Kitabı oku: «Der Grenadier und der stille Tod», sayfa 3

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Die holprige Straße, die lange Zeit an Feldern vorbeigeführt hatte, stieg jetzt merklich an, die Bäume rückten näher, wie eine undurchdringliche schwarze Mauer baute der Wald sich vor ihr auf. Madeleine hielt Ausschau nach einer vertrauten Wegmarke, nach dem großen Stein, hinter dem es in den Wettersbacher Wald hineinging. Nach der vom Blitz getroffenen Eiche, in deren Höhlen und Geäst Hexen und Gnome hausten. Sagten die Leute. Tagsüber glaubte Madeleine nicht an solches Gerede. Aber jetzt, in der Dunkelheit …

Wieder lauschte sie. Überall wisperte es.

»Tiere haben genauso viel Angst vor dir wie du vor ihnen«, sagte sie laut und zwang sich weiterzugehen.

Vielleicht wäre es ja besser, sie würde sich einfach hinsetzen, hinein in den Schnee. Angeblich ginge es schnell. Der Schnee wärme, man schlafe ein und wache nicht mehr auf. Vor zwei Jahren hatten sie in der Kälberklamm einen Holzfäller aus Busenbach gefunden, erfroren. Wahrscheinlich ungewollt, denn warum sollte ein Mann freiwillig den Tod suchen? Ein Mann wurde schließlich nicht schwanger.

Bekam man vom Küssen im Hardtwald ein Kind?

Es war nicht beim Küssen geblieben.

Madeleine wurde trotz der Kälte heiß. Sie stolperte vorwärts, kein Licht, nirgends, und der Grenadier Sobringer hatte sich seit jenem Nachmittag nicht mehr blicken lassen. Tränen liefen Madeleine übers Gesicht.

5

Die alte Matrone an der Theke, die ihn an die Mutter seiner Beschützerin erinnert, beäugt ihn schielend, zwinkert ihm zu, aber er bedeutet ihr mit der Hand, dass er nicht will. Vielleicht, wenn es das Narbenmädchen wäre … um unter der weichen Wärme ihres Kleids Vergessen zu finden … Andererseits ist er froh, dass sie nicht da ist. Sein Geld reicht nur für Brot und einen Teller Brühe, und er hat Hunger, gewaltigen Hunger.

Die Suppe, die er bekommt, füllt ihm den Bauch, aber nicht die Leere in ihm, die er seit dem Morgen auf dem Richtplatz verspürt. Eine Leere wie damals, als der Vater von ihm gegangen ist und ihn allein zurückgelassen hat. Er ist doch noch ein Kind gewesen.

An dem Tag, an dem der Vater sich hinlegte und nicht mehr aufstand, hat flirrende Hitze geherrscht. Überall im Haus, im Hof, im Abtritt, überm Wassertrog tanzten Flügeltierchen, ein besonders fettes krabbelte dem Vater über die Nase. Der machte keine Anstalten, es zu verjagen. Er musste es tun, wedelte mit den Händen vor dem Gesicht des Schlafenden herum, ohne dass dieser auch nur mit den Wimpern zuckte. Dann kamen Männer, legten den Vater in eine Kiste und verschlossen sie. Er verstand nicht. Wollte wissen, was mit dem Vater war. Aber sie schoben ihn beiseite wie einen Sack, der im Weg stand. Am Abend war die Mutter mit ihm an der Hand auf das Feld hinter dem großen Feierlichen Haus am Markt gegangen. Als andere Männer den Kasten an langen Seilen in ein Erdloch senkten, schaute er die Mutter fragend an, aber sie hatte ihn losgelassen und blickte ausdruckslos über seinen Kopf hinweg.

