Kitabı oku: «Heimatstadt»
Für meinen Ehemann und
für meine drei Töchter
Petra Hauser wurde 1950 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germansistik und Anglistik in Heidelberg und war über 30 Jahre lang als Lehrerin vor allem in der Erwachsenenbildung tätig. Ihren ersten Roman „Das Glück ist aus Glas“ veröffentlichte sie 2009 (6. Auflage 2015). Es folgte die Novelle „Falsche Wimpern“ (2011), der Roman „Die Tage vor uns“ (2012) sowie der Krimi „Binokelrunde“ (2014).
Petra Hauser
Heimatstadt
Roman
Jeder Zustand ist nur auf Zeit
und der Wandel das einzig Verlässliche.
1
Karlsruhe. Es sollte ein kurzer Aufenthalt werden. Das ist nicht meine „Heimatstadt“, es ist nur die Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Ich habe länger anderswo gelebt als hier.
Damals vor vielen Jahren stieß mich diese Stadt von sich. So jedenfalls, mit dieser Formulierung habe ich meine Zeit hier ad acta gelegt. Trotzdem war mir immer klar, dass es hier ja immer noch das Haus gab. Das Haus meiner Familie. Mein Haus.
Nun bin ich in einem Alter, in dem man beginnt, aufzuräumen in seinem Leben. Deshalb bin ich zurückgekommen. Ich wollte nur so lange bleiben, bis das Haus geleert und verkauft ist. Wie es beim Aufräumen oft geht, ich bin unversehens darin stecken geblieben. So entschloss ich mich also, zunächst einmal auf unbestimmte Zeit hier zu bleiben, in dieser Wohnung unterm Dach, in diesem Haus, in dieser Stadt, wo ich meinen Ursprung habe.
Wann immer ich über den Begriff Heimat nachdachte, beneidete ich diejenigen, die eine hatten. Ich erinnerte mich an die Schilderungen von Hermann Hesse, der den nördlichen Schwarzwald pries, das Geplätscher der Nagold zwischen Weidesträuchern und Wiesenschaumkraut, die blühenden Obstbäume, Sommergewitter, die Schneeschmelze im Frühling.
Heimat, das ist ein unverwechselbarer Geruch, der alle Blumendüfte, jedes einzelne Aroma von überallher, aus den Blüten, von den Blättern, aus der Erde, dem Wasser aufnimmt und sich wie ein Umhang um dich legt, Geräusche, die man blind versteht, ein Orchester von vielen Stimmen, Käferpanzer, die über Erdkrümel kratzen, und Eulen, die nachts rufen, Bilder von Himmel mit Sternen, so weit das Auge reicht, von Bäumen, die sich der Jahreszeit gemäß verwandeln von hellgrün über graugrün bis hin zu den Rostgoldtönen des Herbstes. Verlässliche Kulisse für das, was wir tun und erleben, was uns verändert. Kann also Heimat nicht nur in einer naturnahen Umgebung sein? Auf dem Land, außerhalb der verwechselbaren Häuserschluchten oder auch der Stadtrand-typischen Mehrfamilienhäuser mit ihren Vorgärten und Gartenzäunen, den gefegten Gehwegen, den Gardinen, die sowohl das Hinein- als auch das Hinausschauen verschleiern, und die sich ähneln, egal, ob man nach Kassel, Köln oder Karlsruhe geht? Sicher, Heimat, das bedeutet auch Brauchtum, Essen und Trinken, mit historischen Fakten vermischte Mythen und fest gefügte Regeln, die Halt geben oder herausfordern dazu, sie zu sprengen. Darin allerdings unterscheiden sich Kassel oder Köln von Karlsruhe.
Es gab damals auch hier in der Stadt, in der ich aufwuchs, mir vertraute, heimelige Orte, die sich mit Erlebnissen verknüpften, sie gleichsam repräsentierten. Der heimeligste Ort war mir immer unser Garten. Es war ein eingewachsener Garten mit Blumen- und Gemüsebeeten. Ein Saum von Spalierobst auf der einen Seite, gegenüber Himbeerstauden und Johannisbeerbüsche, rote, schwarze, weiße Träubchen. Weißfleischige Pfirsiche und die mit grauem Pelz und dunkelrotem Fruchtfleisch. Alles war immer wohl gepflegt. Ich durfte in den Garten, wann immer ich wollte. Das Tor war meine Grenze. Hinaus sollte ich nicht. Nicht auf der Straße spielen, keinen Kontakt haben zu den Nachbarkindern. Darauf war meine Familie sehr bedacht, sich auf Abstand zu halten. Die einzigen Außenkontakte, die wir hatten, waren gelegentliche Betriebsfeiern im Vermessungsbüro, in dem mein Vater beschäftigt war. Meine Großmutter traf sich regelmäßig mit ihren ehemaligen Schulfreundinnen im Café Endle, eine sehr exklusive Unternehmung für sie, die sie allerdings immer tagelang zum Gesprächsthema mit meiner Mutter machte.
