Kitabı oku: «Die Blaue Revolution», sayfa 2
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Eine Nation – eine Demokratie
Der Saal im ehrwürdigen «Kaufleuten» in Zürich kocht. Seit rund zwei Stunden fegt das internationale Ensemble von Incognito an einem Novemberabend 2019 über die Bühne. Das international gemischte Publikum tanzt ausgelassen zum Soul und Jazz der fast 20-köpfigen Band. Die Stimmung ist energiegeladen und entspannt zugleich. Bandleader Jean Paul «Bluey» Maunick strahlt ins Publikum und ruft zum Ende des Konzerts: «We are one nation, we are one family.» Das Publikum stampft, klatscht, jubelt.
Der in Mauritius geborene englische Musiker weiss, wovon er spricht. Schliesslich spielt er seit fast 40 Jahren rund um die Welt Konzerte. Dabei wollte «Bluey» Maunick aber nicht nur der musizierende Magier auf der Bühne sein, der die Leute zum Tanzen brachte: «Ich wollte, dass die Welt meine Band ist», sagt er. So waren bei Incognito seit Gründung der Band insgesamt über 1500 Musiker*innen und Sänger*innen dabei. «Blueys» Idee war es von Anfang an, «ein musikalisches Kollektiv» aus den unterschiedlichen Menschen aus ganz verschiedenen Ländern zu bilden.[1]
Also ist es für ihn nicht einfach eine Floskel, wenn er «We are one nation» so locker dahinsagt. Für Jean Paul «Bluey» Maunick ist es eine Lebenseinstellung. Für die meisten seiner Fans ist diese Aussage wohl eine Selbstverständlichkeit. Denn sie wissen: Wir Menschen haben alle die gleichen Wurzeln, wir alle haben das gleiche Blut in den Adern, wir alle haben grundsätzlich die gleichen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Egal, aus welchem Schweizer Kanton sie stammen, egal, in welchem Land sie aufgewachsen sind, egal, welche Hautfarbe sie haben, egal, ob sie sich als Frau, Mann oder Transmenschen bezeichnen, egal, ob sie an einen Gott glauben oder nicht: Alle zusammen bilden die Menschheit, sind eine Nation.
Darum geht es der Blauen Revolution: Die Spezies Mensch muss in der Entwicklung endlich einen Schritt weiterkommen. Wir müssen die Erkenntnis, dass wir uns von den Inuit in Kanada über die Einheimischen der Zentralschweiz bis zu den Maori auf Neuseeland alle so ähnlich sind, dass unsere Organe problemlos ausgetauscht werden können, endlich ernst nehmen. Und diese Erkenntnis in die reale Politik umsetzen. Genauso wenig, wie es jemanden in den Sinn kommen würde, die Menschen nach ihren verschiedenen Blutgruppen in «Rassen» einzuteilen, macht es Sinn, Menschen nach dem Ort ihrer Geburt oder der Farbe ihrer Haut zu schubladisieren.
Abgesehen davon, dass «Blueys» Wort der «one nation» also grundsätzlich Sinn macht, gibt es zu Beginn des dritten Jahrtausends mehrere Gründe, aus der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass alle Menschen gleich sind, die politischen Konsequenzen zu ziehen.
Neben älteren moralischen Appellen wie «Proletarier aller Länder vereinigt euch» aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von 1848[2] oder neueren Aufrufen wie jenem von Jean Ziegler – politisches Enfant terrible der Schweiz –, wonach «das tägliche Massaker des Hungers der absolute Skandal unserer Zeit» ist[3], ist es heute vor allem die Frage nach dem Überleben der menschlichen Zivilisation, die auf eine globale Antwort drängt. Dass durch die globale Klimaerwärmung das Überleben der zivilisierten Menschheit auf dem Spiel steht, ist heute weitgehend unbestritten. Natürlich gibt es Menschen, die das bestreiten. Mit diesen dürfen sich gerne jene auseinandersetzen, die auch mit Menschen diskutieren, die behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist.