Der Vater fehlt ihm. Der Vater hat ihm immer alles erklärt. Dass er nicht ins Feuer langen darf, dass Messer scharf sind und er auf der Straße in alle Richtungen schauen und seine Augen offen halten muss, damit ihn die Wagen und großen Tiere nicht umreißen. Der Vater legt sich die Hände auf die Ohren, öffnet sie wieder, bewegt die Lippen. Tut das Gleiche bei ihm, verschließt seine Ohren, nimmt die Hände wieder fort, bedeutet ihm mit den Fingern, den Mund zu bewegen. Er tut es, sperrt den Mund auf, klatscht in die Hände, es ist ein lustiges Spiel, nur der Vater bleibt ernst. Da begreift er: Er hat andere Ohren und einen anderen Mund als der Vater. Was daran anders ist, weiß er nicht, versteht nur, dass der Vater, die Mutter, seine Schwestern, die Menschen auf der Straße über Ohren und Mund Dinge mitbekommen, die er nicht mitbekommt. Er versucht, ihre Lippenbewegungen nachzuahmen und zu erkennen, was sie damit meinen. Manchmal klappt es. Wenn der Vater seine Lippen zu einem Kreis formt und ihm winkt, weiß er, dass dieser ihn ruft. Oder dass der Vater »Wasser« meint, »geh Wasser holen!«, wenn er in einer bestimmten Art und Weise den Mund aufsperrt und ihm den Eimer in die Hand drückt. Jeden Tag übt der Vater mit ihm. Wasser, Löffel, Tisch, Stuhl, Brot, gestikuliert er. Und: ein Schuh, zwei Schuhe, und zeigt dazu Schuhe und einen oder, je nachdem, zwei Finger. Ein Teller, zwei Teller, drei Teller. Ein Licht, zwei Lichter, drei … und der Vater zündet die entsprechende Anzahl Kerzen an, doch die Mutter pustet sie wieder aus, erbost. Und er lernt: Kerzenlicht ist teuer. Damit darf man nicht spielen.

Eines Tages hat ihn der Vater mitgenommen zu dem hoch aufragenden Gebäude am anderen Ende des schnurgeraden Gässchens, in dem sie wohnen. Auf dem Dach war ein langer Stab angebracht, der in den Himmel zeigte, blinkte und ihn lockte. Dort hinauf wollte er und wie die kleinen und großen Flügeltierchen die Erde von oben schauen. Er hat den Vater so lange am Ärmel gezupft, bis dieser sich erbarmt hat und mit ihm dorthin gewandert ist.

Das Hohe Haus stand am Ende eines weiten Platzes. Davor und zu beiden Seiten lagen mehrere niedrigere Häuser. Schön waren sie, schöner als alle anderen Häuser, die er kannte. Das mittlere schien ihm das prächtigste zu sein. Männer und Frauen in eleganter Kleidung spazierten über die mit feinen Steinchen belegten Wege. Eine Kutsche fuhr vor und hielt vor der breitesten der Türen. Aus einer der Seitenpforten trat ein Mädchen mit einem mächtigen Henkelkorb, ein Tuch verdeckte, was darin lag. Doch als sie an ihm und dem Vater vorbeieilte, roch er den Duft von frischem, süßem Brot, wie es der Bäcker in ihrer Straße buk und von dem er nur träumen konnte.

Ein Herr lebt hier, bedeutete der Vater und malte mit einer Hand einen Hut auf dem Kopf, ein Großer Herr, der über alles herrscht. Und der Vater ließ seinen Arm in einer ausladenden Bewegung über die Stadt kreisen, über Gebäude, Straßen, Bäume, über Männer, Frauen und Kinder.

Noch am selben Tag bekam er den Großen Herrn zu sehen. Eine erwartungsvolle Menschenmenge hatte die lange Morgenabendstraße gesäumt. Der Vater hob ihn hoch und setzte ihn auf seine Schultern. Über die Köpfe hinweg sah er Männer in fast gleich aussehender Kleidung vorbeiziehen. An den bunten, sauberen Röcken schaukelten farbige Schnüre. Über den Schuhen trugen die Männer seltsame Unterbeinkleider und auf den Köpfen breitkrempige oder nach oben spitz zulaufende, manchmal metallisch glänzende Hüte. Der Vater drehte ihm, so gut es ging, den Kopf zu: die Männer des Großen Herrn, seine Bewacher, Wächter, Diener, verstand er.