Die Welt außerhalb unseres Hauses und Gartens, so erklärte man mir immer wieder, sei gefährlich. Da ich ein gehorsames und schüchternes Kind war, hielt ich mich an die mir gesetzten Grenzen.
Weil es das Karlsruhe meiner Kindheit und die wenigen Menschen, die damals eine Rolle spielten in meinem Leben, nicht mehr gibt, fürchtete ich, von einem Gefühl der Fremdheit übermannt zu werden.
Es stellte sich jedoch bald heraus, dass diese Stadt mir so vertraut ist wie viele, gerade weil der allgemeine Wandel hier ebenso stattgefunden hat wie überall. Das typisch Städtische schafft ein Gefühl des Vertrauten, es ist meine eigentliche Heimat, nicht das Dörfliche, nicht die Natur. Hier gibt es die typische Einkaufsmall, in der man alles Notwendige bei jedem Wetter trockenen Fußes und ohne zu schwitzen einkaufen kann. Die typischen Filialen der großen Einkaufsketten, verschiedene Theater und Museen, Straßencafés. Es gibt das übliche ethnische Spektrum von Restaurants und dann das unerwartete Grün der Städte! Die Parks und vor allem die Bäume. Ein Open-air-Kino, ein Gefängnis und viel interessante Architektur aus den unterschiedlichen Epochen, Historismus, Jugendstil, hässliche Nachkriegsbauten, den Beton der frühen Siebziger und das ganz Neue, das die Meinungen spaltet. Es ist eine Stadt wie viele und als solche vertraut. Ich habe mich von der ersten Minute an wohlgefühlt. Mit dem Bau der Untergrundbahn wird die Stadt tauglich für das 21. Jahrhundert.
Und auch die andere Sorge, nämlich dass es die Menschen von damals hier nicht mehr gibt, ist unberechtigt, denn es fiel mir nicht schwer, in kurzer Zeit einige meiner ehemaligen Schulkameradinnen ausfindig zu machen. Unsere behutsame Annäherung über einen langen kontaktleeren Zeitraum hinweg geschieht auf der Basis höflich distanzierter Kommunikation.
Diejenigen, die immer hier gewohnt haben, beklagen sich darüber, wie hässlich die Innenstadt im Augenblick sei. Eine einzige riesige Baustelle mit vielen Löchern, die Kaiserstraße gleiche einem Fluss, den man nur unter Gefahr an einigen Stellen überqueren könne, die schönen alten Geschäfte seien alle eingegangen. Der K-Punkt-Pavillon beim Theater sei eine lächerliche Kopie des Berliner Kubus‘ am Potsdamer Platz, aber ja, das sei ja Karlsruher Tradition, man habe unter dem Großherzog auch immer nach Berlin geschielt und versucht, es zu kopieren, besonders als dann die Tochter des Kaisers hier einheiratete in immerhin noch glanzvoller Zeit.
Da beginne ich nachzudenken. Was sie so locker in Nebensätzen erwähnen, den Großherzog – welchen meinen sie eigentlich? – ist mir nicht geläufig. Nie habe ich mich für die Geschichte Badens oder der Stadt Karlsruhe interessiert. Ich war noch zu jung, als ich die Stadt verließ. Mit Mühe kann ich das Gründungsjahr 1715 nennen und damit die Stadt historisch ein bisschen einordnen. Und dann:
„Schöne alte Geschäfte?“, frage ich.
