Patrick und die Grubengnome

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Patrick und die Grubengnome
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Peter Schottke

Patrick und die Grubengnome

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1: Turmtortur

Kapitel 2: Schlingschlamm

Kapitel 3: Ganggegrummel

Kapitel 4: Morastsumpf

Kapitel 5: Boldbehausungen

Kapitel 6: Sumpfmorast

Kapitel 7: Flügelpferd

Kapitel 8: Fastfood

Kapitel 9: Baumgestaltung

Kapitel 10: Waldwildnis

Kapitel 11: Ringelranke

Kapitel 12: Drachensteigen

Kapitel 13: Eisebene

Kapitel 14: Rattenritt

Kapitel 15: Besuchgesuch

Kapitel 16: Gnomengebiss

Kapitel 17: Wutweitwurf

Kapitel 18: Energiekrise

Kapitel 19: Throntreppe

Kapitel 20: Widerworte

Kapitel 21: Felsflucht

Kapitel 22: Katzenkundschaft

Kapitel 23: Jagdgejohle

Kapitel 24: Schleichwegschlängeln

Kapitel 25: Fadenschein

Kapitel 26: Flugabwehr

Kapitel 27: Schluchtschlacht

Impressum neobooks

Kapitel 1: Turmtortur

Im Vorgefühl ihres Triumphs näherte sich die Krähe Crassia schnell wie ein Pfeil der Hohen Klippe. Pfeile liebte und bewunderte sie und so oft es ging, versuchte sie ihnen nachzueifern, indem sie sich im Flug schmal zusammenzog und mit vorgerecktem Schnabel ganz geradlinig voranstrebte.

Was hatte sie nicht alles erreicht! Die wichtigste Botschaft seit Langem hatte sie ihrem Herrn und Meister zu überbringen: Die Feinde hatten den verschollenen Zauberstab zurückerlangt und besaßen damit eine unschätzbare Waffe – wie froh und dankbar würde der Gebieter sein, dies zu erfahren! Crassia wagte es kaum, sich die Belohnungen auszumalen, die Torturiel für solch treue Dienste bereithielt.

Und, wie um ihrem Glück das Sahnehäubchen aufzusetzen, sie besaß einen Namen! Als Erste und Einzige in Torturiels Krähenschar! Einen eigenen Namen!

Die letzten Häuser der Zwergenhauptstadt zogen unter ihr vorbei. Ihr werdet euch bald wundern, ihr kleinen Wichtigtuer!, rief sie den Bewohnern in Gedanken zu. Ehe ihr euch auch nur umgucken könnt, wird mein Herr euch schon vernichtend geschlagen haben!

Jetzt ragte das Klippenmassiv vor ihr auf und Crassia steuerte direkt auf die Festung zu. Nur noch wenige Flügelschläge und ihr Ziel war erreicht! Mit kühnem Schwung beschrieb sie den letzten Bogen zu einem der Einflugfenster und durchstieß dabei einen Schwarm ihrer Schwestern, die empört kreischend auseinanderstoben. „Aus dem Weg! Ich habe eine Botschaft und einen Namen!“

Sie landete in der Fensternische, außer Atem, aber voller Vorfreude. Sie musste sich erst an das Halbdunkel gewöhnen, denn trotz des strahlenden Sonnenlichts draußen lag das Turmzimmer in einem Gewebe trüber Schatten. Keine Fackel brannte. Crassias scharfer Blick durchdrang die Düsternis und sie erkannte im Lehnsessel eine vertraute Gestalt, die sie lange Zeit schmerzlich vermisst hatte.

Sie flog hinüber und landete punktgenau auf der Armlehne. Torturiel schreckte hoch, stieß einen kehligen Laut aus und fuchtelte um sich, als sähe er sich von einem Schwarm bösartiger Wespen angegriffen. Crassia flatterte von der Sessellehne auf und verstand: Der Magier hatte sich, gewiss nach anstrengender Boshaftsarbeit, einem wohlverdienten Schlummer hingegeben.

„Was ist los?”, stieß er hervor. „Wer wagt es -”

Crassia krächzelte besänftigend und Torturiels Handbewegungen wurden schwächer. Sein Atem ging stoßweise. Dann beruhigte er sich und ließ die Hände sinken. „Eine Krähe”, murmelte er. „Nur eine Krähe.”

Crassia ließ sich wieder neben ihm auf der Lehne nieder und schaute ihn ergeben an.