Er beugte sich vor, um dem Auf und Zu von Vaters Mund zu folgen und dessen Bewegungen nachzuahmen. Da rollte die erste Kutsche vorüber. Und noch eine und noch eine. Die letzte war die prachtvollste. Fähnchen flatterten daran. Der Lenker auf dem Bock und die Männer, die den Wagen zu Fuß begleiteten, trugen die gleiche feine Kleidung wie die Vorab-Marschierer. In der Karosse aber saß, majestätisch aufrecht und freundlich winkend, der Große Herr. Der Große Herr war gekommen, ihn zu grüßen. Begeistert winkte er zurück.

So leicht wie mit dem Vater verstand er sich mit niemandem, selbst mit seiner Beschützerin nicht, obwohl diese ihm doch die Nachtlichter gezeigt und mit ihm Bilder in den Sand gemalt hat. Die Laterne am Himmel, die mal rund und dick wie eine Kugel war, dann wieder verschwindend dünn und schmal. Oder ein Gesicht mit Augen, Nase und Mund, sein Gesicht, oder ihren Kopf mit den langen Haaren. Manchmal auch einen Baum, ein Haus und die flitzenden Wassertierchen im Steineschiffkanal.

Am schwierigsten war es, die Mutter zu verstehen. Das heißt, er verstand sie, aber sie ihn nicht, und den Schwestern war er nur lästig. Die kicherten albern, äfften ihn nach und ließen ihn nicht mitspielen. Er streckte ihnen dafür die Zunge raus, zeigte ihnen eine lange Nase, und wenn sie dann immer noch nicht aufhörten, ihn zu ärgern, verprügelte er sie, bis die Mutter dazwischenfuhr und ihn schlug. Die Mutter schlug oft. Einmal sogar im Feierlichen Haus am Markt.

Das war nach dem Tod des Vaters, die Mutter hatte ihn und die Schwestern dorthin mitgenommen. Für ihn war es das erste Mal, dass er das Haus von innen sah, und staunend stand er vor den mächtigen gekreuzten Holzbalken, die vorn im Raum in die Höhe ragten. Doch die Mutter zog ihn weg von dort und zu sich nach hinten.

Mit einem Mal begann die Luft zu schwingen, zuerst sanft und zart, und schwoll schließlich an zu einem Beben und Zittern. Die Menschen öffneten die Münder und klappten sie wieder zu, auch die Mutter und die Schwestern taten es. Das Zittern erfasste seinen Körper, fuhr ihm in den Bauch, erfüllte ihn mit einem überwarmen Gefühl, und inbrünstig öffnete auch er den Mund. Ihm war, als spränge etwas Großartiges aus ihm heraus.

Doch die Menschen stierten ihn an, entsetzt, empört, angewidert, einige feixten böse oder verlachten ihn. Die Schwestern schauten betreten zu Boden. Und die Mutter schlug zu. Schlug ihn auf den Mund, auf den Kopf, hätte vielleicht gar nicht mehr aufgehört mit Schlagen, wenn nicht eine Frau ihr in den Arm gefallen wäre. Heulend rannte er hinaus auf die Straße. Das Feierliche Haus hat er nie wieder betreten.

Viele Tage später hatte ihn sein Vaterbruder nahe der Kiesgrube jenseits des Steineschiffkanals gefunden.

Es war auch der Vaterbruder, der ihn gelehrt hat, den Kehrbesen zu führen und die Straßenfegerkarre zu lenken. Der ihm zeigte, wo er abends vor den Toren der Stadt den Unrat abliefern musste und seinen Lohn bekam. Auch Zeichen malte der Vaterbruder auf Papier, Zeichen, wie er sie immer in und an den Geschäften der langen Morgenabendstraße sah. Er erkannte Zusammenhänge zwischen den Strichen und Kreisen und den Dingen. »Bett« war leicht, auch »Tisch« oder »Mond«, das »o« war so rund wie der helle Lichtkörper oben am Himmel, und der Mund des Vaterbruders formte sich genauso rund wie zuvor der Mund des Vaters für »komm«. Und er lernte die Zeichen, die für ihn standen: I-g-n-a-t-z. I-g-n-a-t-z kritzelte er und deutete auf sich, nur die Bewegung der Lippen dazu gelang ihm nicht.