„Ja, weißt du nicht mehr, dass manche ihr Konfirmationskleid eben bei Kleiber, Pohl und Pfüller, Vetter oder Keller kaufen konnten und die anderen eben nur bei C&A?“
„Die Jungs bei Hiller, vergiss das nicht! Der ‚Herrenausstatter‘ von Karlsruhe.“
„Sportkleidung bei Sportmüller und Schulbücher bei der Braunschen oder bei Buch-Kaiser.“
„Gab’s da nicht noch Mende und Müller & Schlicht?“
„Du hast recht!“
„Schuhe bei Danger oder Salamander.“
„Aber Gabriela aus Durlach, die kaufte damals schon bei Bally. Wie habe ich die beneidet!“
„Und als ich heiratete, da gingen Klaus und ich zu Wohlschlegel in die Porzellanausstellung und fanden einfach nichts, was uns beiden gefiel, weil die Auswahl zu groß war.“
„Wir wollten etwas Besonderes haben und gingen ins Interno-Studio in der Amalienstraße. Meine Schwiegereltern rümpften die Nase über die rohen Kiefernholzmöbel und zehn Jahre später gab’s Ikea.“
„Hammer und Helbling, den vermisse ich, da bekam man alles – vom Schraubendreher bis zum Dampfdrucktopf.“
„Bei Wäsche-Schulz hatten sie an jedem Ausstellungsstück einen kleinen Zettel angesteckt mit der Anzahl der noch am Lager vorhandenen Exemplare. Wenn etwas gekauft wurde, strichen sie die Zahl durch und schrieben die neue daneben.“
„Erinnert Ihr euch, dass es damals, als wir unsere Kinder bekamen, noch Doering und Christmann gab? Die Konkurrenz belebte das Geschäft!“
„Jetzt kauft man halt gleich bei Amazon.“
Ich höre amüsiert zu und spüre, dass mir hier etwas entgangen ist, ich gehöre nicht dazu. Ich bin fast eine Reingeschmeckte, trotz des badischen Singsangs, den ich – wie man mir immer wieder bestätigt – nie verloren habe.
Nach und nach erscheinen verschiedene Orte wieder vor meinem inneren Auge: Die Tanzschule Vollrath, das Resi-Kino mit seinen Filmkunst-Tagen, das Regina-Nonstop-Kino, wo man regelmäßig damit rechnen musste, dass sich ein Kerl neben einen setzte und einem an die Oberschenkel griff. Ich denke an Hanno, meinen Freund aus dem Schwimmverein und schließlich auch an Frank-Arthur, den ich fast geheiratet hätte.
Ich räume also seit vielen Wochen hier im Haus auf, arbeite mich in kleinen Schritten vor, nehme alles in die Hand und entscheide, was ich behalten will und wohin ich das andere gebe, wenn es nicht in den Müll kommen soll. Ich genieße diesen Frühling, der im Winter schon begann und uns so sehr mit Licht und Wärme verwöhnt. Die Stadt und ich, wir wachsen auf behutsame Weise wieder zusammen, und es gefällt mir. Fast ein Jahr wohne ich schon hier.
Als ich im letzten Jahr einwilligte, an Weihnachten mit nach Kitzbühel zu gehen, hatte ich noch keine Ahnung, was mir bevorstand. Ich kam am Abend müde an und ging früh ins Bett. Am nächsten Morgen blickte ich aus meinem Fenster und sah die Berge vor mir. Etwas in mir erkannte die Silhouette sofort.
Vielleicht weil ich zu Hause kurz zuvor diese Schuhschachtel gefunden hatte mit Briefen, Postkarten und Fotos aus den sechziger Jahren. Noch lagen sie mit einer Schnur zusammengebunden dort. Ich scheute davor zurück, sie zu lesen, war mir gar nicht sicher, ob ich sie nicht besser einfach vernichten sollte.
Aus meiner derzeitigen Position, wo ich auf das, was ich erlebt und nicht erlebt habe, mit Gelassenheit blicken kann, wo ich ohne Bitterkeit Bilanz ziehen kann, weil ich Gott sei Dank noch bei Kräften bin, geistig und körperlich, und hoffe, noch ein paar gute Jahre vor mir zu haben, wuchs mir dann aber Mut zu, mich der Vergangenheit zu stellen, nach Zusammenhängen zu suchen, die bis in die Gegenwart hinein wirksam sind.
2
Vor mir liegen Postkarten, Briefe, Fotos. Ich habe sie auf meinem alten großen Tisch ausgebreitet und sie führen mich zurück ins Jahr 1961. In unseren ersten Sommerurlaub in einem kleinen Dorf in Tirol unmittelbar an der Grenze zu Deutschland. Dorthin fuhren wir viele Jahre immer wieder. Vieles, was ich dort erlebte, kann ich keinem Jahr zuordnen. Aber manches bleibt unverrückbar.
Da waren die Berge, so hoch, so unvertraut, bedrohlich oder friedlich, auch nach vielen Wanderungen voller Unwägbarkeiten, Rätsel, Herausforderungen. Ein Glücksgefühl blühte auf im Herzen, wenn man sich einen langen beschwerlichen Aufstieg abgerungen hatte und von oben die Welt betrachtete, die Häuser, die Menschen und Tiere. Sie erschienen klein und unbedeutend, als ob man sie mit den Fingern wegschnippen könnte. Doch gerade die Menschen, so anders und nah, sie rückten uns in den wenigen Ferientagen näher als unsere Nachbarn zu Hause.