„Eine von diesen nichtsnutzigen Krähen.” Torturiel schnippte mit den Fingern, ein rot blitzender Funke entlud sich, schlug einen Lichtbogen zu einer Fackel, die in einem Eisengestell in der Mitte des Zimmers klemmte. Das Pech entzündete sich sofort und ein rötlicher Schimmer breitete sich aus.

Crassia sah den Blick ihres Meisters auf sich ruhen. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als freundlich. Aber genau genommen, beruhigte sich die Krähe, war er das ja nie.

„Schau an.” Stechend wie Dolche war sein Blick, hart wie Metall seine Stimme. „Die Abtrünnige.”

Crassia stutzte. Was wollte Torturiel damit ausdrücken?

„Das kleine, dumme Vögelchen, das sich einfangen ließ wie eine Stubenfliege. In einen Käfig hast du dich sperren lassen. Eins von Torturiels Geschöpfen! Welche Schande!”

Da wurde Crassia klar, dass auch sie selbst unter Beobachtung gestanden hatte. Hatten etwa manche der Krähen die Aufgabe, den anderen nachzuspionieren?

Torturiel hat seine Augen überall …

Er hat mir misstraut, begriff Crassia.

„Was soll ich mit dir machen?”, sinnierte Torturiel und rieb sich mit dürren Fingern sein Kinnbärtchen. Crassias Gefieder überlief es kalt und ihr Herz klopfte schneller als eben beim Heimflug.

Dann traf Torturiel seine Entscheidung.

„Verschwinde! Von welchem Nutzen solltest du mir noch sein, nachdem du derartig versagt hast?” Er fegte Crassia mit einer Handbewegung von der Lehne, sodass sie auf dem Steingutboden aufprallte. Verdattert blinzelte Crassia zu ihrem Meister hinauf. Schmerz flammte in ihrem rechten Flügel auf, denn sie hatte ihre Schwingen aus einem Reflex heraus abgespreizt, um den Sturz abzumildern, doch das war ein Fehler gewesen. So hatte sie sich Elle und Schultergelenk gestaucht und die äußeren Schwungfedern waren zerknickt. Sie spürte Tränenflüssigkeit sich in ihren Augen sammeln und wusste nicht, ob dies vom Schmerz herrührte oder von der Enttäuschung. Vorsichtig faltete sie die Flügel zusammen, achtete dabei kaum auf die Verletzung. Sie versuchte eine Gedankenverbindung zu ihrem Gebieter herzustellen, wie stets, wenn es wichtige Informationen mitzuteilen galt. Doch Torturiels Geist verschloss sich. Crassia empfing nichts als Abweisung und Verachtung.

Sie fühlte die spöttischen Blicke der gefiederten Schwestern auf sich ruhen. Überall im Zimmer und in den Fenstern hockten sie und krächzten hämisch.

Der Zauberer in seinem Lehnstuhl hatte sich abgewendet. Die Krähe begriff. Torturiel hatte das Interesse an ihr verloren.

Crassia hüpfte zum Fenster, spreizte vorsichtig die Flügel und flatterte hinauf. Es tat weh. Sie drehte noch einmal den Kopf und schaute bekümmert zu dem Mann, den sie so sehr verehrte, und der sie soeben verstoßen hatte.

Draußen vor dem Fenster zogen Krähen ihre Kreise. „Seht nur! Dort ist die Krähe, die sich einfangen ließ!” Sie brachen in ohrenbetäubendes Geschnatter aus. Crassia kam es vor, als schrumpfte ihr Herz zur Größe eines Staubkorns.

„Die Krähe, die im Käfig saß!”, tönte es. „War es auch warm und gemütlich da drin?”

„Lasst mich in Frieden!”, zischte Crassia und schwang sich in die Luft, obwohl ihr Flügel weh tat. Schlimmer als der Schmerz war die Demütigung.

„Sie versucht zu fliegen wie wir!”, jauchzte eine Krähe. „Kannst du das denn überhaupt noch, hast du nicht alles verlernt bei deinem Aufenthalt im Knast?”

„Haltet die Schnäbel!” Crassia spürte Wut in sich hochsteigen. Sie begrüßte sie wie einen Freund und empfand Dankbarkeit, denn Wut war besser als Verzweiflung. „Ihr habt ja keine Ahnung! Ihr wisst gar nicht, was ich weiß!”

Die Umherschwärmenden meckerten gehässig. Deshalb spielte Crassia ihren größten Trumpf aus: „Ihr habt nicht mal Namen!”