Er wollte mehr erfahren. Er schleppte Blätter an, die über und über beschriftet waren. Doch der Vaterbruder bedauerte, und er, I-g-n-a-t-z mit dem Andermund, verstand: So viele Zeichen begriff auch der Vaterbruder nicht. Doch die Blätter behielt er für sich, verwahrte sie an einem geheimen Ort, und sah er in einem Laden neue, wartete er, bis keiner schaute, griff sich ein paar und schlenderte weiter, als sei nichts geschehen. Das weiche Papier fühlte sich gut an in seiner Hand.

Der Schankwirt hat ihm zu trinken gebracht, und was die Suppe nicht schaffte, gelingt dem süffigen Getränk. Es benebelt ihn. Nicht sehr, nur so viel, dass er die verfluchte Leere nicht mehr spürt, seine Beschützerin nicht mehr vermisst, für eine Weile nicht mehr an den Vater denken muss. Der Mann am Nebentisch grüßt und hebt sein Glas. Er prostet zurück. Durchs Fenster sieht er, dass es zu schneien aufgehört hat. Er könnte jetzt zum Markt gehen und schauen, ob die Händlerinnen wegen des Geschehens am Vormittag den Verkauf auf den Nachmittag verlegt haben. Vielleicht ist das Mädchen da.

Das Mädchen hat Augen so tief wie der tiefste Brunnen. Die glänzenden, nachtdunklen Haare trägt sie zu einem Knoten hochgebunden, der von einem zierlichen Häubchen bedeckt ist. In den Ohrläppchen stecken blinkende Steine in der Form winziger Blüten. Himmelfarbene Sonnenblümchen. Das Mädchen muss stark sein wie seine Beschützerin früher, sonst könnte sie nicht den großen Korb mit dem schweren Deckelkrug und den Früchten tragen, deren Schalen so hart sind, dass man sie mit einem Werkzeug oder, geschickt dazwischengeklemmt, mit den Fingern aufbrechen muss.

Das Mädchen Blümchen ist von weit her. Er hat die Erdklumpen unter ihren Schuhsohlen gesehen und die Dreckspritzer auf den Strümpfen. In der Nacht, bevor sie ihm das erste Mal aufgefallen ist, hat es geregnet gehabt. Wahrscheinlich war der Weg, auf dem sie gekommen ist, schlammig, führte vielleicht durch sumpfige Wiesen.

Was ihm an jenem Tag den Mut dazu gab, weiß er bis heute nicht. Seine Beine bewegten sich von allein. Die anderen Händlerinnen bauten bereits ihre Stände ab, Blümchen verabschiedete noch eine Kundin. Dann ging er hin und half ihr, das Gefäß mit dem sonnenduftenden Sirup zu verschließen und in ihrer Kiepe gut festzuzurren, damit es beim Gehen nicht kippte und die klebrige Flüssigkeit auslief. Er hob den Tragekorb hoch und hielt ihn ihr hin, damit sie ihn leichter schultern konnte, doch er wartete nicht ab, dass sie sich danach wieder umdrehte, fürchtete die Bewegung ihres Mundes, lief davon, als fliehe er, und beim Weglaufen biss sich diese Wut in seinen Bauch, diese maßlose Wut, von der er meinte, er hätte sie längst besiegt.