«Unser Planet steht in Flammen», sagte UNO-Generalsekretär António Guterres in seiner Neujahrsbotschaft Anfang Januar 2020. Er sprach damit die Klimaerwärmung an, die sich damals mit gigantischen Waldbränden in Australien manifestierte. Seine Aussage war aber auch eine vieldeutige Metapher. So sprach Guterres ebenfalls davon, dass sich die Welt in Aufruhr befinde, und dass die geopolitischen Spannungen so stark seien wie noch nie im 21. Jahrhundert. Die Menschen seien zornig und verstört. So könne es nicht weitergehen, sagte er. Sein verzweifelter Aufschrei war auch das Eingeständnis der Ohnmacht der Vereinten Nationen und damit der gesamten Staatengemeinschaft.[4]
Die Metapher des UNO-Generalsekretärs orientierte sich dabei nicht zufällig an der Botschaft der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg, die diese knapp ein Jahr zuvor am World Economic Forum (WEF) in Davos an die führende Mangager-Guilde gerichtet hatte: «Das Haus brennt».[5]
Seit dem flammenden Appell Thunbergs an die selbsternannte Wirtschaftselite sind die Monate ins Land gegangen, ohne dass sich eine funktionstüchtige Feuerwehr formierte. Thunbergs Schulstreiks fürs Klima haben zwar Millionen von jungen Menschen motiviert, regelmässig für eine politische Lösung des Klimaproblems auf die Strasse zu gehen, doch ausser der öffentlichen Erkenntnis, ein gravierendes Problem zu haben, hat sich wenig verändert.
Immerhin haben zahlreiche Städte in der Schweiz, in Europa und rund um den Globus unterdessen den Klimanotstand ausgerufen. Und selbst das EU-Parlament schloss sich Ende November 2019 diesem Trend der Symbolpolitik an und verlangte von der EU-Kommission, dass die EU bis 2050 klimaneutral wird.[6]
Doch getan hat sich nichts: Trotz im Vorfeld wohlwollend formulierter Verlautbarungen ging die 25. UNO-Weltklimakonferenz in Madrid im Dezember 2019 ohne Fortschritte zu Ende. Das Plenum erinnerte die rund 200 Staaten bloss an ihre Zusage, im nächsten Jahr ihre Klimaschutzziele für 2030 möglichst zu verschärfen. Aktivist*innen waren zurecht empört, dass das Pariser Abkommen von 2015 weiterhin ein Papiertiger blieb: «Diese Klimaschutzkonferenz war ein Angriff auf das Herz des Pariser Abkommens. Sie verrät all jene Menschen, die weltweit längst unter den Folgen der Klimakrise leiden und nach schnellen Fortschritten rufen», sagte Greenpeace-Deutschland-Geschäftsführer Martin Kaiser. Für den WWF war die Konferenz «ein gruseliger Fehlstart in das für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens so entscheidende Jahr 2020». Auch für die internationale Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan war das Ergebnis «völlig inakzeptabel.»[7]
Dabei aber einfach mit dem Finger auf Staaten wie die USA oder Brasilien zu zeigen, die mit ihren reaktionären Präsidenten zweifellos zu den Bremsern einer nachhaltigen Klimapolitik gehören, wäre zu billig. Selbst die reiche Schweiz, die sich gerne als Klima-Musterschülerin verkauft, ist weit davon entfernt, die eigenen, für einen wirksamen Klimaschutz immer noch ungenügenden Ziele einzuhalten. Sie rutschte 2019 im internationalen Klima-Länderrating gegenüber dem Vorjahr gar um sieben Plätze ab und belegt nur noch Rang 16. Vor der Schweiz liegen nicht nur Länder wie Schweden oder Dänemark, sondern auch Marokko und Indien. Grund dafür ist die schwache Klimapolitik der Eidgenossenschaft. Obwohl der Schweizer Bundesrat im August 2019 das Netto-Null-Ziel bis 2050 ankündigte, fehlt es an einer verbindlichen Umsetzungsstrategie. Auch das Ziel, die Inlandsemissionen bis 2030 um 30 Prozent zu reduzieren, war bloss eine Absichtserklärung.[8]
Nicht nur Umweltorganisationen sind besorgt. Auch das World Economic Forum (WEF) hatte die Krise auf dem Radar. Eine Woche vor dem Jahrestreffen in Davos stellte das WEF Mitte Januar 2020 die wichtigsten Risiken der Zukunft vor. Der «Global Risk Report» zeichnet vor dem Hintergrund zunehmender politischer Spannungen, drohendem wirtschaftlichem Abschwung und Umweltrisiken ein düsteres Bild. Und das war noch bevor die Coronakrise überhaupt ein Thema war. Sorgen machen sich die Entscheidungsträger*innen aus Politik und Wirtschaft insbesondere wegen extremer Wetterereignisse, dem Verlust von Biodiversität und der von Menschen verursachten Umweltkatastrophen. Der Risikoreport folgert, dass wegen des Klimawandels die Migration zunehmen wird und sich die geopolitischen Spannungen weiter verschärfen werden. Neben der Klimakrise wird auch der Verlust der Biodiversität, die so schnell schwindet wie noch nie in der Geschichte der Menschheit, als grosses Risiko für die künftige Entwicklung bezeichnet.
