Kitabı oku: «Rundgang nur mit Korb»
Peter Schmidt
RUNDGANG NUR MIT KORB
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
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Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
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WIDMUNG
Früher freuten wir uns über das,
was wir beschaffen konnten.
Heute ärgern wir uns darüber,
wenn es etwas nicht zu kaufen gibt.
Für meine deutsche Familie zur Erinnerung
Für meine italienische Familie zum Verständnis
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Man muss sich erst einmal dran gewöhnen
Wie kommt man zu einem Garten?
Werkzeug
Geräteschuppen oder Gartenlaube
Gasbetonsteine
Zement für einen Sockel
Wasser Marsch
Ein neuer Versuch
Sockelmauer und Fenster
Rosen kaufen
Eine Überraschung folgt der nächsten
Einsatz für die Gartensparte
Herbstmarkt
Ein Haus voller Möglichkeiten
Abbau für den Aufbau
Eine neue Hoffnung
Auf Abwegen zum Ziel
Ein vorläufig gutes Ende
Wie aus dem Nichts
Eine unverhoffte Möglichkeit
Die Laube wächst
Das erste Fenster
Ein erneutes Hindernis
Umwege
Licht und Schatten
1. Mai
Ein Licht geht auf
Der Durchbruch
Die neue Gartenhecke
Gartenfest
Nachtrag
1984
1. Kapitel
MAN MUSS SICH ERST EINMAL DRAN GEWÖHNEN
Freitagnachmittag. Sechzehn Uhr zehn. Axel Weber saß auf seiner dunkelblauen Simson und fuhr durch die Straßen der Stadt. Unter seinem schwarzen Ledersitz explodierte es unzählige Male. Motorengedröhn. Zwei rollende Gummireifen drückten die Stirn gegen den rauen Straßenbelag. ›Feierabend‹ dachte er. ›Endlich nach Hause‹. Er hatte sich gar nicht mehr umgezogen sondern ließ seine Arbeitssachen gleich an. Auf seiner Hose saßen ein paar ausgetrocknete Ölflecken. Sein kariertes Arbeitshemd roch nach Maschinenschmiere und hatte an den Seiten wie immer zwei schwarze Dreckstellen, die sich einstellten, wenn er die Hände in die Hüfte stemmte. Die Hände hatte er noch schnell mit Kernseife gewaschen und dann ging es nach Hause. ›In Neubrandenburg war das schlimmer mit dem Schmutz - wenigstens ein Vorteil‹. Er dachte zurück an die Zeit in Mecklenburg. Seine Heimat. Die Heimat seiner Frau Gerda. Die Kinderstube von Heiko und Jana.
Zuerst war er ein normaler Mitarbeiter gewesen, unauffällig in einem Korridor zwischen Lob und Tadel. Dann kamen sie zu ihm. »Genosse Weber, wir schlagen dich vor zum Mitarbeiter des Monats«. Er fühlte sich geehrt. Endlich hatten sie seinen wahren Wert erkannt. Den Wert des kleinen Montagearbeiters Axel Weber. Er wurde zum Mitarbeiter des Monats Januar. Er wurde zum Mitarbeiter des Monats Februar. Er hatte sein Arbeitsverhalten nicht verändert, aber auf einmal war er jemand. Er wurde gegrüßt und bekam zu spüren, dass er für den Betrieb wichtig war. Als er zum Mitarbeiter des Monats März gekürt wurde, kippte die Stimmung in der Jugendbrigade. »Was kann denn der Besonderes« fragten sich die Kollegen hinter vorgehaltener Hand. Er wurde ausgeschlossen von Pausenrunden, in denen die Arbeitskameraden mitgebrachte Bouletten und Brötchen verteilten und sie genüsslich und mit viel Senf zu sich nahmen. Auf Fragen wurden die Kameraden zunehmend einsilbig und zeigten ihm, was man von einem Mitarbeiter des Monats zu halten hatte. ›Undank ist der Welten Lohn‹ dachte er. Dann rief ihn die Kombinatsleitung zu sich. »Genosse Weber, du wirst gebraucht. Ein Mann mit deiner Qualifikation.