Der Marktplatz liegt verwaist. Einzig ein kleines Mädchen schlittert vergnügt in der Spurrille eines Fuhrwerks, ein Vierbeiner pinkelt gegen eine Hauswand und hinterlässt ein strohfarbenes Bächle, ein Kaufmann streut Asche vor seinem Laden. Die Locken, die dem Mann unter seiner Kopfbedeckung bis fast auf die Schultern fallen, wippen im Takt. Wenn die Temperaturen weiter anziehen und es über Nacht gefriert, wird auch er morgen früh, statt zu kehren, die Hauptstraße mit Asche bestreuen, damit sich niemand den Hals bricht. Er schaut zum Himmel, noch ist es hell. Er könnte jetzt zum Gürtelmacher gehen und dort die Werkstatt sauber machen. Der Mann hat ihn vor ein paar Tagen darum gebeten.

Da sieht er auf der Morgenabendstraße im streng geschnittenen farbigen Rock, mit glitzernden Litzen und einem langen Waffenmesser an der Seite, einen der Wächtermänner des Großen Herrn daherkommen. Von Weitem erkennt er ihn nicht, aber beim Näherkommen und dann, als der Buntrock an ihm vorbeigeht, weiß er, wer es ist.

Der Mann beachtet ihn nicht, er scheint es eilig zu haben. Im Übrigen hat der Buntrock ihn noch nie beachtet. Warum sollte er auch? Wer ist er denn schon mit seinen Anderohren und seinem Andermund? Er trägt auch keinen schmucken Hut und keine blank geputzte Waffe, keine Schärpe um den Bauch und keine geknöpften Beinkleider über seinen ausgelatschten Tretern.

Er schaut dem Buntrock nach, der in Richtung Abendtor geht.

Wenn er ihn so beobachtet, den Gang, die aufrechte Haltung, kann er seine Beschützerin aus Kindertagen verstehen. Er ist ein schöner Mann. Frauen sehen gern schöne Männer, schauen ihnen heimlich hinterher. Schöne Männer scheinen etwas Anziehendes an sich zu haben. Er hat noch nie bemerkt, dass Frauen sich nach ihm umdrehen.

Seit der schöne Buntrock bei den Nachbarn einquartiert war, strahlte das Gesicht seiner Beschützerin wie die Sonne an warmen Tagen. Er hat sich gefreut für sie. Doch dann ging der Schöne weg, und sie veränderte sich, hörte auf zu lachen, floh aus sich heraus. Ein verletztes Tier.

Er erfasste das Geschehen erst an jenem Morgen vor zwei Monden, als eine Menschentraube vor ihrem Haus die Gasse unpassierbar machte. Als die Hausweiber, aufgescheucht wie Federvieh, herausgeschossen und wieder hineingerannt sind. Als die Frau gelaufen kam, die gerufen wird, wenn in der Umgebung ein Kind zur Welt kommt. Als die Mutter seiner Beschützerin sich die Haare raufte und nicht aufhören konnte, mit den Händen zu fuchteln. Bald danach erschienen Männer in gewichtiger Robe, verschwanden im Haus, und als sie nach langer Zeit wieder herauskamen, führten sie seine Beschützerin mit sich. Einer trug das in ein Tuch gewickelte Kind. Ein Ärmchen hing an der Seite herab, als ob es nicht zum Körper gehörte. In dem Moment, in dem die junge Frau von einem Grobian von Mensch wie ein Stück Vieh an ihm vorbeigetrieben wurde, blickte sie auf. Sah ihn an. Warum hast du mir nicht geholfen?, verstand er, tu doch was, tu doch endlich was!

Der Buntrock ist nur wenige Schritte vor ihm.

Er könnte ihm jetzt von hinten ein Messer zwischen die Rippen stoßen.

Er hat kein Messer.

Aber packen könnte er ihn. Würgen. Erschlagen mit einem Knüppel. Sie hat ihr Kind erschlagen, er würde ihn erschlagen. Tu’s doch!

Am Brunnenhaus biegt der schöne Buntrock in die gegenüberliegende Gasse ein, die wie alle von der Hauptstraße abgehenden Querstraßen auf den weiten Platz der prächtigen Häuser mündet, wo das Hohe Haus aufragt und sich zu beiden Seiten die Wohnräume des Großen Herrn und dessen Diener anschließen. Er muss rennen, um den Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Kommt an die Ecke, linst vorsichtig in die schmale Gasse. Es beginnt schon zu dämmern. Außer dem Buntrock ist niemand mehr unterwegs.