Für den «Global Risk Report» wurden rund 750 Personen befragt, darunter auch sogenannte «Global Shapers», Menschen ab Jahrgang 1980. Diese sorgen sich noch stärker um die Umwelt. Sie sehen im Klimawandel nicht nur langfristige Risiken, sondern gehen vielmehr davon aus, dass bereits ab 2020 Umweltkatastrophen wie extreme Hitzewellen oder unkontrollierbare Waldbrände ansteigen werden.[9] Angesichts der massiven Brände im Amazonasgebiet und in Australien im Jahr 2019 ist das keine allzu gewagte Prognose.
Zu diesen Erkenntnissen passte, dass sich kurz vor dem WEF auch der Schweizer Tennisspieler Roger Federer aus der Deckung wagte und zum Klimanotstand ein klares Statement abgab. Federer war von der Klimajugend mit dem Hashtag #rogerwakeupnow aufgefordert worden, sich gegen die Politik einer seiner wichtigsten Sponsoren auszusprechen.
Ende November 2018 hatten zwölf Aktivist*innen auf die umweltschädliche Investitionspolitik der Schweizer Grossbank Credit Suisse (CS) aufmerksam gemacht, als sie in Vorraum einer Bankfiliale als Sportler verkleidet Tennis spielten. Für diese Aktion des zivilen Ungehorsams wurden sie von der Staatsanwaltschaft wegen Hausfriedensbruchs angeklagt, Mitte Januar 2020 in erster Instanz von einem Bezirksrichter aber überraschend freigesprochen. Der bürgerliche Einzelrichter attestierte den Demonstrierenden, angesichts eines realen Notstandes gehandelt zu haben. Dafür dürfte nicht zuletzt Roger Federer mitverantwortlich gewesen sein. Denn der Richter geisselte nicht nur die ineffiziente Politik, er wies auch explizit darauf hin, dass Federer am Wochenende zuvor auf die Forderungen der Aktivist*innen reagiert hatte.[10] Dieses juristische Wunder hielt allerdings nicht lange. Mitte September hob das Waadtländer Kantonsgericht die Freisprüche auf und verurteilte die Aktivist*innen zu Bussen um 200 Franken und zur Übernahme der Gerichtskosten.[11]
Dass Weltstar Federer Stellung nahm, ist auch Greta Thunberg zu verdanken, die seine Zusammenarbeit mit der CS auf Twitter thematisierte. Federer reagierte schliesslich mit einem klaren Statement: «Ich nehme die Auswirkungen und die Bedrohung durch den Klimawandel sehr ernst, zumal meine Familie und ich inmitten der Zerstörung durch die Buschbrände in Australien ankommen», schrieb er, als er gerade zum Australian Open unterwegs war. Als Vater von vier Kindern und leidenschaftlicher Befürworter der universellen Bildung habe er grossen Respekt und Bewunderung für die Jugendklimabewegung. «Ich bin den jungen Klimaaktivisten dankbar, dass sie uns alle dazu zwingen, unser Verhalten zu überprüfen und nach innovativen Lösungen zu suchen. Wir sind es ihnen und uns selbst schuldig, zuzuhören.» Er sei sich seiner Verantwortung als Privatperson, als Athlet und als Unternehmer «sehr bewusst». Er «möchte diese privilegierte Position für den Dialog in diesen wichtigen Fragen mit meinen Sponsoren nutzen», schrieb Roger Federer.[12]
Wie ernst es um den ökologischen Zustand der Welt tatsächlich steht, wissen nicht nur Federer oder die Autor*innen des «Global Risk Report». Ein Beispiel aus Zentralafrika schildert die Geografin und Umweltaktivistin Hindou Dumarou Ibrahim im Vorwort zu Carola Racketes Buch «Handeln statt hoffen»: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Durchschnittstemperatur im Tschad um mehr als 1,5 Grad Celsius angestiegen. Was auch für die meisten Länder Afrikas gelte. «Unsere Bäume brennen. Unsere Wasservorkommen versiegen. Unsere fruchtbaren Äcker verwandeln sich in Wüste.»