Ein Mann mit deinem Können. Brigadeleiter. VEB1 Werkzeugmaschinenkombinat. Die benötigen dort einen ausgebildeten Montageschlosser mit besonderen Fähigkeiten. Ein sensibles Schlüsselstück unserer sozialistischen Produktion. Eine Chance für deine Karriere. Ein Schleudersitz nach oben. Da gibt es eigentlich gar nicht viel zu überlegen.« Er überlegte nicht lange. Er handelte. Sachsen. Das neue Familienheim. Weg von den Freunden. Aber eben ein Schleudersitz ganz nach oben.
Auf dem Betriebsparkplatz war bereits gähnende Leere. Am Freitag war die sozialistische Produktion eher erledigt als in der Woche. Und er, das Schlüsselstück? Wurde er hier wirklich gebraucht wie die Milch im Kaffee? Scheinbar konnte man hier auch ohne ihn und seine sensible Schlüsselstelle Feierabend machen.
Der Fahrtwind tat gut und wehte ihm die Sorgen der lauten und staubigen Produktionshalle aus seinen Gedanken. ›Man muss sich erst einmal dran gewöhnen‹.
Er musste ein paar Schlaglöchern ausweichen, als er in die Gustav-Adolf-Straße bog. Zu Beginn der Woche hatte er sich hier einmal verfahren. ›Umwege erhöhen die Ortskenntnis‹ hatte er zu sich gesagt. Jetzt fuhr er noch schnell an der Kaufhalle vorbei. Keine Schlange vor dem Eingang. Dann gab es auch nichts Besonderes. Darauf konnte er sich verlassen. Keine Menschenansammlung, keine Sonderangebote. Wenigstens das war so wie in Neubrandenburg. Wenn man höflich fragte, wann es Kasslerbraten oder frischen Hering gab, bekam er zur Antwort: »Das wüssten wir selber gern.« In Neubrandenburg kannten sie diesen und jenen und so purzelten wertvolle Informationen über den Ladentisch, die hin und wieder die Anstehzeit verkürzten. Hier kannten sie noch niemanden und auf freundliches Grüßen reagierten die Verkäuferinnen anders, als man in den Wald hineinrief. Man muss sich erst einmal dran gewöhnen.
Sein Blick fiel auf das Fahrradschloss unterhalb des Lenkers. Dort hatte sich Heiko festgehalten, als er ihn in Neubrandenburg in den Kindergarten gebracht hatte. Ein Sicherheitsgriff. Seine Erfindung. Er setzte den Blinker und fuhr in die Schmiedeberger Straße ein. Gleichmäßig leuchtete am Ende des Lenkers ein orangefarbenes Licht auf und ging wieder aus.
Auf dem Fußweg spazierte eine Familie. In weiße Wochenendklamotten geschlüpft lief der Kombinatsleiter Liedke mit seiner Frau und seinen Kinder über die staubigen Gehwegplatten. Genosse Liedke hatte am Freitag für gewöhnlich Außentermine. Das war im Kombinat bekannt. Ein Treffen mit dem Bürgermeister. Empfänge in den anderen sozialistischen Kombinatsleitern in der näheren und ferneren Umgebung. Auftritte zum Tag der NVA. Konferenzen. Parteitage. Immer freitags. Freitag haben wir sturmfrei. So wurde er von den neuen Kollegen begrüßt. ›Und der Kombinatsleiter hat sturmfrei von seiner Belegschaft‹ dachte er.
Auf Höhe des Kombinatsleiters drückte er auf die Hupe. Ein klägliches, gedrücktes und unnatürliches Geräusch löste sich irgendwo im Innern der Simson, schwappte aus und ergriff die Ohren des Kombinatsleiters Liedke. Der blickte sich um, hob zuerst mechanisch seine Hand zum Gruß. Er wurde wahrscheinlich viel gegrüßt, denn der Genosse Liedke war ja ein Jemand. Dann erkannte er den neuen Brigadeleiter Weber und sein unverbindlicher Gruß wurde durch ein erfreutes Lächeln persönlich.