Ein Holzprügel ragt aus dem Schnee heraus. Als er sich danach bückt, schwingt vor ihm ein Hoftor auf. Zwei Männer in grober Arbeitskleidung schieben einen mit Fässern beladenen Wagen heraus. Er muss sie vorbeifahren lassen. Als er wieder freie Sicht hat, ist weit und breit niemand mehr zu sehen. Das Grundstück neben dem Fässerwagenhaus ist eine Brache, eine öde, vermüllte Baulücke.

Missmutig wirft er das Holz fort. Geht trotzdem weiter. Langsam. Prüft unauffällig aus den Augenwinkeln heraus die Hauseingänge. Wohnt der Mann jetzt irgendwo hier? In einem Fenster brennt Licht. Sein Zimmer? Er will die Torklinke herunterdrücken, um zu sehen, ob sie nachgibt. Da kommt ihm vom Platz der prächtigen Häuser eine in einen langen Umhang gehüllte Gestalt entgegen, und er zieht seine Hand zurück.

Die Person, von der Statur her ein Mann, hinkt, nicht sehr, nur ein bisschen, vielleicht aus Angst, im Schnee auszurutschen. Als sie beide auf gleicher Höhe sind, mustert der Unbekannte ihn kurz, wendet aber sofort den Kopf ab.

Er passiert ein Haus und noch eines, bevor er sich nach dem Hinkenden umdreht.

Der hat die Einfahrt erreicht, aus der der Fasswagen herausgefahren ist, bleibt jetzt stehen und dreht sich ebenfalls um. Einen Atemzug lang fixieren sie sich gegenseitig. Aber die Entfernung ist groß, das Licht schummrig. Er kann nicht erkennen, wer die Person ist.

Kurz vor dem weiten Platz schaut er sich ein zweites Mal um.

Er hat es geahnt: Die hinkende Gestalt ist den Weg wieder zurückgelaufen, nur ein kurzes Stück, und hält jetzt vor dem unbebauten Grundstück neben dem Fasswagenhaus, zögert und verschwindet auf dem Gelände.

6

Sie waren schnell fertig. Zu Simons Erleichterung schien der Neue ein schweigsamer Zeitgenosse zu sein, nicht so ein neugieriger Bursche wie der letzte, der Wunder weiß was alles wissen wollte und ihm Löcher in den Bauch fragte. Von woher er sei, wie es sich lebe im markgräflichen Regiment, was er dabei verdiene, ob er schon mal im Schloss gewesen sei und es stimme, dass die Frau Markgräfin Bücher sammle und so schön male, wie es die Leute erzählten, ob der Bauplatz hier ihm gehöre und er bauen wolle, ob er ihn nicht mal auf einen seiner Streifzüge mitnehmen könne? Ein Plagegeist, dieser Bengel, er hatte sich krampfhaft überlegt, wie er ihn loswerden könnte. Vor ein paar Tagen erfuhr er dann, dass der Bursche seinen Brotherrn beklaut habe und mit dessen Geld stiften gegangen sei. Sehr gut. Damit hatte sich das Problem erledigt. Der Nachfolger würde hoffentlich nicht seine Nase in alles hineinstecken.

Er reichte dem Neuen den Sack, den er wie immer schon vorbereitet hatte, und ohne sich für den Inhalt zu interessieren, verstaute dieser ihn unter seinem weiten Umhang.

»Ich wollt, ich wär schon wieder zurück«, brummte der Mann, »bei so einer Kälte schickt man doch keinen Hund vor die Tür. Ob sie die Hinrichtung heute Morgen verschoben hätten, wenn sie gewusst hätten, dass es schneien wird?«

Simon gab keine Antwort. Der Bote hatte wohl auch keine erwartet, er trat aus dem Schatten der Hausmauer und schaute in den schwarzen Himmel. Dann schweifte sein Blick über das Gelände, das rechts und links von niedrigen zweistöckigen Wohnhäuschen eingeschlossen war. Nach hinten begrenzte ein Lattenzaun das Areal.