Als indigene Frau lebt und arbeitet Hindou Dumarou Ibrahim mit ihrer Gemeinschaft im Einklang mit der Natur. Die Jahreszeiten, die Sonne, den Wind und die Wolken sehen sie als Verbündete. «Inzwischen sind sie zu Feinden geworden.» Als Beispiel der verheerenden Veränderung erwähnt die Koordinatorin der Organisation «Femmes Peuples Autochones du Tchad» den Tschadsee, der früher einer der fünf grossen Süsswasserspeicher Afrikas war. «Als ich vor gut 30 Jahren geboren wurde, hatte der See eine Fläche von 10 000 Quadratkilometern. Heute sind es noch 1250.» Allein in ihrer Lebenszeit verschwanden also fast 90 Prozent des Sees.[13] Zum Vergleich: Der grösste See der Schweiz, der Bodensee, hat eine Fläche von rund 530 Quadratkilometern. Der Tschadsee schrumpfte also um eine Fläche, die 16 Mal so gross ist wie der Bodensee.
Während sich die Klimaerwärmung seit Jahren bereits deutlich manifestiert, kommt die Erkenntnis, dass wir das herrschende System grundlegend verändern müssen, erst langsam in der Mitte der Gesellschaft an. Obwohl der damalige Präsident der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, Joël Mesot, Ende 2019 nicht glaubte, «dass alles realistisch ist», was die Klima-Aktivist*innen auf der Strasse forderten, fand er Greta Thunbergs Engagement immerhin «hoch interessant». Die ETH wolle zwar Technologien anbieten, um den Klimawandel zu bekämpfen. «Aber Technologie allein genügt nicht. Es braucht auch Veränderungen in der Gesellschaft und den Willen aller Staaten, am gleichen Strick zu ziehen», sagte Mesot.[14]
In welche Richtung die Veränderungen der Gesellschaft und insbesondere das Wirtschaftssystem gehen müssen, formuliert die ehemalige Basler Ständerätin Anita Fetz. In ihrem Essay mit dem Titel «Kann die Demokratie den Kapitalismus zivilisieren?» schreibt Fetz, dass die modernen bürgerlichen Demokratien «nicht nur aus dem Prinzip des one woman one vote» bestehen, sondern «ganz entscheidend auch im Selbstverständnis, dass alle Menschen gleich viel wert sind und dass der Rechtsstaat die Minderheiten schützt». Die Sozialdemokratin windet der Schweizer Demokratie ein Kränzchen: «Kaum ein Land hat eine so weitgehende direkte Demokratie auf allen Staatsebenen verwirklicht wie die Schweiz. Wir können mitbestimmen von der Gestaltung des Dorfplatzes bis zur ökologischen und sozialen Verantwortung der Konzerne, die ihren Hauptsitz in der Schweiz haben.»
Fetz plädiert als fortschrittlich denkende Politikerin und Unternehmerin für eine ökosoziale Marktwirtschaft, um «das Verhältnis von Mensch und Wirtschaft wieder vom Kopf auf die Füsse» zu stellen. Die Wirtschaft sei für die Menschen da und nicht umgekehrt. Dafür brauche es nicht nur eine geschlossene Kreislaufwirtschaft, in der die Ressourcen konsequent wiederverwendet werden, sondern auch alternative Arbeitsformen und die Ausdehnung der Demokratie. Das heisst neben der verstärkten «Partizipation für die Mitarbeitenden» in den Unternehmen auch daran zu denken, dass «die nicht vermehrbare Natur wie Wasser und Boden allen gehören.» Anita Fetz fordert nicht nur deren «Vergemeinschaftung», sie blickt auch über die Grenzen: «Für eine starke Demokratie ist das Schweizer Modell der direkten Demokratie eine gute Ausgangslage.» Und mit Blick auf das weltweite Engagement der Jugend gegen den Klimawandel zeigt sie sich optimistisch. Die Jugendlichen seien einerseits «digital global vernetzt», gleichzeitig aber auch «analog vor Ort sichtbar in ihren Städten.» Fetz ist überzeugt, dass die Klimajugend die Zukunft verändert.[15]
Weil ihr die vielen Jahre als linke Politikerin in bürgerlich dominierten Parlamenten den Hang zum Träumen offenbar ausgetrieben hatten, spinnt sie den Faden nicht weiter. Sonst wäre sie zwangsläufig bei einer globalen, direkten Demokratie gelandet, deren Wirtschaftssystem sich auf eine ökosoziale Kreislaufwirtschaft stützt und als eine wesentliche Bedingung dafür den Grund und Boden sowie das Wasser vergesellschaftet hat.
