Kitabı oku: «Der frühe Marx und die Revolution», sayfa 3
3. Vorlesung
Auf der Suche nach der revolutionären Klasse
Die Anfänge von Marx und der ganzen Bewegung, die mit Marx zusammenhängt, sind mit Ludwig Feuerbach verknüpft und seiner Religionskritik in Das Wesen des Christentums. Der Kern des Christentums ist nach Feuerbach nicht Gott als ein übersinnliches, übermächtiges, höchstes Seiendes, sondern der Mensch selbst. Theologie ist Anthropologie. Es gibt einen solchen übersinnlichen, übermächtigen Gott nicht. Das Christentum ist daher im Grunde atheistisch. Es spricht von nichts anderem als vom Menschen.
Wichtig ist auch, wie Feuerbach auf die »spekulative Philosophie«, d. h. auf Hegel antwortet. Feuerbach gehört ja wie Marx zu den sogenannten »Linkshegelianern«. Hier ist die Denkbewegung der »Umkehrung« oder der »Umstülpung« (Marx) wichtig. Was wird »umgekehrt«? Ich hatte das an einem Satz Hegels demonstriert, einem zentralen Satz der Hegel’schen Rechtsphilosophie: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Ich hatte darauf hingewiesen, dass dieser nicht anders als in dieser Reihenfolge formuliert werden kann. Weil die Vernunft wirklich ist, weil die Vernunft in sich die Tendenz zu ihrer Verwirklichung hat, deshalb kann die Wirklichkeit vernünftig sein. Das Primat liegt bei der Vernunft.
Dieses Primat muss nach Marx gebrochen werden, das Verhältnis zwischen Vernunft und Wirklichkeit muss »umgekehrt« werden. Die Wirklichkeit muss als Wirklichkeit betrachtet werden, um dann mit der Vernunft kritisch in Berührung zu kommen. Etwas grob gesagt, findet hier eine »Umkehrung« statt, die die Philosophie seit Platon betrifft. Seit Platon über Aristoteles und die Spätantike, das Mittelalter, die frühe und spätere Neuzeit hatten die Philosophen stets betont, dass das Denken vom Über- oder Nichtsinnlichen aus auf das Sinnliche zugehen müsse. Freilich gab es auch andere Standpunkte, die man nicht vergessen darf, um nicht einer allzu ein-sinnigen Erzählung und dann vielleicht sogar einem Märchen auf den Leim zu gehen: Es gab Thomas Hobbes, es gab La Mettrie (den Marx erwähnt), es gab David Hume, es gab materialistische und empiristische Positionen, die die idealistischen Strömungen des Philosophierens unterbrachen. Aber Marx (und Feuerbach) bezogen sich unmittelbar auf den Philosophen ihrer Zeit – und das war Hegel, der Philosoph des absoluten Idealismus.
Im Verhältnis von Idee und Wirklichkeit sollte es zu einer »Umkehrung« kommen. Ich halte mich auch deshalb bei diesem Begriff auf, weil ich bald auf einen Begriff des Marx’schen Denkens zu sprechen kommen werde, der die Umkehrung oder Umdrehung schlechthin bezeichnet: den Begriff der »Revolution«. Dieser Begriff – wenn es überhaupt einer ist und nicht vielmehr ein Ereignis oder sogar ein Mysterium – wird am Ende meiner Vorlesung im Zentrum stehen.
Aber noch etwas anderes und durchaus Wichtiges muss hier dargelegt werden. Es geht um die Methode des Hegel’schen Denkens, die allerdings nicht nur einfach als ein dem Denken Äußerliches betrachtet werden darf. Die Methode – als der Weg zur Erkenntnis – ist kein Instrument, sondern es ist nichts anderes als das Denken selbst. Diese Methode ist für Hegel und für Marx die Dialektik. Was ist Dialektik? Das Wort kommt vom griechischen dialégesthai, das mit Durchsprechen übersetzt werden kann. Durchsprechen – das zeigt, dass es um eine Bewegung geht. Der Gedanke, das Denken muss sich bewegen, um Denken zu sein. Im Denken geht es um Denkbewegungen und eine dieser Bewegungen haben wir schon kennengelernt: die Umkehrung.