Doch der Trumpf stach nicht. „Einen Namen!”, spöttelte es. „Wer braucht schon einen Namen?” – „Nur ungefiederte Zweibeiner vergeben Namen!” – „Krähen sind unabhängig!” – „Sie hat sich einem ungefiederten Zweibeiner angebiedert! Sie hat bestimmt ihr Köpfchen an seiner Hand gerieben und hat sich füttern lassen!”

 

„Hört auf!”

„Und dann hat sie um einen Namen gebettelt!” – „Ja, und dann hat sie einen Namen bekommen und hat dankbar gewinselt wie ein Schoßhündchen!”

Vielstimmiges Gelächter verwirrte Crassia die Sinne. Sie taumelte in der Luft hin und her. Krallen zwackten sie von links und rechts, von vorn und hinten, von unten und oben. „Nenn uns doch deinen Namen, deinen wundervollen Namen!” – „Sag schon, wie lautet er denn?” – „Liebling? Hansi? Schnucki?” – „Hihihi!” – „Hähähä!”

Nervenzerfetzendes Gelächter umtoste sie.

Crassia nahm ihre Kräfte zusammen, stieß sich mit den Flügeln ab, ignorierte den Schmerz, spürte den Luftwiderstand und bahnte sich ihren Weg durch die schwarze, flirrende Wolke aus Krähen, die nicht länger ihre Geschwister waren.

„Crassia!”, schrie Crassia und schoss geradewegs zur hell strahlenden Sonne empor.

Sie ließ ein Gewimmel von aufgebrachten Vögeln inmitten herrenlos trudelnder Federn mit dem nachhallenden Klang ihres Namens zurück.

Kapitel 2: Schlingschlamm

Quakarotti, der letzte Opernfrosch, hatte sich auf Patricks Kopf gerettet – die einzige feste Stelle inmitten des Sumpf- und Schlammgebietes. Patrick spürte faulige Feuchte am Kinn; Schlickwasser drängte sich durch seine Mundwinkel, floss über die Zunge und rann zum Magen hinab. Patrick wurde übel. Er spuckte aus und ruderte mit den Armen.

„Hilfe!”, gurgelte er. „Hallo! Ich ertrinke!”

„Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren …”, unterstützte ihn Quakarotti in F-Dur.

Patrick blickte wild um sich, sah aber nur Morast und Schlingpflanzen. Keine von diesen war erreichbar. Unerbittlich saugte ihn der Sumpf in sich hinein, versuchte ihn sich einzuverleiben – wie ein gieriges Wesen, das einen Leckerbissen am Wickel hat. Mit jeder Minute, die verstrich, sank er einen halben Zentimeter tiefer. Er konnte sich ausrechnen, wie lange es noch dauerte, bis er vollständig verschlungen sein würde.

Für Fernsehzuschauer waren solche Situationen entschieden unterhaltsamer.

Noch einmal nahm er alle Kraft zusammen und schrie: „Hilfe!!!”

Das war sein letzter Hilferuf gewesen, wusste Patrick. Der Schlammpegel hatte die Oberlippengrenze überstiegen. Von jetzt an musste er sich darauf beschränken, durch die Nase zu atmen, solange das noch möglich war. Er presste die Lippen aufeinander und konzentrierte sich aufs Luftholen. Quakarotti wechselte nach Moll und stimmte einen ergreifenden Trauergesang an.

Als er den Schlamm an seinen Nasenlöchern spürte, dachte sich Patrick: Na schön, das war’s dann also. Tränen stiegen ihm in die Augen. Eine Mücke setzte sich auf seine Stirn und machte sich zum Zustechen bereit, aber Quakarotti schnappte sie sich zwischen zwei Takten. Patrick empfand Dankbarkeit für diesen letzten Freundschaftsdienst des kleinen Gefährten.

Er holte tief Luft, entschlossen, diesen Vorrat bis zum letzten Sauerstoffatom auszukosten, und schloss die Augen.

Endlose, quälende Sekunden verstrichen.

Und dann war es vorbei.

„Schlammbäder sollen ja sehr gesund sein, aber übertreibst du es nicht ein wenig?”

Hatte er wirklich eine Stimme gehört? Patrick wagte es nicht, sich zu bewegen. Vorsichtig hob er die Augenlider. Niemand zu sehen.

Doch dann merkte er, wie etwas an seinem Hemd zerrte. Unter seine Achsel schob sich behutsam etwas Hartes, Gebogenes. Dann gab es einen kleinen Ruck und Patrick wurde langsam schräg aufwärts gezogen. Schon waren Nase und Mund frei. Patrick sog gierig Luft ein. Der Große Modder leistete Widerstand und schien seinen Fang ungern wieder herzugeben, aber Stück für Stück gelangte Patrick an Luft und Freiheit zurück. Pschlapp!, reagierte der Große Modder beleidigt.