Ich beschäftigte mich damals und dort in meinen Gedanken insbesondere mit der Liebe. Sie erschien mir wie das Eintrittstor zur Welt der Erwachsenen. Das hatte mit den Romanen von Ludwig Ganghofer zu tun, die meine Großmutter sich als Ferienlektüre auswählte, um sie erneut zu lesen, zu überprüfen, ob sie noch die gleiche Faszination auf sie ausüben könnten wie vor fünfzig Jahren, da hatte sie diese Bücher ihrer Mutter vom Nachttisch stibitzt. Als ich als Teenager den ersten Ganghofer-Roman las, brauchte ich mehrere Anläufe, musste mich erst vertraut machen mit dem Dialekt, der sich sperrig las, wenn man den Klang nicht im Ohr hatte. Es gelang mir nicht sofort, sie mit den Tränen und dem wohligen Erschauern zu genießen, die sie verdienten.
Wenn ich über die Liebe nachgrübelte, hatte ich das Bild von Jörg vor Augen. Er war der Sohn des Postwirts. Die allabendliche Einkehr in der „Post“, dem einzigen Gasthaus am Ort, liebte mein Vater. Den Rest des Jahres beschwor er solche Urlaubsrituale, sie symbolisierten die Kraftquelle der Bergferien, und diese Beschwörung brachte ihm die Gelassenheit und Zufriedenheit der Ferienstimmung zurück, wenn er sich zu Hause in seinen Alltag eingeklemmt fühlte.
Ich erinnere mich an verschämtes Beobachten, wie Jörg, wenn er bei Hochbetrieb an die Tische kommen durfte, Bestellungen aufnahm oder die Suppe aus den Stahltassen in die vor den Gästen stehenden Teller goss, nicht mit dem leichtsinnigen Schwung eines Jugendlichen, den der Ernst des Lebens wenig interessiert, sondern bedächtig, versunken in die Handlung als solche, unnahbar und würdevoll. Manchmal warf er mir dann einen Blick aus seinen grünen Augen zu, vielleicht weil er spürte, dass ich ihn neugierig betrachtete, seine sommersprossige Nase, die schwarze Locke in seiner Stirn, seine kräftigen Hände, seine Schultern, seine Knie, die merkwürdig altmodischen Sandalen, die nackten Zehen . Dort in der „Post“, wo es klar war, dass er arbeiten musste, lernen, was es zu tun gab, denn er war der Erbe, eines Tages würde er den Betrieb übernehmen, benahm er sich schon wie ein Erwachsener.
Jörg faszinierte mich schon, als ich ihn das erste Mal sah, da war ich elf. Diese Faszination blieb ungebrochen bis zu meinem letzten Tirol- Urlaub viele Jahre später, als mein damaliger Freund und dessen Mutter uns dort besuchten, diese wahrscheinlich in der Erwartung, es bahne sich so etwas wie eine Verlobung zwischen uns an.
In den Jahren zwischen meinem elften und meinem einundzwanzigsten Lebensjahr führte ich zwei Leben. Eines hier in der Stadt, in der ich geboren wurde, aufwuchs und eine Zeit lang lebte. Ein anderes dort in Tirol. Obwohl sich dieses zweite Leben in maximal drei Wochen abspielte und das andere über die vielen restlichen Wochen erstreckte, wogen sie gleich schwer. Das eine Leben, das Alltagsleben mit seinem Trott, der sich nur unmerklich veränderte, wurde durchdrungen von dem anderen, das sich in meinen Tag- und Nachtträumen aufblähte wie ein verheißungsvoll schwebender Ballon voller geheimer Möglichkeiten.
3
Das Vermessungsbüro, in dem mein Vater arbeitete, befand sich in einem Nachkriegsblock direkt an der Hauptpost, dem heutigen Europaplatz. Mein Vater, ein introvertierter und meist schweigsamer Mann mit angenehmen Umgangsformen und einem Sinn für Humor, mit dem er manche kritische Situation zu entschärfen verstand, genoss großes Ansehen bei seinen Kollegen und auch bei seinem Chef. Er wurde oft mit schwierigen Projekten betraut, zu schwierigen Kunden oder Verhandlungspartnern geschickt.