Jugendliche Klima-Aktivist*innen argumentieren ähnlich wie die erfahrene Feministin Fetz. So schreibt beispielsweise Nadia Kuhn, dass der Kampf gegen den Klimawandel «Hand in Hand» gehen müsse «mit dem Kampf für mehr Demokratie und mehr Gerechtigkeit in allen Lebensbereichen.» Technokratische Scheinlösungen reichten nicht aus, um die drohende Umweltkatastrophe aufzuhalten, schreibt die Co-Präsidentin der Jungsozialist*innen des Kantons Zürich.[16] Und ihr Kollege Luzian Franzini, Co-Präsident der Jungen Grünen Schweiz, weist darauf hin, dass die Schweiz nicht nur in Sachen Demokratie etwas zu bieten hat, sondern auch eine besondere Verantwortung trägt: «Aus internationaler Perspektive ist die Schweiz als reichstes Land der Welt prädestiniert dafür, eine globale Führungsrolle im Kampf gegen die Klimakrise wahrzunehmen.» Für ihn ist klar, dass die Klimabewegung Geschichte schreibt. Der Kampf gegen die Klimaerwärmung sei die Chance, «die grundlegenden Machtstrukturen zu verändern und eine Welt zu gestalten, welche allen ein würdiges Leben garantiert – auch den künftigen Generationen.»[17]
Noch konkreter wird die Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Carola Rackete, als sie eine Regierung fordert, die «auf allen Ebenen viel mehr Demokratie zulässt. Wir brauchen echte Demokratie in der Wirtschaft, in der Politik und in der Gesellschaft.»[18] Gleichzeitig müssten wir aber ebenfalls «den Überkonsum beenden und der globalen Ungerechtigkeit und dem Verfall der Menschenrechte etwas entgegensetzen», verlangt sie. So wie sie im Juni 2019 als Kapitänin der Sea-Watch 3 nicht ewig warten konnte, bis sie die geflüchteten Menschen an Bord in Italien in Sicherheit brachte, so könne auch die Menschheit nicht darauf warten, «dass sich die Staaten selbst verpflichten.»[19]
Carola Rackete will mehr Demokratie, viel mehr Demokratie. Zu Recht. Obwohl nach dem Ende der Sowjetunion Ende der 1980er-Jahre von den Siegern des Kalten Krieges ein neues Zeitalter der Demokratie ausgerufen wurde, hat der Begriff im 21. Jahrhundert für viele Menschen den guten Ruf verloren. Zu viele wurden enttäuscht. Zu viele Zivilist*innen und Soldat*innen starben im Namen der «Demokratie» auf den Schlachtfeldern des Mittleren Ostens. Zu viele Menschen wurden in den demokratischen Staaten der EU oder in den USA wirtschaftlich abgehängt, damit deren Regierungen die Reichen noch reicher machen konnten.
Es ist insofern keine grosse Überraschung, dass Wendy Brown, Professorin für politische Theorie an der Universität Berkeley, konstatiert: «Die Demokratie, die wir einst hatten, ist tot.» Weil die Neoliberalen die Demokratie als störend empfinden, sollte sie «auf ein Kreuzchen auf einem Wahlzettel» reduziert werden, schimpft sie. Doch die linke amerikanische Intellektuelle belässt es nicht dabei, sich zu beklagen. Obwohl die Demokratie in einer globalisierten Welt nicht mehr wie früher funktionieren könne, sei das auf einer lokalen oder regionalen Ebene noch möglich. Gefragt, ob die direkte Demokratie der Schweiz «ein Rezept für die Welt» wäre, setzt die Aktivistin für Frauenrechte zu einem Loblied an: «Das wäre phänomenal», sagt sie. Die Schweiz habe eine direkte Demokratie, die «an öffentliche Interessen und das Gemeinwohl glaubt. Eine Demokratie, die die Debatten öffentlich austrägt.» Dass die Ergebnisse der Abstimmungen nicht alle glücklich machten, sei halt Demokratie. «Ja, die Welt wäre in einem guten Zustand, wenn sie verschweizern würde», sagt Wendy Brown.[20]
Damit nimmt die kalifornische Professorin den Begriff von Friedrich Dürrenmatt auf. Wendy Browns Votum wird in progressiven Kreisen in der Eidgenossenschaft nicht besonders geschätzt, leidet doch die Linke in diesem kleinen, reichen Land daran, praktisch immer in der Minderheit zu sein. Während sich Schweizer Grossbanken und multinationale Konzerne, die aus Steuergründen ihren Sitz in der Schweiz haben, mit der Unterstützung des Bürgertums am Elend der Welt bereichern.
