem Gebiet. Schon im zarten Alter von vierzehn Jahren war er nur durch die guten Beziehungen seines Vaters um den Verweis vom Gymnasium herumgekommen. Während seine Eltern sich Sorgen machten, ob der schüchterne Junge, der die halbe Nacht vor dem Computer saß, vielleicht spielsüchtig zu werden drohte, hatte dieser den Rechner einer bekannten Rüstungsfirma gehackt, Pläne der neuesten Panzerabwehrrakete heruntergeladen und diese dem russischen Geheimdienst angeboten. So fit wie er am Computer war, so weltfremd war er leider in allen anderen Fragen des täglichen Lebens, hatte er doch eine E-Mail an die russische Botschaft geschickt, mit der Frage, ob es dort vielleicht Interesse an den Plänen gäbe. Die Antwort kam promt, allerdings nicht von der Botschaft, sondern vom Verfassungsschutz und hätte beinahe die erfolgversprechende Karriere des jungen Mannes verhindert. Den Beziehungen des Vaters sei Dank, dachte Nicolesci, und auch der weiteren strengen Kontrolle der Eltern. So hatte Robin Hensche im Alter von siebzehn Jahren mit Bestnote Abitur gemacht, anschließend im Schnelldurchgang Informatik studiert, sich dort gleich auf die Sicherheitstechnik im Informationswesen spezialisiert und sofort nach Beendigung des Studiums eine Firma für Verschlüsselungstechnologien gegründet. Er beriet Privatunternehmen, Verbände und staatliche Einrichtungen beim Schutz ihrer IT-Systeme und Kommunikationseinrichtungen.

Nicolesci hatte den jungen Mann kennen gelernt, als dieser von einem dubiosen Finanzmakler unter Druck gesetzt worden war, um interne Informationen von Banken über geplante Firmenübernahmen zu bekommen. Einen üblen Schläger hatte dieser Finanzmakler Robin Hensche, der geradezu panische Angst vor tätlichen Angriffen hatte, auf den Hals gehetzt. Nicolesci hatte dem jungen Mann diese Unannehmlichkeit umgehend und für alle Zeiten vom Hals geschafft und seitdem einen treuen Mitarbeiter, der ihn in allen Fragen moderner Technik, mit der er selbst leider auf Kriegsfuß stand, kompetent beriet.

Als Nicolesci den überdachten Hof vor dem Klinkerbau, in dem sich sein Büro befand, verließ, schlug er den Mantelkragen hoch – der Regen hatte kaum nachgelassen – und wandte sich nach links zur U-Bahn-Station Heinrich-Heine-Straße. Er betrat den Bahnhof durch den unscheinbaren Eingang neben dem Imbiss, stieg die Treppe zum Bahnsteig hinunter und bestieg den Zug Richtung Wittenau, der gerade einfuhr. Mit Belustigung registrierte er die ängstlichen Blicke, die mehrere Fahrgäste auf seinen Geigenkasten warfen. Nachdem er sich gesetzt hatte und den Geigenkasten öffnete, wurden einige dieser Blicke geradezu panisch, und die Mitreisenden entspannten sich erst, als er eine Tageszeitung herausnahm. Sie hatten wohl befürchtet, dass es eine Geige sein würde, und er dieser einige schräge Töne entlocken wollte, um anschließend mit einem Pappbecher durch den Wagon zu laufen und um einen kleinen Obolus zu bitten. Auch Nicolesci fand es äußerst entnervend, wenn

einer dieser Typen auf Akkordeon, Blockflöte, Gitarre oder gar einem Blasinstrument die Mitreisenden quälte, und er fragte sich, ob diese Musikanten finanziell nicht erfolgreicher wären, wenn sie nur mit den Instrumenten drohen würden. Er selbst wäre jedenfalls gern bereit, einen Euro zu geben, wenn ein solcher Möchtegernmusiker sein Instrument nicht benutzte.

Kaum hatte er die Hälfte des Leitartikels über die allerletzten Rettungspakete für die notleidenden Banken gelesen, erreichte der Zug schon die Station Alexanderplatz. Nicolesci stieg aus, lief durch die verwinkelten Gänge hinauf zur S-Bahn und nahm den nächsten Zug. Gerade war er darüber aufgeklärt worden, dass es keine aber auch wirklich keine Alternative zu neuen Milliardenpaketen zur Stützung der Banken gab, da fuhr der Zug schon in den Bahnhof Friedrichstraße ein. Er humpelte die Treppe hinunter und lief zum Ausgang. Er versuchte sich vergeblich zu erinnern, wo sich in früherer Zeit wohl der diskrete Übergang der DDR-Kollegen befunden hatte, den er zu Beginn seiner Laufbahn zwei- oder dreimal benutzt hatte, um in den Westen hinüberzuwechseln.