Einem jener Kunden, dem Besitzer eines Baustoffbetriebs in Baden-Baden, war mein Vater besonders zugetan. Ich glaube, er bewunderte ihn, genoss es, ab und zu mit ihm im Schwarzwald auf die Jagd zu gehen und sich in männlichem Schweigen mit ihm zu verbinden. Dieser Mann gab uns die Adresse einer neu eröffneten Ferienpension am Fuß der Berge dort in Tirol, wo er sich dann und wann adligen Jagdgesellschaften anschloss und meinem Vater in schillernden Farben davon erzählte.
Die Besitzerin war die Tochter des örtlichen Käsers, eine nicht mehr ganz junge Frau mit großen hervortretenden wasserblauen Augen und einem starken Unterbiss. Sie machte einen verschlossenen, mürrischen Eindruck. Meine Großmutter entlockte den Zimmermädchen nach und nach einige Informationen: Dass Mariannes Ehemann schon eine erwachsene Tochter habe. Dass der Chef – damit meinten sie Mariannes Vater, den Käser, er war der größte Arbeitgeber am Ort – den Franz eigentlich nicht gemocht hatte, aber ihm dann wegen dem Kind, das Marianne von ihm erwartete, geholfen habe, sich aus seiner ersten Ehe zu lösen.
„Zahlt hat der Chef“, habe die Kati gesagt. Meine Oma imitierte den Tiroler Dialekt und brachte uns zum Lachen damit. Sie freute sich über unseren Beifall, aber auch darüber, dass die Mädchen ihr so zutraulich begegneten.
Wir waren die ersten Gäste überhaupt in der Pension, denn offiziell sollte sie erst Mitte September eröffnet werden. Meine Eltern bekamen jahrelang das schönste Zimmer, nämlich das einzige mit einem angeschlossenen Bad. Meine Oma wurde älter, ich wurde älter. Diese beiden Entwicklungen liefen voneinander weg. Meine Eltern blieben die gleichen. Sie befanden sich in der Mitte ihres Lebens, wo man das Älterwerden nicht merkt und kaum sieht.
4
Die lange Autofahrt über die damals schon in den Sommerwochen verstopfte A 8 wurde unterbrochen in München, wo meine Eltern sich umsahen nach Trachtenkleidung, Lederhosen, mit Hirschhornknöpfen und Eichenlaubverzierungen versehenen Jankerl, aber auch nach Bergkleidung bei „Sportscheck“, mit dessen Sortiment sie durch das Studium seiner Kataloge bereits bestens vertraut waren.
So kamen wir verwandelt an der Grenze an. Wenige Kilometer hinter der Grenze lag Aschdorf am Fuß des Zahmen Kaisers. Am Dorfende, abgerückt von den letzten Häusern und durch einen Schotterweg anzufahren, befand sich die „Pension Marianne“.
Das Programm der Sommerfrische sah vor, dass Bergwanderungen und Besichtigungsfahrten einander abwechselten. Meine Mutter vermittelte die Wünsche meiner Großmutter an meinen Vater. Es galt, etwas zu erleben, womit sie später zu Hause bei ihren Klassenkameradinnen würde renommieren können: Irgendetwas, was an den Märchenkönig Ludwig erinnerte, oder etwas, was mit seiner unglücklichen schönen Cousine, der Kaiserin Sissi, in Verbindung stand, musste unbedingt dabei sein.
Es machte mich zufrieden, wenn ich sah, wie meine Eltern auf den ganztägigen Wanderungen nach und nach die Verkrampfungen ihrer städtischen Identität ablegten, sich einem Einfach-nur-Sein hingaben, das ihnen beiden gut tat. Zu Hause beherrschten oft Spannungen zwischen ihnen die Familienatmosphäre. Das hatte vor allem mit dem der Meinung meiner Mutter nach ungerechterweise schmalen Einkommen meines Vaters und den täglichen Eintragungen im Haushaltsbuch zu tun, mit dem Kampf um kleinere oder größere Veränderungen unseres Lebensstandards. Ein Kühlschrank, eine Waschmaschine, ein neues, repräsentativeres Auto, endlich Gasöfen, die das Kohleschleppen und das Anfeuern überflüssig machen würden, neue Vorhänge. Um all das wurde gekämpft, dafür wurde gespart.