„Das hätten wir”, erklang eine zweite, tiefere Stimme, als Patrick keuchend auf zwar nicht trockenem, aber wohltuend festem Boden lag. Neben sich sah er zwei große fellbesetzte Lederstiefel.

Als sein Pulsschlag wieder einigermaßen normal war, ließ er seinen Blick von den Stiefeln über kräftige Beine in derben Stoffhosen und eine abgeschabte Lederweste zum Kopf seines Retters wandern. Er sah in ein nicht unfreundliches Gesicht mit gutmütig wirkenden Augen. Der Schädel war vollständig haarlos.

„Alles in Ordnung?”

Patrick nickte. „Alles -” Er unterbrach sich, würgte kurz und spuckte Schlammreste aus. „Alles in Ordnung.”

„Gut.” Der Mann streckte die Hand aus und half Patrick auf die Beine. Die Knie wackelten ihm ein bisschen, aber verletzt fühlte er sich nicht. Der Mann überragte ihn um zwei Köpfe, er war stämmig und breitschultrig. Seine Hand umfasste einen langen Stab, der am oberen Ende in einen geschwungenen Haken auslief – damit musste er Patrick aus dem Morast gezogen haben.

„Danke”, sagte Patrick. Er kam sich töricht vor, weil mehr ihm nicht einfiel, doch der Mann winkte nur ab.

„Nichts zu danken. Du hättest für mich das Gleiche getan.”

Patrick widersprach nicht, aber insgeheim fragte er sich, ob es ihm gelungen wäre, einen solchen Brocken aus dem Sumpf zu hieven.

„Ich heiße Pek”, stellte sich der Mann vor. „Was hast du hier im Großen Modder verloren?”

„Vielleicht fischt er gerne im Trüben”, kicherte jemand. Patrick wandte sich um und erblickte einen zweiten Kahlköpfigen, ebenso wie der erste in Fell und Leder gekleidet. Dieser war dünner und hatte ein schelmisches Grinsen aufgesetzt. Seine Stimme klang scheppernd, als ob ständig ein Gekicher unter der Oberfläche köchelte.

„Ich habe auf jemanden gewartet”, sagte Patrick.

„Dafür gibt es hübschere Orte.”

„Das konnte ich mir leider nicht aussuchen.”

„Gehört das dir?” Der Stämmige hielt Patrick ein ramponiertes Objekt vor die Nase.

„Mein Plauderbalg!” Patrick nahm ihn dankbar entgegen. Wenigstens etwas, das ihn an die verlorenen Gefährten erinnerte.

Der Dünne sagte: „Wir haben ihn dort gefunden, wo das Sumpfgebiet beginnt. Daraufhin dachten wir uns, wir sollten mal nachschauen, ob der Eigentümer nicht im Sumpf oder in Schwierigkeiten oder in beidem steckt.” Er kicherte wieder.

„Gak ist ein Witzbold”, erklärte Pek. Dann ließ er seinen Blick über den Morast gleiten und runzelte die Stirn. „Wir sollten jetzt von hier abhauen.”

Patrick wandte ein: „Ich kann nicht weg! Ich muss hier warten!”

Gak grinste. „Auf die da?” Er deutete nach unten, wo ungefähr ein Dutzend Schlickschlangen aus dem Schlamm krochen und sich auf Patricks Füße zuringelten.

Patrick sprang entsetzt beiseite. „Beißen die?”

„Nur wenn sie Hunger haben.”

„Wann haben sie Hunger?”

„Immer.”

Patrick begann Gaks Humor zu hassen. Er rettete sich aus der Reichweite der Reptile und forderte Pek auf: „Worauf warten wir noch? Nichts wie weg hier!”

Kapitel 3: Ganggegrummel

Minimister Obeidian besichtigte die neuesten Schäden. Er hielt dies für seine Pflicht, wenngleich Derartiges genau genommen nicht in seinen Geschäftsbereich fiel. Doch solange der König bettlägerig war, wollte er wenigstens irgendetwas Nützliches tun, und so kraxelte er auf den Überresten des Osthanges herum, seine Amtsrobe mit der Hand etwas hochraffend, um nicht zu stolpern. Wieder und wieder schüttelte er den Kopf und schnalzte bedauernd mit der Zungenspitze. Der letzte Angriff des Riesen hatte nicht nur den Speisesaal und dessen Dach demoliert. Auch an den Berghängen rings um den Palast hatte die Riesenhand mehrmals herzhaft zugegriffen. Die ausgehobene Erde hatte sie achtlos über die benachbarten Ansiedlungen geschleudert; zahlreiche Häuser und Gehöfte waren verschüttet.