Denn die Schweiz hat nicht nur ein ausgeklügeltes politisches System, das der erwachsenen Bevölkerung mit Schweizer Pass weitgehende Mitsprachemöglichkeiten einräumt. Die Schweiz ist auch ein Land, das von der weltweiten Ausbeutung profitiert. Natürlich ist sie damit nicht allein. Sie profitiert im Verbund mit den anderen Staaten des globalen Nordens, die der Welt die Handelsbedingungen diktieren. Der ehemalige Berner SP-Nationalrat Rudolf Strahm beschreibt die Verhältnisse so: «Die in den internationalen Handelsabkommen und der WTO (Word Trade Organization) festgeschriebene Freihandelsdoktrin hat stets soziale Fragen ignoriert, etwa Kinderarbeit und Lohndumping. Ökologische Kritik wurde beiseitegeschoben, etwa Überfischung, Gentechnologie, Klima- und Atmosphärenschutz. Der doktrinär durchgesetzte Freihandel ist sozial und ökologisch blind.»[21]
So ist es nicht verwunderlich, dass auch die sozialdemokratische Zürcher Nationalrätin Jacqueline Badran dafür kämpft, das herrschende Wirtschaftssystem «zu einer postkapitalistischen Gesellschaft, die nicht mehr den Wachstumszwang unterworfen ist», umzubauen. «Nur weil wir die Ausbeutung nicht mehr vor der eigenen Haustür haben, ist sie nicht verschwunden – wir haben sie einfach ins Ausland ausgelagert», analysiert die oppositionelle Unternehmerin. Deshalb «müssen wir jetzt die Köpfe zusammenstecken – und eine neue Geschichte entwickeln, welche die globalen Probleme angeht.»[22] Ganz ähnlich sieht das Strahm: «Die sozialen und ökologischen Schutzregeln, die in den zivilisierten westlichen Nationen über hundert Jahre hinweg schrittweise installiert worden sind, braucht es auf globaler Ebene.»[23]
Doch damit wäre es nicht getan: Es reicht nicht, bloss ökologische und arbeitsrechtliche Regeln erfolgreicher Staaten wie jene der Schweiz global umzusetzen. Unabhängig davon, dass die Gewerkschaften zu Recht darauf hinweisen, dass es etwa beim Kündigungsschutz oder bei der fehlenden Demokratie auf Betriebsebene in der Schweiz noch grosse Defizite gibt. Angesichts der sich weiter verschärfenden Klimakrise braucht es einen fundamentalen Umbau des herrschenden Wirtschaftssystems. Darauf weisen auch die jugendlichen Klima-Aktivist*innen immer wieder hin, wenn sie den «system change» fordern.
In progressiven Kreisen der USA, und seit Beginn des Jahres 2020 auch in der Kommission der Europäischen Union, ist viel von einem grünen New Deal die Rede, mit dem der Umbau der Wirtschaft vorangetrieben werden sollte, um das Leben in den reichsten Ländern der Welt CO2-neutral zu organisieren. Für viele kritische Wirtschaftsfachleute oder Aktivist*innen gehen diese Pläne allerdings zu wenig weit. Abgesehen davon, dass sie bloss auf dem Papier existieren.