Es tat gut zu zeigen, dass man bis Feierabend gearbeitet hat. Er hatte das Gefühl, einen guten Eindruck gemacht zu haben. Und der Kombinatsleiter? Hatte er nicht das Ziel vorgegeben, die Arbeitszeit voll auszunutzen? Zur Verteidigung des Sozialismus gegen die westlichen Imperialisten? ›Der schnellste Mann der Welt‹ dachte Axel. ›Um 16 Uhr Feierabend und um 15 Uhr schon zu Hause‹. Irgendwie läuft hier so einiges ganz anders. War seine Beförderung tatsächlich ein Aufstieg oder nur eine Umbuchung? Oder muss man sich vielleicht erst einmal dran gewöhnen?
*
Er fuhr in die Wohnsiedlung ein. Drei Blöcke. Baujahr 1975. Jeweils fünf Eingänge. Pro Aufgang zehn Familien. Zwischen den Wohnblöcken ein Kinderspielplatz mit Klettergerüst, Sandkasten, Schaukel und ein Platz zum Wäschetrocknen.
Er dachte an die Begrüßung des Kombinatsleiters. »Herzlich Willkommen Genosse Weber. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Gute Leute sind bei uns immer willkommen«. Waren die guten Leute deswegen willkommen, weil er sich dann von der Sonne des Erfolges bescheinen lassen konnte? Er, der Neue, lebte nach den Regeln, die der Leiter ausgab, aber selber nicht einhielt? Wie ein Bienenschwarm summten die Gedanken um seinen Kopf. ›Wasser predigen und Wein trinken‹. ›Wenn zwei Leute das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.‹ Er verschluckte seine Gedanken, denn es war Wochenende. Er steuerte in eine Mopedparklücke vor dem Haus und drehte den Zündschlüssel zurück. Die Simson beruhigte sich, die gebogene Plastikfrontscheibe hörte auf zu vibrieren und der Motorenlärm verschwand in der azurblauen Atmosphäre des Nachmittags.
Sein Blick wanderte den Wohnblock hinauf. Fünfter Stock rechts. Ein kleines Vogelnest. Nicht gerade gemütlich, aber mit Fernheizung, Küche, eigenem Bad und Aussicht auf ein Telefon. »Wichtig ist, was man draus macht.« Hatte seine Frau Gerda gesagt, als sie sich die Wohnung gemeinsam anschauten.
An der überdachten Eingangstür hing eine Lampe: 13 c. Das war die Hausnummer. Immer wenn jemand nachts nach der Nummer 13 c suchte, brauchte er dazu keine Taschenlampe. Die Haustür stand weit offen. Er putzte sich die Schuhe am Stahlrost ab, das in den Türsockel eingelassen war. Er wollte keinen unnötigen Straßendreck in das Treppenhaus schleppen. Ordnung muss sein. Und wenn alle mitmachen, geht es allen besser. Eine Errungenschaft des Sozialismus. Alle ziehen am gleichen Strang. Er schloss die Tür hinter sich, denn auch das bedeutete Ordnung. Flüchtig überlas er das Schild am Informationsbrett. »Tür bitte nicht offen stehen lassen. Ab 20 Uhr bitte abschließen!« Er nickte zu sich selbst. Richtig gemacht. Ordnung muss nun mal sein. Das gefiel ihm.
Der Hausflur war von der Decke bis zur Höhe des Treppengeländers weiß gestrichen. Darunter hellblau mit weißer Wickeltechnik. In Neubrandenburg hatte er gesehen, wie die Wickeltechnik angewandt wurde. Man taucht einen Waschlappen in weiße Farbe wickelt ihn zusammen und rollt ihn von unten nach oben aus. So entstanden die Schönwetterwolken auf einem stahlblauen Frühlingshimmel. Im ersten Stock las er die Namensschilder. »Lange«; »Heinrich«. Nüchtern und anonym verrieten sie nicht, was sich dahinter verbarg. Aber man wird sich kennenlernen. Der Hausvertrauensmann stellt sie in der nächsten Woche allen Bewohnern vor.
Er musste schmunzeln, als er daran dachte, wie sie zu der Wohnung gekommen waren. Umständlich aber erfolgreich. Die Anfrage beim städtischen Wohnungsamt lief ins Leere. »Wir haben keine freien Wohnungen. Sie können aber gern jederzeit wieder nachfragen«. Die Telefonstimme der Dame war ihm damals abwesend und scheinfreundlich vorgekommen. Das Werkzeugmaschinenkombinat hatte keine Beziehungen und niemand kannte jemanden, der von einer freien Wohnung wusste. ›Scheinbar traf sich der Kombinatsleiter Liedke freitags eher selten mit den Vorsitzenden des Wohnungsamtes‹, dachte er öfter.