Aber das reicht noch nicht, um zu verstehen, was Dialektik ist. Ich zitiere eine Schlüsselstelle über die Dialektik aus der Vorrede von Hegels Phänomenologie des Geistes. Sie ist eine Schlüsselstelle auch für Feuerbach und Marx. Es heißt da: »So soll auch im philosophischen Satze die Identität des Subjekts und Prädikats den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernichten, sondern ihre Einheit soll als eine Harmonie hervorgehen.«23 Ich möchte bei der Interpretation des Satzes den Schwerpunkt auf die Begriffe »Identität« und »Unterschied« legen, zunächst mehr auf den »Unterschied«.
Die Bewegung des Denkens wird dadurch ausgelöst, dass ein feststehender Gedanke (das Subjekt) mit seiner Negation, d. h. mit seinem Gegensatz, mit einem Widerspruch, konfrontiert wird. Es entsteht ein »Unterschied«. Nehmen wir als einen solchen Gedanken das Gute, die Idee des Guten. Ihm wird etwas Nicht-Gutes gegenübergestellt. Nun gibt es diesen »Unterschied«. Was ist ein »Unterschied«? Ein Verhältnis, etwas Trennendes und zugleich Zusammenhaltendes. Das Gute und das Böse, könnte man sagen, gehören zusammen, wenn sie auch getrennt sind. Das ist das, was Hegel »Harmonie« nennt.
Es kann aber, um zur Bewegung des Denkens zurückzukehren, dieses Verhältnis, dass einem Guten durch ein Nicht-Gutes widersprochen wird, nicht so bleiben. Vielmehr antwortet sozusagen das Gute auf diesen Widerspruch dadurch, dass es über ihn hinausgeht, dass es ihn »aufhebt«. Dieses »Aufheben« hat bei Hegel drei Bedeutungen: heraufheben, vernichten, erhalten. Was meint das?
In der dialektischen Bewegung wird der Widerspruch nicht einfach abgewiesen, sondern anerkannt und zugleich verneint, dadurch entwickelt sich das Denken hin zu einem höheren Zustand. Nehmen Sie die Krankheit (etwas Nicht-Gutes). Sie ist eine Verneinung, ein Widerspruch zur Gesundheit (etwas Gutes). Nun wäre es für den Gesunden ganz falsch, den Widerspruch der Krankheit nicht anzuerkennen (nicht zum Arzt zu gehen etc.). Das könnte zur Vernichtung der Gesundheit führen. Also: in der Anerkennung des Widerspruchs liegt, dass ich mich als nun Kranker um meine Gesundung kümmere. Ich vernichte demnach die Krankheit in mir. Dadurch aber, dass ich nun durch die Krankheit hindurchgegangen bin, bin ich anders gesund als vorher, sozusagen auf einem höheren Level gesund. Das kann ich aber nur deshalb sein, weil ich etwas von der Krankheit erhalten habe, sich etwas von ihr erhalten hat, eine Erinnerung an sie und wie ich sie überwunden habe. Das nennt man dialektische Bewegung des Denkens; Marx – und nicht nur Marx – hat sie von Hegel auf spezifische Weise übernommen. Wir werden gleich sehen, wie. Zurück zu Marx!
Ich beginne noch einmal mit dem Satz: »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.«24 Dieser Satz steht am Beginn eines Textes mit der Überschrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843/44. Er darf übrigens nicht mit einem Manuskript von 1841/42 verwechselt werden, das auch Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie genannt wird. Dort hatte Marx einen Teil von Hegels Rechtsphilosophie gleichsam Paragraph für Paragraph durchinterpretiert. Ich werde mir nun den erstgenannten Aufsatz über Hegels Rechtsphilosophie bzw. eigentlich über die deutsche Philosophie im Jahre 1844 anschauen.
Da heißt es sogleich im zweiten Satz: »Die profane Existenz des Irrtums ist kompromittiert, nachdem seine himmlische Oratio pro aris et focis widerlegt ist. Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß.«25 Sie hören sogleich, dass hier jemand einen bestimmten Stil pflegt. In der Tat: Marx, das werden wir noch weiter sehen, ist in diesem Text ein politischer Schriftsteller. Er will nicht nur etwas darstellen, er will auch überzeugen.
Marx spricht von einem »Irrtum« und seiner »profanen Existenz«. Es geht demnach nicht um eine religiöse Existenz. Die »himmlische Oratio pro aris et focis« ist das himmlische Gebet für Altar und Herd, d. i. eine römische Formulierung, die das Himmlische und Weltliche zusammenführen will, um im Bereich der Öffentlichkeit eine bestimmte politische Entscheidung zu legitimieren. Dieses Gebet ist widerlegt, widerlegt durch die vorher genannte Kritik. Welche ist das?