Zielstrebig ging er vom Ausgang auf das große Schaufenster zu und betrachtete fasziniert die farbenfrohen Rennautos, Boote und Flugzeuge hinter der Scheibe. Während seiner Jugendzeit vor vierzig Jahren in Duschanbe war Spielzeug Mangelware gewesen, als Ersatz hatten Jungen wie ihm alte Handgranaten und Waffenteile eines nahen Truppenübungsplatzes gedient. Er liebäugelte schon seit Langem damit, sich eine Modelleisenbahn zuzulegen oder aber vielleicht auch eines dieser großen, ferngesteuerten Flugzeuge, wie sie hier im Schaufenster zu bewundern waren. Leider würde er wohl erst die nötige Muße für ein solches Hobby haben, wenn er sich einmal in den wohlverdienten Ruhestand zurückziehen könnte. Er riss sich vom Anblick der bunten Modelle los und lief hinunter zur Spree. Neben einer Gruppe lautstark albernder Jugendlicher, der Sprache nach zu urteilen eine spanische Schulklasse, lehnte er sich an das Geländer. Er nahm ein kleines Fernglas aus dem Geigenkasten und schaute auf das gegenüberliegende Ufer. Nachdem er das Glas scharfgestellt hatte, konnte er die Hausnummern erkennen.

Das hinterste Gebäude – neben den grauen Plattenbauten wirkte die hellgelbe Fassade mit ihren Erkern geradezu vornehm – war die gesuchte Adresse. Dort hatte also die Agentur RealLife ihren Sitz. Nicht schlecht gewählt für eine Presseagentur, dachte Nicolesci, direkt neben RTL und ntv und gegenüber vom ARD-Hauptstadtstudio. Er ging weiter, vorbei am öffentlichrechtlichen Fernsehstudio und wechselte auf die andere Seite der Spree, schaute nur kurz auf das rot verklinkerte Gebäude der privaten Konkurrenz und blieb vor dem Eingang des Nebengebäudes stehen. Er war etwas irritiert, wies doch ein Schild an diesem darauf hin, dass hier ein Institut der Humboldt-Universität ihren Sitz hatte. Gleich darauf erblickte er ein weißes Blatt Papier, das in der Eingangtür darauf hinwies, dass noch Räume in Bürogemeinschaften zu mieten seien. Er studierte die Klingelschilder und sah auf einem den Namen RealLife – allerdings waren auf diesem noch vier weitere fantasievolle Firmennamen verzeichnet. Also reichte es bei Frau von Mahlzahn nicht einmal für ein eigenes Büro. Er schaute sich noch kurz das Schloss der Tür an – einfachste Konfektionsware – und humpelte dann weiter den Schiffbauerdamm hinunter. Im Kaffeehaus Zimt & Zucker legte er eine kleine Pause ein – das Ziehen im Knie war etwas heftiger geworden – und gönnte sich einen Milchkaffee. Nachdem er den Kaffee ausgetrunken hatte, war auch der Schmerz im Knie kaum noch zu spüren und er konnte sich auf den Weg zu Robin Hensche machen. Vielleicht, so überlegte er auf dem Weg zur Zehdenicker Straße, sollte er doch einmal über den Erwerb eines Kraftwagens nachdenken. Allerdings bewegte man sich in Berlin angesichts der Parkplatznot und der vielen Baustellen wesentlich besser mit öffentlichen Verkehrsmitteln fort, und er hatte sich auch nie so recht an das Autofahren gewöhnen können. Obwohl er sieben verschiedene Führerscheine besaß, darunter einen für Kettenfahrzeuge und einen für Gabelstapler und zwei davon sogar auf den Namen Nicolesci, hatte er doch nie eine Fahrprüfung abgelegt, und es fehlte ihm eindeutig an Fahrpraxis.

Endlich hatte er die Zehdenicker Straße erreicht. Nur ein unauffälliges Schild im Fenster des Eckgebäudes wies auf die Firma SafetyNet hin. Niemand würde in diesem schon recht baufälligen Gebäude und in dieser Gegend eine erfolgreiche Firma für IT-Sicherheit vermuten. Die Vielzahl von Fahrrädern vor dem Haus, die mit Graffiti und Plakaten verzierte Wand des Nebengebäudes, die Pflastersteine, die sich an der gegenüberliegenden Straßenseite türmten, all dies ließ kaum auf eine renommierte Geschäftsadresse schließen. Nicolesci war es nur recht, da er in seiner Verbindung zu Robert Hensche viel Wert auf Diskretion legte. Er klingelte, stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock und wurde dort von einer außerordentlich ansehnlichen, jungen Dame empfangen. Groß und schlank, mit einer Figur – betont durch den eng geschnittenen, schwarzen Hosenanzug –, die jedem Model Ehre gemacht hätte. Langes, blondes Haar umfloss ihr zart geschnittenes Gesicht, große, blaue