Für Niko Paech beispielsweise braucht es einen Aufstand und «Gruppen von Menschen, die eine Lebensweise praktizieren, die übertragbar ist auf 7,5 Milliarden Menschen.» Für den Professor für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen ist der von der EU-Kommission angekündigte Green Deal und der New Green Deal, wie ihn die amerikanischen Demokrat*innen propagieren, «eine Mogelpackung, die das Unmögliche verspricht: keine Wohlstandsreduktion bei gleichzeitig hinreichendem Umweltschutz.» Bestandteile einer ökologisch vertretbaren Wirtschaft sieht er etwa im Verbot «aller Urlaubsflüge, Kreuzfahrten und anderem schamlosen Luxus». Und in der Einführung einer 20-Stunden-Arbeitswoche, «um bei halbierter Produktion dennoch Vollbeschäftigung zu erreichen».[24]
Paech nennt sein Wirtschaftsmodell «Postwachstumsökonomie». Er argumentiert, dass man Wertschöpfung nicht von ökologischen Schäden entkoppeln dürfe und dass ab einem gewissen wirtschaftlichen Entwicklungsniveau «mehr Einkommen und Konsum nicht zu mehr Lebenszufriedenheit» führe. Ständiges Wachstum führe sogar zu kontraproduktiven sozialen Effekten in Bezug auf Hunger, Armut oder Verteilungsgerechtigkeit. Paech bleibt allerdings die Antwort auf die Frage schuldig, wie sich der globale Süden auf diese Weise wirtschaftlich so entwickeln könnte, dass die Menschen auch dort über genügend sauberes Wasser und gesunde Nahrung verfügen und nicht weiterhin auf ausreichende Bildung, vernünftige Transportmöglichkeiten oder eine anständige Gesundheitsversorgung verzichten müssen.[25]
Da ist sein amerikanischer Kollege Jeremy Rifkin optimistischer. In seinem Buch «The Green New Deal»[26] kommt der Ökonom und Publizist zum Schluss: «Es gibt Zeiten in der Geschichte, die zum Zusammenbruch einer Zivilisation führen, weil neue Revolutionen in den Bereichen Kommunikation, Energie, Mobilität und Logistiktechnologie nicht in Sicht sind. Glücklicherweise treibt diesmal eine neue, leistungsstarke grüne Infrastruktur-Revolution die alte Infrastruktur beiseite und schafft gleichzeitig die Möglichkeit, auf der Erde einfacher und nachhaltiger zu leben.»[27]
Für Rifkin ist der Green New Deal, wie ihn auch die US-amerikanische demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez fordert, «ein starkes Plädoyer für die jüngeren Generationen». Denn diese sei es, die Amerika umzuwälzen werde, um mit einer wichtigeren Agenda voranzukommen: «Nicht nur um die sozialen Perspektiven und das wirtschaftliche Wohlergehen aller Amerikaner*innen zu verbessern, sondern auch, um Amerika und seine Bevölkerung als Vorreiter zu positionieren, den Klimawandel zu begrenzen und das Leben auf der Erde zu retten.» Für Rifkin ist deshalb der Aufbau einer emissionsfreien Infrastruktur für die dritte industrielle Revolution «der Kern des Green New Deal.»[28]
In seinem Plädoyer für eine grüne Ökonomie legt er einen mitreissenden Optimismus an den Tag, wie man ihn auch von amerikanischen Sportler*innen gewohnt ist. Ein Optimismus, der auch den diesbezüglich zurückhaltenderen Europäer*innen guttun würde. Dieser Optimismus, dass es genüge, die Ärmel hochzukrempeln, habe die USA während mehr als zweihundert Jahren durch schwierige Prüfungen geführt. «Dies liegt in unserer kulturellen DNA», schreibt Rifkin als Nachfahre eingewanderter Europäer. Die andere Sicht der Native Americans auf die Geschichte der USA wird später in diesem Buch thematisiert.
Um aber bei Rifkins Optimismus zu bleiben: Er hofft, dass «die Graswurzelbewegung für einen Green New Deal, die sich jetzt in ganz Amerika ausbreitet», es schafft, in den Vereinigten Staaten eine grüne Infrastruktur für die dritte industrielle Revolution aufzubauen, um so den Klimawandel zu begrenzen «und eine gerechtere und humanere Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen.»[29]
Eine solche «gerechtere und humanere» Gesellschaft müsste natürlich auch jenem grossen Teil der Menschen im globalen Süden zugutekommen, die in bitterster Armut leben. Wollte man den aktuellen Lebensstandard der Mittelklasse Europas oder Nordamerikas zum Massstab eines guten Lebens für alle Erdenbürger*innen machen, bräuchten wir über den Daumen gepeilt zwei bis drei Planeten, um die Nachhaltigkeit zu garantieren. Selbst wenn der Green New Deal so umgesetzt würde, wie sich das Rifkin und Ocasio-Cortez vorstellen.