Marx bezieht sich deutlich auf Feuerbach: Die ganze Bewegung des Gedankens sei dialektisch. In der »phantastischen Wirklichkeit des Himmels« habe der Mensch nur den »Widerschein« von sich selbst, also einen »Übermenschen«, gefunden. Wenn aber die »phantastische Wirklichkeit des Himmels« bzw. der »Übermensch« nur der »Widerschein« des Menschen ist, dann sei das, was der Mensch in der »wahren Wirklichkeit« finde, nur der »Schein« zu diesem »Widerschein«, der »Schein« eines »Unmenschen« im Verhältnis zum »Übermenschen«. Diesen »Schein« aber, so Marx, dulde der Mensch nicht mehr.
Ich lese weiter: »Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.«26
Marx vollzieht einen Gedanken, der auch bei Nietzsche zu finden ist. Ich habe vorhin recht grob vom Unterschied zwischen dem Übersinnlichen und dem Sinnlichen gesprochen. In der Philosophie und in der Religion wird das Reich des Übersinnlichen als das Reich der Wahrheit betrachtet. Dieses Reich soll unabhängig vom Menschen existieren. Es ist nicht vorstellbar, dass er dieses Reich »gemacht« hat. Für Marx aber gibt es nur den Menschen, und alle diese Figuren des Übersinnlichen werden von ihm »gemacht« und von niemandem sonst.
Den Menschen in seiner Wirklichkeit, in seiner Welt von Staat und Gesellschaft: um diesen Menschen soll und muss es gehen. Denn hier, in der Welt von Staat und Gesellschaft, läuft etwas schief, sehr schief. Marx: »Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.«27 Sie hören die rhetorische Begabung.
Ich hatte in der letzten Stunde auf die Bedeutung der protestantischen Religion für den Preußischen Staat hingewiesen, auch für Hegel. Der hatte noch 1830 eine Festrede zum 300. Jahrestag der Confessio Augustana gehalten, jener Augsburger Konfession von 1530 (die auf Luther zurückgeht); ein Bekenntnis zur protestantischen Kirche, das auch heute noch Bedeutung hat.28 Dieser Jahrestag wurde offiziell im Staat gefeiert. Marx behauptet nun, dass dieser Staat und diese Gesellschaft ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Religion haben. Wie dieses Interesse zu fassen ist, ist schwer zu sagen. Denn der Preußische Staat hatte selbst kein Bewusstsein von seiner »verkehrten Welt« (à propos: wieder ist etwas »verkehrt«, muss also »umgekehrt« werden). Nichtsdestotrotz sorgte er für die Erhaltung dieser Verkehrung.
Der Unterschied zu Feuerbach ist jetzt klar geworden. Er hatte das eigentliche Problem nicht erkannt: er hatte das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und Menschlichen lediglich anthropologisch interpretiert, ohne Interesse, seine Religionskritik politisch zu verstehen und seine Untersuchungen auf die Zustände der Gesellschaft anzuwenden. Das war für Marx natürlich eine spezifische Schwäche.
Marx geht es darum, gegen diese Verkehrung anzugehen: der »Kampf gegen die Religion« als »mittelbarer« »Kampf« gegen die »verkehrte Welt«. Hören wir Marx’ Text weiter: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.«29 Hier haben wir also die berühmte Formulierung. Die Religion hat ein ambivalentes Wesen, das es zu bekämpfen gilt. Einerseits kann man an ihr erkennen, dass die »wahre Wirklichkeit« eine elende ist. Denn die Religion mit ihrer Sehnsucht nach einer anderen Welt, einer »phantastischen Wirklichkeit«, ist ein Ausdruck des Elends. Andererseits aber wird genau dieser Ausdruck des Elends zu dessen Erhaltung genutzt, denn die Religion ist selbst keine kritisch-politische Instanz. Ihre Wirkung ist vielmehr opiatisch. Sie tröstet und vertröstet. Dieser Trost und die Vertröstung aber halten den Menschen davon ab, die wirkliche Quelle des Elends zu erkennen. (Heute scheinen die Medien diese Rolle übernommen zu haben. »Wer wird Millionär?« ist die »Religion«, das »Opium des Volks« von heute.)