Augen lächelten ihn an, mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen stand sie im Türrahmen und begrüßte ihn freundlich: »Schönen guten Tag, Herr Nicolesci, kommen Sie doch bitte herein.«

Nicolesci betrat den Empfangsraum, der mit modernen Stahlrohrmöbeln ausgestattet war. Der Fußboden war mit anthrazitfarbenen Fliesen ausgelegt, die Wände weiß und ohne ein einziges Bild, lediglich über der Sitzgruppe für Besucher hing ein Monitor an der Wand. Dieser Raum sollte die Professionalität der Firma unterstreichen und Eindruck auf Kunden machen. Er wusste allerdings von früheren Besuchen, wie es hinter der Tür aussah, aus der jetzt Robin Hensche trat. Dort herrschte das reinste Chaos. Diverse Monitore standen auf unansehnlichen Tischen, eine Vielzahl von Kabeln lag kreuz und quer auf dem Fußboden, aufgeschraubte elektronische Geräte, Handbücher, Betriebsanweisungen, Werkzeuge, Aschenbecher – und noch erbärmlicher sah es in dem hintersten Zimmer aus, in dem der begnadete Techniker wohnte. Ebenso chaotisch wirkte Robin Hensche selbst. Wirr hingen ihm ungewaschene, dunkelblonde Haare in die Stirn, das beängstigend blasse Gesicht war aufgequollen, das fleckige T-Shirt zierte der Aufdruck Fuck you, der Hosenboden der löchrigen Jeans hing in den Kniekehlen und die Kippe im Mundwinkel. Dennoch, die Kunden aus Finanzwelt, Rüstungskonzernen und Ministerien waren geradezu begeistert von diesem jungen Mann – ebenso wie Alexandru Nicolesci.

Hensche nickte ihm zu, griff nach einem Becher, trank ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen und auf die Asche zu achten, die gerade seinen Kaffee würzte. Er schlug sich gegen die Stirn, schüttelte den Kopf, brabbelte etwas Unverständliches vor sich hin und verschwand wieder hinter die Tür.

»Möchten Sie auch einen Kaffee oder etwas anderes«, fragte Reginé, die blonde, junge Frau.

»Danke ich habe gerade …«

Schon erschien Hensche wieder, einen Schuhkarton in der Hand. Diesem entnahm er einige schwarze Teilchen.

»Kleben absolut Magnet … Weitwinkel … Radius zehn Meter … einer reicht … für Mobil … Empfang kein Problem … heute Nacht Festnetz Handy … gescannt … Wann?«, brabbelte er.

Diese verstümmelte Redensweise war doch einigermaßen gewöhnungsbedürftig. Im Laufe der Zusammenarbeit hatte Nicolesci den Eindruck gewonnen, dass der junge Mann durch seine ständige Kommunikation mit den Maschinen das Sprechen immer mehr verlernte. Mittlerweile hatte er sich aber einigermaßen daran gewöhnt, sodass er schlussfolgern konnte, dass die Minikameras in einem Hundertachtzig-Grad-Winkel aufnahmen und in einem Umkreis von zehn Metern auch noch das kleinste Geräusch registrierten, eine für jeden Raum reichte, Wanzen für mobile Aufnahmezwecke vorhanden waren, die Signale beider noch in mehreren hundert Metern aufgefangen werden konnten und Hensche in der Nacht den Festnetzanschluss von RealLife anzapfen und für die Mobiltelefone einen Empfänger installieren würde, der einen Sendemast simulierte und die Signale an den echten weiterleitete, während die Gespräche der interessierenden Nummern aufgezeichnet würden. Ebenfalls würden die Gespräche mit einer Spracherkennungssoftware auf bestimmte Stichworte gescannt.

»Ich bin morgen um zehn Uhr in der Agentur und werde unsere kleinen Lauscherchen installieren«, beantwortete Nicolesci die Frage nach dem Wann. »Anschließend müssten alle Gespräche aufgezeichnet werden. Es wäre schön, wenn Reginé die Aufzeichnungen zeitnah durchhören und mich auf dem Laufenden halten würde. Über die interessierenden Themen und Personen hat Sie Frau Schaller informiert?«

»No Problem, sind schon alle einprogrammiert«, antwortete die blonde Schönheit und strich dabei Robin Hensche eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Was sie wohl an diesem Typen fand, überlegte Nicolesci, das äußere Erscheinungsbild war es gewiss nicht, also Geld, Erfolg, oder aber es war einfach nur Liebe – damit kannte er sich nicht so recht aus.

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