Deshalb werden wir nicht um die Einsicht der Umwelt-Aktivistin Carola Rackete herumkommen, wonach es dringend erforderlich ist, «dass wir Gesetze einführen, die den Ressourcenkonsum der Menschen in der Wohlstandsgesellschaft bremsen.»[30] Wobei dieses Limit des Ressourcenverbrauchs durchaus global gemeint ist. Und zwar beileibe nicht nur für Privatpersonen. «Unternehmen müssen daran gehindert werden, aus der Zerstörung der Natur Profit zu schlagen», fordert Rackete.
Um den Profit, wie er bisher erzielt wurde, künftig in ökologischere Bahnen zu führen, fordert der Schweizer Ökonom Ernst Fehr «eine allgemeine Klimasteuer, die alle Produkte proportional zu den verursachten Treibhausgasemissionen besteuert.»[31] Im Gegensatz zu Rackete kann der 63-jährige Professor für Mikroökonomik an der Universität Zürich kaum als Antikapitalist bezeichnet werden, schliesslich setzt er mit der Klimasteuer auf ein marktkonformes Instrument: «Mit einer Klimasteuer würde der Markt die Treibhausemissionen stark reduzieren», sagt Ernst. Dabei reiche eine CO2-Abgabe, wie sie etwa im Schweizer Parlament Ende 2019 diskutiert wurde, nicht aus. Ernst sieht die Klimasteuer breiter, nur so wäre es möglich, «die hohe Emissionen verursachende Fleischproduktion» zu verringern, «weil sich das Fleisch verteuern würde.»
Obwohl es aus ökologischen Gründen sinnvoll ist, den weltweiten Fleischkonsum zu reduzieren, würde eine «Fleischsteuer» allerdings dazu führen, dass sich die Ungleichheit weiter zuspitzte: Wer reich ist, könnte Fleisch essen, ohne sich einschränken zu müssen. Die Armen hingegen müssten sich mit Reis begnügen.
Hier würde nur eine Kontingentierung Abhilfe schaffen. Allenfalls in Kombination mit einer Fleischbörse. In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung könnte das beispielsweise über eine Art CO2-Kreditkarte laufen. Die Wissenschaft könnte berechnen, wie viel Fleisch ein Mensch im weltweiten Durchschnitt pro Woche essen darf, damit eine nachhaltige Landwirtschaft möglich wäre. Nehmen wir an, dass dieser Wert bei 100 Gramm Fleisch pro Person liegen würde. Alle die weniger verbräuchten, könnten ihr «Fleischguthaben» an die internationale «Fleischbörse» bringen, um es dort an jene zu verkaufen, die mehr als die ihnen zustehenden 100 Gramm pro Woche essen wollen. Damit wäre gewährleistet, dass jede Person so viel Fleisch essen könnte, wie ihr zusteht. Mit dem netten Begleiteffekt, dass Vegetarier*innen mit dem Verkauf ihrer Kontingente sogar noch Geld verdienen würden.
Damit sind wir mitten in der Diskussion der sozialen Frage. Wie sich von der Obrigkeit verfügte Preiserhöhungen bei Bürger*innen, die sich ihrer Demonstrationsmacht bewusst sind, aber in den Entscheid nicht einbezogen werden, auswirken können, haben die Gilet Jaunes in Frankreich gezeigt. Nach einer ökologisch begründeten Preiserhöhung des Treibstoffs legten sie Frankreich über Monate teilweise lahm. Jeremy Rifkin zitiert in «The Green New Deal» zu Recht den Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes Sharan Burrow, der davor warnt, dass der «wirtschaftliche Wandel, mit dem wir konfrontiert sind, sich in einem Ausmass und innerhalb eines Zeitrahmens vollzieht, der schneller als jeder andere in unserer Geschichte.» Burrow verlangt deshalb, dass in allen Ländern und für benachteiligte Gemeinden, Regionen und Sektoren «gerechte Übergangsfonds» eingerichtet werden, um Investitionen in Bildung und Umschulungen zu finanzieren. «Der soziale Schutz der Arbeiter*innen muss gewährleistet werden.»[32]