Also folgert Marx: »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.«30 All das ist dialektisch gedacht. Die Religion wird ja von Marx auf gewisse Weise auch anerkannt. Sie ist der Ausdruck des Leidens, muss daher ernstgenommen werden. Doch zugleich muss sie »aufgehoben« werden, indem die wahre Quelle des Unglücks und Elends bekämpft wird. Diese wahre Quelle ist, von der Religion aus gesehen, das »Jammertal«, die wirkliche Welt. »Kritik des Jammertales« ist hier einerseits die Kritik am Jammertal, andererseits aber auch eine Kritik, die vom Jammertal ausgeht.
Weiter: »Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne drehe. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt.«31 Der Mensch muss »enttäuscht« werden in dem Sinne, dass er von der Täuschung befreit wird, dass die Täuschung weggenommen wird, damit er beginnen kann, sich um sich selbst zu drehen.
Wie aber kann diese »Enttäuschung« erreicht werden? »Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde.«32 Das Instrument der Geschichte, den Menschen aus seiner Selbstentfremdung zu befreien, ist die »Philosophie«. Das muss aber hier so verstanden werden, dass ja gerade Hegel, wie Marx später im Aufsatz auch zeigt, affirmativ zur »verkehrten Wirklichkeit« steht, ja dass gerade Hegels Denken diese Verkehrung der Wirklichkeit vollzieht. Das heißt dann aber nichts anderes, als dass die im »Dienst der Geschichte« stehende »Philosophie« neben der Religionskritik auch eine Kritik an der »spekulativen Philosophie« Hegels sein musste. Und das vor allem deshalb, weil Marx in Hegels Rechtsphilosophie die Philosophie »Deutschlands« und seiner Gesellschaft par excellence erkannte.
Ich habe bis hierher den Beginn des Aufsatzes aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern beinahe Satz für Satz dargestellt. Ich werde jetzt ein paar Sprünge machen, um weitere, besonders wichtige Gedanken dieses in jeder Hinsicht bemerkenswerten Textes auszulegen.
Wir haben bisher immer nur im Allgemeinen gehört, dass die Welt elend und unerträglich sei. Das war Marx entschiedene Ansicht. Doch worin bestand dieses Elend, dieses Unerträgliche? Das musste man selbst erst einmal darstellen. Dabei half ihm Friedrich Engels, der 1845 sein Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England veröffentlichte. Es schildert die Zustände im Manchester seiner Zeit. Engels war dort in einer Fabrik seines Vaters beschäftigt. Es ging ihm darum, »the realities of life«33 zu zeigen; eine, wie ich finde, passende Formulierung. Es geht bei all dem wirklich um die »realities of life«, nicht um die Illusionen, die wir uns von uns selbst und der Welt machen.
Im besagten Aufsatz von Marx gibt es nur spärliche Hinweise auf das wirkliche Elend des Menschen. Doch es gibt eine geradezu programmatische Aussage. Sie lautet: »Das Verhältnis der Industrie, überhaupt der Welt des Reichtums zu der politischen Welt ist ein Hauptproblem der modernen Zeit.«34 Damit ist ein Hinweis auf die Art und Weise des Elends gegeben, das Marx meint. Es geht um das soziale Elend in einer »Welt des Reichthums«, die sich als »Industrie« (lateinisch Fleiß, Betriebsamkeit, aber auch Bezeichnung für die Produktionsart der Fabrik) ihre eigene Form gegeben hat. Marx hat sich auch später immer wieder auf dieses Thema bezogen, bis dahin, dass er eines der nicht nur ökonomischen Hauptwerke des 19. Jahrhunderts verfasste, Das Kapital.
Ich kehre zurück zum Aufsatz. Marx stellt also die »Kritik« als seine Aufgabe vor. Kritik heißt hier: Kritik der Religion, aber auch Kritik der Philosophie (noch durch die Philosophie), wobei Marx nun konkret wird und die differenten politischen Situationen in Frankreich und Deutschland thematisiert, das Frankreich in jeder Hinsicht hinterher hinkte. Die Frage aber war, wie sich diese Kritik verwirklichen sollte. Sollte sie sich in den Grenzen des Begriffes bewegen, des philosophischen oder auch politischen Diskurses also, oder meinte Marx noch eine andere Form der Kritik? So heißt es:
»Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.«35
Diese Passage zeigt, wie weit Marx in seinem politischen Denken zu gehen bereit war. Die »Kritik« ist eine »Waffe«. Sie kann etwas bewirken, könnte man sagen. Das hatte Marx bereits am eigenen Leibe zu spüren bekommen, weil er sich ja schon zur Zeit der Abfassung dieses Aufsatzes im Pariser Exil befand. Er wurde verfolgt, Spione waren um ihn, Spione verschiedener Nationen übrigens. Und doch spricht Marx hier wohl noch etwas anderes an, wenn er von der »Kritik der Waffen« spricht, von der »materiellen Gewalt«. Die Anspielung – ist es eine Anspielung? – ist deutlich. Es geht um das, was er kurz vor der zitierten Stelle erwähnt hat: um eine »Revolution«.