Besonders tiefe Erdlöcher klafften hier an der Ostseite. Obeidian runzelte die Stirn. Es sah schlimmer aus, als er befürchtet hatte. Wenn das so weiterging mit diesen Riesenangriffen, dann …

Ein grummelndes Geräusch irritierte ihn.

Er wandte sich zu den drei Zwergen der Palastwache um, die ihn begleiteten. „Was war das?”

Die drei zuckten die Achseln.

Obeidian suchte mit den Augen die ausgedehnte Grube ab, die in den Berg gekerbt worden war. Überall ragten Wurzeln aus den Wänden und schroffe Felsspitzen waren freigelegt. Obeidian sah noch genauer hin. Zwischen den Felsbrocken, die in der Grubenwand steckten, waren Öffnungen.

Sand rieselte.

Das grummelnde Geräusch erklang erneut.

Obeidian zückte sein Tuch. Er hob es zur Stirn, doch dann hielt er inne. Was wäre, so kam es ihm in den Sinn, was wäre, wenn diese Öffnungen nicht nur kurze Einschnitte in den Berg wären, sondern sich zu weiteren Hohlräumen fortsetzten? Was wäre, wenn dies Eingänge wären zu -

Obeidian wurde schwindlig. Er steckte das Tuch unbenutzt in die Tasche zurück und lehnte sich gegen einen Felsbrocken. Geröll klockerte unter seinen Sohlen talwärts.

Ihm wurde klar: Er musste sich der Wahrheit stellen. Eingänge war das falsche Wort.

Wenn er mit seinen Befürchtungen recht hatte, dann handelte es sich um Ausgänge.

Kapitel 4: Morastsumpf

Prinz Nanobert kämpfte sich durch das wilde Gewirr von Moorgewächsen und Schlingpflanzen, auf der Suche nach seiner Schwester, die der Vulkandrache entführt hatte. Stechmücken fügten ihm tückische Stiche zu. Immer wieder schossen Schlickschlangen aus dem Morast und attackierten ihn mit ihren Giftzähnen. Wie Pfeile, von Unterwasserschützen abgefeuert, stachen sie hervor, und Nanobert hatte alle Mühe, sie mit seinem Kurzschwert abzuwehren.

Er schwitzte. Die Luft war feucht und heiß.

Wohin weiter? Nanobert sah vor sich nichts als dichten Dschungel. Die Bäume wurzelten im Sumpfgrund und erstreckten sich hoch bis zum Himmel, und sie standen jetzt so eng, dass er sich mit seinem Schwert kaum noch durchschlagen konnte.

Eine braungrüne Wand aus Holz und Blattwerk stand vor ihm.

Er fühlte seine Kräfte schwinden. Die Waldwand sah verteufelt undurchdringlich aus.

„Milliane!”, heulte Nanobert auf. „Konntest du dir nicht einen zugänglicheren Unterschlupf aussuchen?”

Keinerlei Echo. Der Sumpfdschungel schluckte jeden Hall.

Er bahnte sich weiter den Weg durch die Baumbestände und schimpfte bei jedem Schwerthieb: „Schwestern! Schwestern! Niemals sollte man sich mit Schwestern einlassen!”

Die Flüche erleichterten ihm seine Arbeit ein wenig, doch schon bald ließen seine Kräfte wieder nach. Nanobert fragte sich, wie man es nur schaffen sollte, in diesen Dschungel einzudringen. Wo war dieses dreimalverfluchte Drachennest?

Und während er mit seinem Kurzschwert gegen den grünen Feind weiterfocht, kam ihm die Erkenntnis: Natürlich! Nur durch die Luft kann das gelingen! Drachen können fliegen, aber ich zu Fuß habe keine Chance!

Er ließ sein Schwert sinken und setzte sich auf eine Baumwurzel. Seine Füße staken bis zu den Knöcheln im Sumpf. Da! Eine Schlickschlange zuckte heran und schnappte nach seinem Bein! Nanobert reagierte sofort und klatschte sie mit der flachen Schwertklinge beiseite. Das Reptil grub sich zurück in den Morast.

Das konnte nicht mehr lange so weitergehen.