Er und seine Frau Gerda setzten eine Annonce in die Leipziger Zeitung. »Wir suchen eine Neubauwohnung. Mindestens zwei Zimmer, Küche, Bad. Wir bieten eine Einraumwohung in Neubrandenburg. Küche, kleines Bad.« Über zwei Monate gab es keine Resonanz. Dann kam der Brief. Frau Heller, eine ältere Dame mit einer vornehmen Handschrift, wollte zu ihren Kindern ziehen. Sie las die Anzeige in der Leipziger Zeitung im Zugabteil auf dem Weg nach Neubrandenburg. Auf dem Hauptbahnhof in Berlin hatte sie 35 Minuten Aufenthalt, bis der Zug nach Stralsund einfuhr und in der Vier-Tore-Stadt haltmachte. Sie wickelte ihre Brote aus, die sie in Zeitungspapier gepackt hatte. Dann kam der Zug und sie aß während der Fahrt weiter. Halb interessiert überflog sie die Gesuche. »Wir suchen eine Neubauwohnung. Mindestens zwei Zimmer, Küche, Bad. Wir bieten eine Einraumwohnung in Neubrandenburg. Küche, kleines Bad«, stach es ihr in die Augen.
Alles das schrieb sie in einem Brief und verschickte ihn an die Familie Axel Weber. »Ich habe eine Zweizimmerwohnung nach ihren Wünschen zum Tausch gegen eine Einzimmerwohnung in der Oststadt. Familie Weber wohnte aber nicht in der Oststadt, sondern auf dem Datzeberg. Dies war der erste Kontakt zu Frau Heller. Ein Teilerfolg. Daran musste festgehalten werden.
In der zweiten Etage las er interessiert »Pietsch«; »Müller«. Müller ist der Hausvertrauensmann. So viel wusste er schon.
Sie schrieben Frau Heller zurück an ihre jetzige Adresse. Sie würden sich um eine Wohnung in der Oststadt bemühen und einen Tauschpartner für eine Wohnung auf dem Datzeberg finden. Sie gaben eine Anzeige in der Neubrandenburger Zeitung auf. »Suchen Einzimmerwohnung mit Bad und Küche in der Oststadt und bieten Wohnung mit gleicher Ausstattung auf dem Datzeberg«. Dabei suchten sie nicht wirklich eine Wohnung in der Oststadt. Das kam den Interessenten merkwürdig, aber nicht außergewöhnlich vor.
Dritte Etage: »Hofmayer«; »Ullrich«.
Es gab Komplikationen wie bei einer schwierigen Geburt. Die Terminvorstellungen passten nicht zusammen. Sie räumten die Wohnung. Frau Heller räumte ihre Wohnung erst, als die Wohnung in der Oststadt frei wurde. Das war 14 Tage später. ›Wohin mit den Möbeln und mit der Familie?‹ Er wollte seine neue Arbeitsstelle pünktlich beginnen. Dann gab es eine Lösung: Im Aufgang 9 b gab es eine Gastwohnung. Probleme dieser Art waren bekannt und das Wohnungsamt konnte zumindest hier flexibel unterstützen. Die Möbel konnten in der Schule abgestellt werden. Es waren Ferien. Gerda ging jeden zweiten Tag in den Klassenraum 306 und goss die Blumen.
Vierte Etage: »Seifert«; »Knorrich«. Bei Knorrich sprang die Tür auf. Eine Frau mit roten Haaren und Kittelschürze tat so als putze sie den Türrahmen und grüßte freundlich: »Sie sind wohl da oben eingezogen?«
»Ja.«
»Das ist aber schön. Wenn Sie was brauchen, einfach klingeln.«
»Danke.« Er nahm gleich drei Treppenstufen auf einmal ›Neugier oder Hilfsbereitschaft? Vielleicht ein bisschen von beidem. Durch Hilfsbereitschaft getarnte Neugier‹, dachte er.