Im ersten Artikel der im August 1789 in Paris verlesenen Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen heißt es: »Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.« Das war es, woran Marx sich orientierte. Er dachte an eine Revolution als Umkehrung der verkehrten Wirklichkeit zur wahren Wirklichkeit durch die wahre Wirklichkeit, an eine Revolution als »Praxis«, und er fragt, ob es eine solche wohl in Deutschland würde geben können.
Ich werde mich in den beiden letzten Stunden dieser Vorlesung weiter mit der Revolution als eben dieser Bewegung, dieser Bewegung im Denken (Marx selbst verwendete den Begriff der »theoretischen Revolution« in Bezug auf Feuerbach) und in der Wirklichkeit, beschäftigen. Marx wird sich natürlich noch weitere Gedanken zu ihr machen; in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wird sie eher beiläufig erwähnt.
Marx verwendet noch einen anderen Begriff, der neben dem der »Revolution« herausgehoben werden muss, nämlich den der »Emanzipation des Menschen«.36 Das Wort stammt vom lateinischen emancipatio, einer Zusammenziehung von ex manus capere. Mancipare ist eine juristische Prozedur, in der jemand vor Zeugen etwas mit seiner Hand berührt und es damit zu seinem Eigentum macht. Die gegensätzliche Bewegung ist demnach die, etwas (einen Sklaven oder einen Sohn) aus seinem Eigentumsanspruch zu entlassen. Insofern ist die ursprüngliche Emanzipation die Gewährung eines Mächtigeren. Das hat sich in der modernen und schon bei Marx zu findenden Bedeutung verändert. Die »Emanzipation des Menschen« (wie die »der Frau«) wird vom Menschen vollzogen. Doch wovon emanzipiert sich der Mensch? Von seinen Beschränkungen, die er von Staat und Gesellschaft her erfährt. Die Revolution ist in sich eine Emanzipation, doch nicht jede Emanzipation ist notwendig eine Revolution. Bei Marx jedoch wurde der Begriff der Revolution gegenüber dem der Emanzipation wichtiger, verstanden als ein Ereignis, das mit »materieller Gewalt« verbunden ist.
Ich möchte noch zwei Dinge aus dem Aufsatz erwähnen. Marx spricht von einer »radikalen Revolution«. Die »radikale Revolution« betrifft die »Wurzel« (radix) der »Kritik« (in der »radikalen Kritik«), d. h. den Menschen. So schreibt Marx: »Nicht die radikale Revolution ist ein utopischer Traum für Deutschland, nicht die allgemein menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die teilweise, die nur politische Revolution, die Revolution, welche die Pfeiler des Hauses stehen läßt. Worauf beruht eine teilweise, eine nur politische Revolution? Darauf, daß ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft sich emanzipiert und zur allgemeinen Herrschaft gelangt, darauf, daß eine bestimmte Klasse von ihrer besondern Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt.«37 Die »radikale Revolution« ist die »allgemein menschliche Emanzipation«. Das ist ein noch unausgegorener Gedanke. Denn Marx kann hier noch nicht zeigen, inwiefern eine konkrete Revolution diese allgemein menschliche, d. h. die universale Emanzipation vollziehen soll. Das wird er später, im Manifest der Kommunistischen Partei durchaus tun.
Wie dem auch sei: Vorerst gehe es um eine »politische Revolution«, in der eine »bestimmte Klasse« – diesen Begriff hatten wir noch nicht kennengelernt – die »allgemeine Emanzipation der Gesellschaft« – bezogen auf Deutschland – unternimmt. »Klasse«,38 das Wort stammt von classis, der herbeigerufenen Menschenmenge (vielleicht spielt clamere, rufen, eine Rolle). Der Begriff wurde von englischen Ökonomen benutzt, von Smith, aber auch von dem für Marx sehr wichtigen David Ricardo. »Class« ist noch heute ein gängiger Begriff in England, während in der deutschsprachigen Ökonomie und Soziologie der Begriff der »Klasse« sich nur für den Marx’schen Strang erhalten hat. Zwar bezieht sich auch noch der große Soziologe Max Weber auf »Klassen«, doch wir sprechen heute im Allgemeinen von »Schichten«.