Nanobert wischte sich den Schweiß von der Stirn und suchte eine Stelle, an der die Pflanzen nicht ganz so dicht beisammen wuchsen. Dann atmete er tief ein, straffte die Schultern und schlug sich den Weg frei.

Kapitel 5: Boldbehausungen

Der stämmige Pek schritt voran, der dünne Gak bildete die Nachhut. Patrick ging zwischen den beiden, den Plauderbalg umgehängt. Quakarotti lugte aus seiner Hemdtasche.

„Wohin gehen wir?”

„In unser Lager”, antwortete Pek.

Eine Zeitlang herrschte Schweigen, dann erkundigte sich Patrick: „Gehört ihr zu den Grenzwachen?”

Pek lachte rau. „Sehen wir aus wie Zwerge?”

Das gab Patrick zu denken. Nein, Zwerge waren kleiner und hatten Haare auf dem Kopf. Und die Bekleidung dieser Gesellen wirkte derber, als seien sie an ein Leben in der freien Natur gewöhnt.

„Wir sind Bolde”, sagte Pek und riss Patrick damit aus seinen Gedanken. „Wir haben mit Zwergen nichts zu tun. Und wir wollen auch gar nichts mit ihnen zu tun haben.”

 

„Zwerge sind unter unserem Niveau”, bemerkte Gak grinsend.

Patrick überlegte, dann meinte er: „Ich dachte, Zwergonien ist das Land der Zwerge.”

Pek schnaubte auf. „Das denken die Zwerge auch. Die haben keine Ahnung, wer noch alles in ihrem Land lebt. Sie möchten gern glauben, dass sie die Einzigen sind. Aber die anderen Völker sind immer noch da, sie haben sich nur zurückgezogen. Wir Bolde lassen die Zwerge in Ruhe und hoffen, dass sie uns in Ruhe lassen.”

Patrick dachte darüber nach, während sie über steinige Wege liefen. Es war nicht die Richtung, aus der er mit Nanobert aus dem Vulkangebiet gekommen war. Mehr und mehr säumten Graspflanzen den Weg, bald sprossen Sträucher, und nach einer Stunde sah sich Patrick von Büschen und Bäumen umgeben. Immer tiefer gerieten sie in dichten Wald. Als die Abenddämmerung hereinbrach, begann sich Patrick zu fragen, warum er diesen Fremden so bereitwillig in ihr Lager folgte. Schön, sie hatten ihn aus dem Sumpf gerettet, aber war das ein Grund, ihnen zu vertrauen? Wie konnte er sicher sein, ob sie nicht Übles mit ihm vorhatten? Wer sagte denn, dass es dieses Lager überhaupt gab! Vielleicht brachten sie ihn nur irgendwohin, wo sie in aller Ruhe mit ihm Sachen anstellen konnten wie neulich die menschenfressenden Saturn-Dämonen auf Kanal 16, wonach Patrick stundenlang nicht einschlafen konnte, weil er immerzu daran denken musste, wie diese Dämonen -

„Da ist unser Lager”, sagte Pek.

Patrick blinzelte und versuchte in die Wirklichkeit zurückzufinden. Vor ihm lag eine Lichtung, in deren Zentrum ein großes Feuer loderte. Mehrere kahlköpfige Gestalten hockten drum herum und rösteten an langen Spießen irgendwelche Nahrungsmittel. Kaum einer würdigte die Neuankömmlinge eines Blickes. Vereinzelte Bäume wuchsen hier; einige sahen aus, als hätte ihnen ein übermütiger Schneider großzügig geschnittene Gewänder angepasst. Vom Boden aufwärts schwangen sich Stoffbahnen und oben ragten die Baumkronen wie aus Kragen heraus.

„Habt ihr diese Bäume verhüllt?”

„Ja”, erwiderte Pek.

„Sollen das … sollen das Kunstwerke sein?”

„Nein. So wohnen wir. Komm, ich bringe dich zu unserem Anführer. Er hat sein Quartier dort, um die große Eiche.”

Patrick folgte Pek auf den knorrigen Baum zu, der die ausladendste Stoffumhüllung von allen besaß, mit einer Markise über dem Eingang. Durch Nähte und Ritzen drang flackerndes Licht.

Es sind Zelte, kam es Patrick in den Sinn. Sie bauen Zelte um Bäume herum!

„Warte hier.” Pek ließ Patrick stehen, schlug eine Stoffbahn beiseite und verschwand im Innern des Baumkleides. Gleich darauf drangen gedämpfte Stimmen heraus. Patrick bemühte sich, etwas zu verstehen, doch es war zu leise …

„He! Was machst du denn da?”