Die Möbelträger meckerten über unmögliche Arbeitsbedingungen. »Die einen Möbel rauf und die anderen Möbel runter. Und dann noch bis ganz nach oben.« Das war die Idee von Frau Heller gewesen. »Wir können uns doch die Kosten für die Umzugshelfer teilen.« Das gefiel allen außer den Möbelträgern. Aber die hatten noch genug Puste um etwas wie ›Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sei ein für allemal abgeschafft‹ zu schimpfen. »Wir haben es uns fast gedacht, dass diese beiden Fuhren für euch zu viel sind. Das nächste Mal engagieren wir richtige Profis.« setzte Axel entgegen und schon liefen sie so gleichmäßig wie die Zahnrädchen in einem Uhrengehäuse aus Ruhla. Treppauf. Treppab. Wenn man den Handwerker an seiner Ehre packt, dann läuft er zu Fuß bis zum Nordpol, um seinen angezweifelten Ruf zu retten.
Fünfte Etage: »Schäfer«; »Weber«. Ihr neues Familienwappen bestand aus einem altgelben Klebestreifen, der mit einem roten Filzstift beschrieben war. Gerda muss es im Laufe des Tages zusammen mit den Kindern angebracht haben. Nur ein Provisorium. Das richtige Namensschild war noch in irgendwelchen Kisten verschollen.
Er klingelte und Jana machte die Tür auf. »Papa.« Sie klammerte sich um sein rechtes Bein. Er konnte sich nur noch schwer vorwärts bewegen. »Lass mich doch erst mal reinkommen.« Er zog sich seine Schuhe aus, stellte sie auf den zweiten Fußabtreter, machte einen großen Schritt in die Wohnung und zog die Tür hinter sich ran.
Gerda saß vor ein paar Umzugskartons und räumte zusammen mit Heiko die Sachen für das Kinderzimmer in die Schränke. »Heute Abend gibt es Erbsensuppe mit Brot.«
»Mit frischem Brot?«
»Nein, das Brot ist von gestern. Frisches Brot gibt es in der Kaufhalle nur um 13 Uhr. Sonst ist nur noch Brot vom Vortag übrig.« hatte Gerda herausgefunden. Warum ist das frische von gestern übrig? Wo konnte denn das frische Brot über Nacht ungestört alt werden? Warum legte man nicht alles Brot raus? Wenn du Brot von heute haben willst, musst du morgen wiederkommen. Auch wenn es sich ihnen jetzt noch nicht richtig erschloss: Es gab sicherlich wie für alles einen einfachen und nachvollziehbaren Grund. Und auch daran musste man sich erst einmal gewöhnen.
*
Das Radio knirschte, als wenn beim Umzug Sand in die Boxen geraten wäre. Schlechter Empfang. Es wurde eine Musiksendung aus dem Leipziger Funkhaus abgespielt. »Wie geht es Dir?« fragte er seine Frau Gerda, die gerade einen leeren Pappkarton zusammenfaltete und die geringelte Kugelschreiberhandschrift ihrer Mutter ›Heiko – Kinderzimmer‹ auf dem Deckel las. Diese Frage war fast überflüssig und er erwartete auch keine ehrliche Antwort, denn er konnte in ihren Augen lesen, dass sie vor Heimweh fast verbrannte. Sie hatte sich dem Wohl der Familie untergeordnet und ihr fiel es sichtlich schwer, die Chancen zu erkennen und mit gleichem Gewicht auf die Waage des Für und Wider zu legen. »Ich komme mir vor, als ob ich eine fremde Wohnung mit unseren Sachen einrichte.« quälte sie sich heraus und versuchte dabei die fließbereiten Tränen hinter ihren Staumauern zurückzuhalten. Nicht vor den Kindern. Er hatte sie aus einer Landwirtschaftsfamilie herausgeheiratet. Eine Familie, die mit ihren Äckern seit Urzeiten Stalldung gegen Kartoffeln, Rüben und Getreide tauschte. Nach dem Eintritt in die LPG2 war seinen Schwiegereltern ein Stückchen eigenes Land geblieben. Seit er Gerda kannte, hatte auch sie auf diesem Fleckchen Erdekruste gehackt, gesät, gegossen und geerntet. Es steckte in ihr drin, war ihr angeboren. Nun hoffte er darauf, dass sie in der Umgebung aus Betonplatten – einer Industriestadt mittleren Ranges - neue Wurzeln schlagen würde. Er hatte aus einem Nesthocker einen Zugvogel gemacht. Und bisher glich ihr Flug in die neue Heimat eher einer Bruchlandung. Die gemeinsame Wohnung in Neubrandenburg war wenigstens umzingelt von Grün. Unverbrauchte Natur, Wiesen, Bäume, ein See. Diese ausschweifende Landschaft war nun zu einer Aussicht auf eines der modernsten Hauskomplexe der Neubaugeneration und 45 Quadratmeter senkrechte Wände mit braunem Streublumenmuster zusammengeschrumpft. Der Umzug in die Schmiedeberger Straße 13 c stellte in viele Richtungen einen Bruch dar.