Die Frage, die Marx hier stellt, ist die nach einer revolutionären Klasse, die gleichsam für die ganze Gesellschaft die Revolution realisieren könnte. Er sagt dazu, »daß die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse« befinden müsse »also z. B. Geld und Bildung« besitze oder »beliebig erwerben« könne.39 Er nennt das eine »Voraussetzung« der politischen Revolution. Marx denkt an die Situation in Frankreich, an die Französische Revolution. Hier hatte das Bürgertum oder (Marx verwendet üblicherweise das französische Wort) die »Bourgeoisie«40 die Aufgabe übernommen, die Revolution zu realisieren, und zwar zum Wohle des Ganzen.
In Deutschland ist die Lage aber eine andere. Marx sagt auch sogleich: »Es fehlt aber jeder besondern Klasse in Deutschland nicht nur die Konsequenz, die Schärfe, der Mut, die Rücksichtslosigkeit, die zum negativen Repräsentanten der Gesellschaft stempeln könnte.«41 (»Negativ«, weil ja die Gesellschaft revolutioniert werden soll und insofern von der »Klasse« nicht positiv repräsentiert wird.) »Es fehlt ebensosehr jedem Stand jene Breite der Seele, die sich mit der Volksseele, wenn auch nur momentan identifiziert, jene Genialität, welche die materielle Macht zur politischen Gewalt begeistert, jene revolutionäre Kühnheit, welche dem Gegner die trotzige Parole zuschleudert: Ich bin nichts, und ich müßte alles sein.«42 Bitte bedenken Sie, dass das schon Aussagen sind, die spätere Revolutionäre wie Lenin oder auch Che Guevara aufmerksam gelesen haben. Marx sucht eine »Klasse«, die in Deutschland eine Revolution inszenieren könnte. Eine Bourgeoisie wie in Frankreich existiert nicht. Natürlich existiert ein Bürgertum, doch dieses Bürgertum, dachte Marx, hatte nicht die Radikalität wie das französische. Er schreibt: »In Deutschland […], wo das praktische Leben ebenso geistlos, als das geistige Leben unpraktisch ist, hat keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft das Bedürfnis und die Fähigkeit der allgemeinen Emanzipation, bis sie nicht durch ihre unmittelbare Lage, durch die materielle Nothwendigkeit, durch ihre Ketten selbst dazu gezwungen wird.«43 Marx fasst hier einen Gedanken, den er später weiter ausbauen und dann auch mit philosophischeren Begriffen darstellen wird. Es geht dabei um die Ermöglichung der Revolution. Warum und wann findet eine Revolution statt? Weil und wenn die eigene Lebenssituation als unerträglich empfunden wird.
Für jetzt konstatiert Marx, dass es in Deutschland keine Klasse zu geben scheint, die den Motor der Revolution in Gang setzen und halten könnte. Marx fragt: »Wo liegt also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation? / Antwort: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welchen in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.«44 Hier haben wir also das Zauberwort, diese »Klasse«, die noch erst gebildet werden muss. Diese »Klasse«, das kann man schon jetzt sagen, soll zwar die Revolution in Deutschland beginnen, doch sie ist deshalb offensichtlich keine »deutsche« »Klasse«, denn an ihr wird das »Unrecht schlechthin« begangen und nicht ein spezifisch deutsches Unrecht. Was aber ist das »Unrecht schlechthin«? Es ist die »Armut« bzw. die Bedingungen, die das Proletariat verarmen lassen.
Marx hatte am Beginn des Aufsatzes gesagt, dass es »zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte« stehe, sei, »die Selbstentfremdung« des Menschen »in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven«. Nun konstruiert er eine erstaunliche Allianz: »Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen.«45 Die Philosophie und das Proletariat bilden die »materielle Gewalt«, die die Revolution realisieren soll.
Ich habe viel zitiert. In der nächsten Stunde werden wir uns zunächst mit dem Klassenbegriff des »Proletariats« beschäftigen. Dann werde ich weitergehen zu philosophischeren Texten von Marx. Der Text, den wir heute kennengelernt haben, hat mehr programmatischen Charakter.
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