Es bestand wenig Einigkeit zwischen meinen Eltern über diese Anschaffungen. Denn meinem Vater schwebten ganz andere Dinge vor. Er träumte davon, sich eine wirklich gute Kamera zu leisten, und dann wollte er auf langen einsamen Wanderungen die Natur „einfangen“, wie er es nannte. Er wollte in Konzerte gehen, ganz vorne in der ersten Reihe sitzen. Wahrscheinlich am liebsten allein, denn meine Mutter war nicht besonders musikinteressiert. Wenn überhaupt, hörte sie sich die gängigen Schlager an, und mein Vater verzog dabei das Gesicht, als ob er Schmerzen erleiden müsste. Sie tanzte zu dieser Musik vor ihm auf und ab und er drehte den Kopf weg oder schloss die Augen. Tanzen ginge sie gerne mal wieder, das sagte sie dann, nahm seine Hände und wollte ihn dazu zwingen, aufzustehen und sich mit ihr hin und her zu wiegen und zu drehen. Da konnte er unvermittelt sehr brüsk ihre Hände abwehren und „Lass das, um Gottes Willen!“ ausrufen.
Um mehr Spielraum für die Erfüllung dieser Wünsche zu bekommen, nahm meine Mutter, als ich acht Jahre alt war, eine Stelle als Sekretärin bei einem Anwalt an. Sie machte sich zwar oft über ihn lustig, über seine Rechtschreibefehler und seine mangelhafte Fähigkeit, sich knapp, verständlich und dennoch präzise auszudrücken, aber ihm gegenüber blieb sie immer zurückhaltend und liebenswürdig. Meine Mutter war stolz, dass sie eines der renommierten Mädchengymnasien der Stadt besucht, ein gutes Abitur gemacht und danach das Lehrerinnenseminar absolviert hatte. Ihr erstes Staatsexamen hatte sie noch abgelegt, sich dann aber nach ihrer Heirat „dem Haushalt gewidmet“, war schnell schwanger geworden, hatte sich ihrem Kind „gewidmet“ und auch ihrem Mann. Irgendwann fragte ich meine Großmutter, was genau eine solche „Widmung“ bedeute. Sie zögerte, dann erklärte sie mir, eine Widmung sei eine Art Opfer. Es dauerte lange, bis ich diese Deutung mit Hilfe eines Wörterbuchs verfeinerte.
Das Mysterium einer Ehe hat sich mir nie erschlossen, da ich selbst nie geheiratet habe. Meine Beobachtungen der Paare um mich her ließen Spekulationen zu, aber unversehens konnte sich schnell das gegenteilige Bild ergeben. Meinungsverschiedenheiten sind ganz offensichtlich gerade bei langjährigen Ehepaaren nicht selten. Ich versuche, die Qualität ihrer Zweisamkeit nicht zu bewerten.
Als Kind, als Jugendliche wagte ich noch, die Ehe meiner Eltern zu bewerten. Meine Mutter ließ sich ihren Ärger deutlich anmerken. Mein Vater schwieg. Ich habe ihn niemals irgendetwas Negatives über meine Mutter sagen hören. War das Liebe? Oder waren es nur unterschiedliche Strategien für die schwierige tägliche Aufgabe, das Zusammenleben zweier sehr unterschiedlicher Menschen zu bewältigen?
Vielleicht hätte eine eigene Erfahrung mich darin klüger machen können, das alles besser zu verstehen. So wird es mir immer ein Rätsel bleiben. Damals träumte ich davon, selbst alles besser zu machen. Ich erfand mir einen Partner, der mich perfekt ergänzen sollte. Ich wollte zu ihm aufschauen können und gleichzeitig auch von ihm bewundert werden. Ich wollte, dass wir, wenn wir nebeneinander stünden, wie von einem unsichtbaren Strahlenkranz umgeben stets und ständig Einheit signalisierten nach außen. Ich wollte grenzenlose Harmonie, Vertrauen, Treue, Hingabe, Fürsorge.
Erst heute, aus dem Abstand und mit meinen eigenen Erfahrungen als Gepäck, verstehe ich, dass Liebe vor allem eines bedeutet, dass man den anderen möglichst weitgehend so sein lässt, wie er sein will, und daran Anteil nimmt. Dass man erst Einspruch erhebt, wenn es gefährlich wird in irgendeiner Form, für den anderen, für sich selbst oder für die Liebe. Dass man lernen muss, etwas gegen den eigenen Willen für den anderen zu tun, wenn es wichtig ist für diesen. Und ich weiß um die raffinierten Verflechtungen von Lust und Liebe, von Einseitigkeit und Gegenseitigkeit, vom Glück, wenn das Leben zu zweit gelingt, vom Schmerz, wenn die Liebe vergeht, von der Dankbarkeit, die einen erfüllen muss, wenn man sich verspricht, beieinander bleiben zu wollen, um all das immer wieder zu versuchen. Einer Ehe bedurfte es nicht, um diese Erkenntnisse zu gewinnen, das verbuche ich auf der positiven Seite meines Lebens.