Patrick fuhr herum. Ein grobschlächtiger Bold ragte vor ihm auf.

„Äh, ich, äh …”

„Du lügst!”, donnerte der Bold. „Dafür kriegst du jetzt die Fresse poliert!”

Der Grobian hob eine beunruhigend große Faust. Patricks Kehle wurde trocken. Er sah die Faust über sich, die ihn gleich zerschmettern würde und duckte sich, umklammerte seinen Kopf mit den Händen.

Einige Sekunden lang wartete er auf den vernichtenden Hieb.

„Hör auf, Rok, der Kleine hat schon genug durchgemacht.”

Das war Gaks Stimme. Patrick wagte einen Seitenblick – tatsächlich, da stand der dünne Bold und lächelte.

„Lass mich in Ruhe meine Arbeit machen!” Rok holte noch höher mit seiner Faust aus, hob sie über seinen Kopf.

„Pass auf, dass dir deine eigene Pranke nicht auf den hohlen Schädel fällt! Das Echo wäre eine unzumutbare Lärmbelästigung.”

„Halt’s Maul, Gak! Ich hab’ deine dummen Sprüche satt!” Rok drehte sich zu Gak, der ein paar tänzelnde Seitwärtsschritte machte. Patrick gewann den Eindruck, dass Gak den Hünen ablenken wollte.

„Zeig doch mal, ob du dich auch an erwachsene Gegner rantraust!” Gak fand offensichtlich ein diebisches Vergnügen daran, Rok weiter zu reizen. Der grobschlächtige Bold schnaufte vor Wut und stapfte auf Gak zu. Ein kraftvoller Schlag mit seiner geballten Rechten – doch der Dünne war flink ausgewichen und Roks Faust krachte in einen Buchenstamm. Rindensplitter spritzten. Rok brüllte vor Schmerz auf.

Gak stand etwas abseits und schüttelte mit gespieltem Mitleid den Kopf. „Wieder etwas gelernt: Greife niemals einen Gegner an, der vor einem Baumstamm steht.”

„Maul halten! Hilf mir hier raus!”

Patrick erkannte, dass der wütende Bold mit seiner Faust im Baum feststeckte; sein Unterarm war tief ins Holz eingedrungen. Was für eine Kraft musste dieser Kerl haben!

„Später vielleicht”, sagte Gak. „Es tut dir sicherlich ganz gut, eine Weile über dein Fehlverhalten nachzudenken. Und wenn du damit fertig bist, dann über dein Leben, das Leben an sich, die Welt und das Weltall und den Sinn von alledem. Ich wünsche dir recht viel Freude und Erbauung.”

Damit wandte sich Gak ab, gesellte sich zu den Bolden am Lagerfeuer und ließ Patrick mit Rok allein.

Die Buche wirkte stark und fest. Eine grüne Schlingpflanze rankte sich um den Stamm, um Zweige, durch Astgabeln. Der feststeckende Bold tat Patrick fast leid. Rok atmete schwer und warf ihm böse Blicke zu.

„Ich bin nicht schuld daran”, sagte Patrick schließlich.

Rok knurrte. Es klang wie Löwengrollen.

„Du hast mich angegriffen. Das hast du nun davon.”

Rok knirschte mit den Zähnen. Es klang wie Mühlsteine.

„Warum wolltest du mich verprügeln?”

Rok schnaubte auf. Es klang wie eine Dampflokomotive. „Ist nun mal das Einzige, was ich kann”, stieß er hervor. „Ich bin ein Raufbold!” Er arbeitete verbissen daran, freizukommen, stemmte sich gegen den Stamm. Seine Knochen knackten.

Patrick näherte sich vorsichtig dem lahmgelegten Koloss. Dessen Wut und Unvorsicht hatten ihn in diese Lage gebracht. Und jetzt steckte Rok in diesem Baum fest wie Patrick vor kurzem im Sumpf.

Aber ihm hatte dort jemand herausgeholfen.

„Wie kann ich dir helfen?”, hörte Patrick sich fragen, noch ehe er die Folgen durchdacht hatte.

„Woher soll ich das wissen?” Roks Stimme klang schwächer. „Aber egal, was du tust, tu es schnell. Mein Arm wird langsam gefühllos.”

Patrick wusste nicht recht, wieso er sich verantwortlich fühlte für diesen groben Burschen, doch er hatte das unbestimmte Gefühl, dass er ihm helfen sollte.