»Habt ihr schon neue Freunde auf dem Spielplatz gefunden?« Er wandte sich seinen Kindern zu. »Wir haben schon Verstecken gespielt und morgen soll ich zu Katja kommen. Die wohnt da drüben im Querblock und kommt auch in zwei Jahren in die Schule.« Er strich Jana über ihre blonden glatten Haare. Und du Heiko? »Ich habe Fußball gespielt und dann hat uns ein Mann von den Wäscheleinen weggejagt und dann haben wir im Sandkasten Burgen gebaut.« Das ist doch etwas. Kinder tun sich nicht so schwer mit Veränderungen. Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Einen jungen Baum kann man umsetzen und er treibt wie vorher einfach weiter. Kleine Wurzeln sind nicht so tief. Und wie bekamen sie Gerdas Triebe wieder zum Grünen? Er musste ihr etwas bieten. Aber was? Warum kümmerten sie sich nicht um eine Gartenparzelle? In Neubrandenburg hatten sie ihr eigenes Gemüse angebaut. Sie waren Selbstversorger mit Rosenkohl, Salat und Kartoffeln. Wäre das eine Aufmunterung? »Was hältst du von einem Garten?«, fragte er Gerda. In ihr lebte die Bauerntochter auf und kurzzeitig verzogen sich die Gewitterwolken aus ihrem Gesicht und ließen einen kurzen Moment Sonnenschein zu. An manchen Regentagen ist ein kleiner Sonnenstrahl die einzige Hoffnung auf besseres Wetter. »Wir könnten dann wieder unser eigenes Gemüse anbauen. Das wäre gesünder und wir wären nicht andauernd vom Wohlwollen der Kaufhallendamen angewiesen, die dir nur dann was verkaufen, wenn sie selber Vorteile haben.« Er hatte sie mit seiner Idee angesteckt. »Die Kinder könnten ein eigenes Beet bekommen und so schon mal Verantwortung für Radieschen oder Möhren übernehmen. Wir könnten im Sommer grillen. Und im Garten lernt man viele neue Leute kennen, die einem hier und da weiterhelfen können.« Sie redeten sich in einen kleinen Rausch. »Von meinem Vater könnten wir Gartenwerkzeug aus der LPG bekommen.«
»Und wenn die Erdbeeren reif sind, dann können wir unser Überangebot gegen andere Dinge tauschen. Vielleicht bekommen wir dann die Kaufhallenfrauen weich gekocht.«
»Spargel, Erbsen, Kirschen und Blumenkohl. Das wäre schon eine Erleichterung.«
»Dann machen wir uns unsere eigene kleine LPG.« An diesem Tag sprach sie nicht mehr von Heimweh. Er hatte im Fechtkampf gegen ihre Sehnsucht nach Heimat und Vertrautheit den ersten Treffer gesetzt. Nun muss die Zeit für ihn arbeiten.
Sie packten ihre Sachen aus den Kisten in die Schränke ein und sie träumten von langen warmen Sommertagen, an denen sie unter dem Sonnenschirm eine Erdbeertorte mit Erdbeeren aus eigener Ernte zum Kaffee genießen würden.
Ein Kleingarten. Das wäre ein Versuch. Aber wo beantragt man eine Gartenparzelle? Gleich am Montag würde er dazu die Kollegen im Betrieb befragen. Vielleicht hält man es besser aus, wenn man sich auf seine eigene grüne Insel zurückziehen kann. Und an die anderen Umstände wird man sich dann sicherlich auch noch gewöhnen.