5
In unserer Straße am Stadtrand von Karlsruhe, im ganzen Viertel ringsum standen stattliche Ein- und Zweifamilienhäuser in großen Gärten; alte Bäume verdeckten sie, hohe Gartenzäune mit verschließbaren Toren umgaben sie. Man kannte die Gesichter der Nachbarn, meine Großmutter wusste das ein oder andere über sie, das, was man so hörte, wenn man in der Metzgerei, der Bäckerei, dem Konsumladen warten musste. Meine Eltern hatten ihre Kollegen, ich hatte meine Mitschüler, meine Großmutter traf sich einmal im Monat mit ihren Klassenkameradinnen. Es gab keine Familienangehörigen, keine Freunde. Unsere Geburtstage feierten wir zu viert. Alle ausnahmslos. Ich wurde ab und an zu Kindergeburtstagen eingeladen, nicht immer durfte ich annehmen. Es wurde sorgfältig sortiert nach Gesichtspunkten, die mir verborgen blieben. Die Frage „Wo wohnt die Familie und was ist der Vater von Beruf?“, wurde gestellt, was sie aus meinen Antworten schlossen, erklärten sie mir nicht.
Wie anders verhielten sie sich dort in den Ferien! Sie legten ihr Misstrauen ab, wurden redseliger, wie befreit von einem Korsett, das sie sich zu Hause angelegt hatten. Auch für mich wurde die Welt interessanter. Die Menschen dort in der Pension, Marianne und die Mädchen, die ihr halfen, die anderen Feriengäste, die Dorfbewohner, Jörg und seine Eltern, die Wanderer und die Senner glichen so gar nicht den unscheinbaren Nachbarn von zu Hause. Sie schienen Ludwig Ganghofers Romanen entstiegene Wesen zu sein.
Meine Großmutter und meine Mutter suchten das Gespräch mit jedem, der sich dafür anbot, machten sich einen Spaß daraus, die Menschen einzuordnen in Kategorien, ergänzten, was man ihnen nicht offenbarte, erschufen Dramen und Romanzen, wo vielleicht keine waren. Mein Vater aber verlor manchmal die Geduld mit ihnen. Er mochte es nicht, wenn man die Menschen nicht das sein ließ, was sie seiner Meinung nach waren, gekapselte Rätsel, die man allenfalls berühren, niemals aber zu entschlüsseln wagen sollte. Er schloss von sich auf die anderen. Auch er wollte sich nicht in sein Innerstes blicken lassen. Wenn man ihm zu nahe trat, verzog er sich hinter den Rauch seiner Zigaretten oder hinter seine Bücher.
Unser erster Sommer in Tirol war wunderbar. Für die Oma wurde mit dieser Sommerfrische angeknüpft an die Ferien ihrer Jugendzeit, wo ihr Leben noch voller Verheißungen für eine glänzende Zukunft vor ihr gelegen hatte. Dass es sich dann anders für sie entwickelt hatte, dass sie viel hatte „durchmachen“ müssen, war eine der Formeln, die ich damals noch nicht entschlüsseln konnte. Aber gerade die Ferien dort in den Bergen machten alle drei Erwachsenen gesprächig und sie gaben das ein oder andere ihrer Geheimnisse preis. Ich musste die Episoden zusammensetzen, ganz allmählich entstand dadurch ein Bild, eines mit etlichen weißen Flächen allerdings. Glanz und Gloria der Kaiserzeit, wo es bei uns in Karlsruhe den Großherzog gab und den „Hof“, die Hofbeamten und ihre Familien. Dazu gehörte meine Großmutter. Sie hatten einen „gesellschaftlichen Rang“, eine Position weiter oben in der Hierarchie der sozialen Klassen. Das sind die Begriffe, die mir heute zur Verfügung stehen. Damals stellte ich mir vor, dass sie in rüschenbesetzten Kleidern mit Bändern am Hut durch den Schlosspark schritten und am Wegrand die grau gekleideten einfachen Leute standen und sie bewunderten. Mein Vater wurde böse, wenn er das bemerkte.
„Setzt dem Kind nicht diese Flausen in den Kopf. Sie soll doch lernen, worauf es wirklich im Leben ankommt.“ Aber er sagte mir nicht, was das wäre. Er nahm den Frauen meine Erziehung nicht aus der Hand. Lieber verzog er sich hinter den Nebel seiner Zigaretten und blieb dort unsichtbar.