Und auf einmal fiel ihm seine Schwester Jessika ein. „Wenn ich nicht weiter weiß, spreche ich mit den Bäumen”, hatte sie zu ihm gesagt. „Bäume wissen alles, weil sie so alt sind. Bäume sind die besten Lehrer, die man sich wünschen kann.”

Ohne genau zu wissen, was er da tat, begann Patrick zu dem Baum zu sprechen.

Und der Baum antwortete ihm.

Patrick war überrascht, denn das hatte er nicht erwartet. Doch nach einer Schrecksekunde setzte er den Dialog fort. Es war ein Gespräch ohne Worte, nur Gedanken wurden ausgetauscht.

Ich bin Patrick.

Ich bin Ervaliac.

Das verstehe ich nicht. Du bist ein Baum.

Ervaliac ist mein Name. Glaubst du, nur ihr Beweglichen besitzt Namen?

Schwingungen. Patrick spürte Schwingungen in seinem Gehirn, die von dem Wesen ausgesandt wurden, das ein Baum war und behauptete, den Namen Ervaliac zu tragen. Die Schwingungen waren fremdartig aber angenehm. Ein warmes Gefühl durchströmte Patrick, als er die Äußerungen der Buche empfing.

Du tust mir gut, gab er ihr zu verstehen.

Das freut mich.

Freude durchdrang auch Patrick; er fühlte sich selbst wie ein Baum im Wind, dessen Zweige sich genießerisch bogen, dessen Blätter vom Luftstrom gestreichelt wurden.

Was möchtest du von mir, Beweglicher?

Bitte gib den Arm frei, den du umklammert hältst.

Der Baum schwieg. Patrick lauschte dem Rauschen der Saftströme, die von den Wurzeln zu den Wipfeln emporstiegen.

Ich fühle mich verwundet, entgegnete schließlich der Baum. Das, was du einen Arm nennst, empfinde ich als einen Bolzen, der meine Haut durchdrang und mein Fleisch durchbohrt – ich versuche in Begriffen zu sprechen, die du verstehen kannst.

Danke.

Bitte.

Wie kann ich dir helfen, Ervaliac?

Es tut mir gut, wenn du meinen Namen sagst.

Wirst du tun, worum ich dich bitte?

Der Baum zögerte. Ich fürchte, es wird mir zusätzlichen Schmerz bereiten, wenn ich die Wunde weiter öffne. Dazu muss ich meine Fasern strecken, mein Holz dehnen und meine Borke spreizen. Wir Unbeweglichen tun solche Dinge nur ungern, wenn es sich in kurzen Zeitspannen abspielen muss.

Rok ächzte. „Was stehst du da untätig rum? Tu endlich was!” Der Blick, den Patrick von ihm auffing, hätte nicht finsterer sein können.

Ist das Wesen, dessen Faust in mir steckt, dein Freund?, erkundigte sich der Baum.

Das nicht. Er wollte mich verprügeln.

Und dennoch bittest du für ihn. Das beeindruckt mich. Du scheinst mir ein gutes, großzügiges Wesen zu sein, Beweglicher Patrick.

Patrick erschien das Lob unverdient. Ich bin nichts Besonderes, gab er Ervaliac zu verstehen – da bemerkte er, dass den Baum ein Zittern durchlief. Holz knarrte, Rinde knackte. Fasziniert beobachtete Patrick, wie der Baum Regungen vollführte, für die er normalerweise Jahrzehnte gebraucht hätte.

Und der Baum gab die umfangene Faust frei.

Rok wirkte verblüfft, doch gleich darauf riss er seinen Arm aus dem Baum heraus – so heftig, dass Rindensplitter in alle Richtungen spreißelten.

Patrick empfing ein Aufstöhnen des Baumes.

„Wenn ich dich das nächste Mal erwische, kommst du mir nicht so einfach davon!”

Der Raufbold spuckte aus, rieb sich den Arm und verzog sich in die Schatten des Waldes. Patrick sah ihm nachdenklich hinterher, froh, dass die Begegnung vorüber war.

Er hat sich nicht bei uns bedankt, sagte Ervaliac. Bekümmerung schwang als Unterton mit.

Nein, meinte Patrick, nach Dank klang es nicht gerade.

Sein Blick fiel auf das Loch, das in Ervaliacs Stamm klaffte.

Wird deine Wunde wieder heilen?

Sicher. Im Laufe der Zeit.

Wie lange wird es dauern?

Ich weiß es nicht. Viele jetzt noch unentsprossene Unbewegliche werden wohl heranwachsen und in voller Blüte stehen, bis es so weit ist. Aber ich vertraue auf Yakayala.