Die größte Leerstelle im Geflecht ihrer Erzählungen, das waren die Jahre des Kriegs. Ich spürte, dass alles, was mit ihm zusammenhing, zu schrecklich war, um darüber zu sprechen. Drängte sich ihnen eine Erinnerung auf, dann konnten sie sich mühelos mit einem einzigen Schlüsselwort, das mich außen vor hielt, darüber verständigen, so als ob es eine Grenze gäbe, einen Graben, den ich niemals würde überwinden können.
In diesem ersten Sommer gingen meine Oma und ich täglich ins nahe gelegene Schwimmbad. Man hatte Wasser aus dem Bergbach in einem schmucklosen Betonbecken aufgestaut, ein paar Bretterbuden als Umkleidekabinen und einen hölzernen Turm für einen Bademeister daneben gebaut.
Mariannes Baby wurde täglich „gehütet“ von einem Mädchen aus dem Dorf, das ungefähr mein Alter hatte. Ermutigt durch die gelockerten Regeln im Umgang mit den Menschen dort, versuchte ich, mich diesem Mädchen zu nähern, lächelte ihr verschämt zu, winkte ihr, wenn ich sie auf der Terrasse sah, rief ihren Namen: „Monika“. Als ich sie das erste Mal im Schwimmbad sah, sprach ich sie an, ob sie mit mir Federball spielen wolle und verabredete mich für den nächsten Tag mit ihr.
Bald schon kannte meine Oma auch ihre Geschichte. Monikas Mutter war eine Deutsche. Gleich nach Kriegsende war sie mit einem Flüchtlingstreck aus Ostpreußen in den Süden gekommen. So wie etliche andere Vertriebene war sie im deutschen Ort direkt über der Grenze hängen geblieben. Beim Tanzen lernte sie in Rietdorf den Sohn eines Bauern aus Aschdorf kennen und heiratete ihn „schnell“ – ich sehe meine Großmutter bedeutungsvoll mit den Augen rollen. Monikas Bruder war also einiges älter als sie, Monika ein Jahr älter als ich.
Nachdem wir uns angefreundet hatten, trafen wir uns auch in der Pension, wenn sie die kleine Christine hütete. Sie ließ mich ein in Mariannes Küche, wenn sie das Fläschchen zubereitete, das Baby fütterte, ihm eine frische Windel anlegte und die verschmutzte geschickt an einem Trog vorsäuberte, danach in einem bereitgestellten Eimer einweichte, ein mir fremdes „erwachsenes“ Verhalten. Noch nahm man mir zu Hause alles ab, was mit irgendwelchen Unannehmlichkeiten verbunden war, dazu gehörte auch Schmutz.
Monika war ernst und auf eine zurückhaltende Weise selbstbewusst. Ganz offensichtlich konnte sie frei über ihre Zeit verfügen. Sie bewegte sich nicht in einem Korsett von Dürfen und Müssen. Es umgab sie etwas Pipi Langstrumpfhaftes, das mich von Anfang an in ihren Bann schlug. Sie kam, wann sie gebraucht wurde. Auch am Abend. Fuhr dann mit ihrem Fahrrad bei Dunkelheit wieder nach Hause. Sie erhielt Geld für ihre Hilfe, das sie in einen kleinen Beutel steckte, den sie um den Hals trug. Manchmal trafen wir sie beim Kolonialwarenladen im Dorf, wenn sie sich dort etwas Süßes kaufte. Mit der Ernsthaftigkeit eines Händlers ließ sie sich die Preise nennen, wählte dann mit Bedacht, holte die Münzen aus dem Beutel und steckte ihn wieder unter ihr Kleid. Vor meinen Augen zerbiss sie die Schokolade, ungeniert, ohne mir etwas anzubieten. Das wäre für mich nie in Frage gekommen. Ich war so belehrt von meiner Großmutter, immer erst dem anderen etwas anzubieten, bevor man selbst etwas isst in Gegenwart anderer Leute. Aber an Monika beobachtet, erhielt dieses „So-etwas-tut-man-nicht“-Verhalten eine neue Dimension. Es war nicht ungezogen oder „ungebildet“ – das Lieblingsschlagwort meiner Mutter, mit dem sie sich erfolgreich gegen Leute abschottete, die sie nicht leiden konnte –, es erschien mir unglaublich kühn und beneidenswert unabhängig. Monika trug ihre eigenen Gesetze in sich, sie schützten sie wie ein Feenzauber.