»Warum baut hier keiner?«, wunderte sich der Mann. »Das ist doch beste Lage. Feine Umgebung, noble Herrschaften, das Schloss in nächster Nähe. Oder ist hier ’ne Leiche verbuddelt, die um Mitternacht aufwacht und herumspukt?« Er keckerte provozierend. Als im Haus gegenüber ein Hund zu kläffen begann, senkte er die Stimme. »Man sollte zugreifen, bevor es zu spät ist. Noch ist der Boden in Carlsruhe billig. Aber die Preise werden anziehen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Halt doch deinen Rand, lag es Simon auf der Zunge. Aber er hielt sich zurück, ballte die Fäuste, um nicht ausfällig zu werden. Er hatte sich wohl getäuscht, der Neue war genauso ein Schwätzer wie der alte. Schade. Er würde auf der Hut sein müssen. Aber recht hatte der Kerl schon. Die Lage des Grundstücks war hervorragend, besser ging es gar nicht. Und der Markgraf gewährte Bauhilfen. Natürlich nur denen, die es ohnehin dicke hatten. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Er als kleiner Soldat konnte da nicht mithalten, egal wie günstig die Preise waren.

Doch das würde sich ändern. Dreiundzwanzig war er jetzt. In fünf Jahren, hatte er sich vorgenommen, wollte er den Majorsrock tragen, mindestens – und darunter eine prall gefüllte Geldkatze.

»Gehen wir!«, befahl er harsch und bahnte sich seinen Weg an Gestrüpp, Steinen und altem Gerümpel vorbei vor zur Lammgasse. Er horchte nach hinten, ob der andere ihm folgte, und nahm beruhigt die im Schnee knirschenden Schritte des Mannes wahr. Dass ihre Spuren sie verraten könnten, war ärgerlich, aber nicht zu ändern. Er hoffte, dass es in der Nacht wieder schneite, damit die Fußstapfen verwischten.

Dann standen sie auf der Gasse. Links glaubte er, eine Bewegung wahrzunehmen. Der Schatten eines Menschen? Vielleicht narrte ihn aber auch der flackernde Schein einer Kerze, der von einer Mansardenluke auf die Straße fiel. Irgendwo wurde ein Fenster geschlossen, leise, als solle es niemand hören. Er blickte die Häuserfronten entlang. Nichts. Nur ein Krächzen. Ein später Vogel, oder hatte sich jemand geräuspert? Unwirsch zuckte er mit den Schultern, überall sah und hörte er schon Gespenster.

Als sie sich an der Langen Straße trennten, schnauzte er den Boten schärfer an als nötig: »Gebt mir in Zukunft früher Bescheid, die Zeit war dieses Mal knapp bemessen.«

Dem Patron musste doch klar sein, dass er Soldat war und Pflichten hatte und nicht über beliebig freie Zeit verfügte. Andererseits, der Mann zahlte ordentlich, mehr als ordentlich, das musste man ihm lassen.

»Na, nix für ungut«, brummte er.

Die Straße war glatt. Simon musste aufpassen, wo er hintrat. Er hatte keine Lust, zu stürzen und sich die Knochen zu brechen. Warum hatte hier noch keiner gestreut? Höchste Zeit auch, dass die Stadt die Straßen endlich pflastern ließ. An der Waldhorngasse hatten sie angefangen und wieder aufgehört, dann wieder weitergemacht und wieder aufgehört. Arbeiter! Das waren nicht die schnellsten Zeitgenossen, die der Herrgott erschaffen hatte. Aber die oberen Finanzverwalter waren auch nicht viel besser. Was nichts kostete, wurde sofort erledigt, alles andere, wenn der Mond blau war.

Er querte den Marktplatz, der unter einer geschlossenen Schneedecke lag. Die dunkle Masse der Concordienkirche zeichnete sich gegen den Himmel ab. Hinter der kleinen Kreuzgassenkirche der Reformierten näherte sich der Nachtwächter, leuchtete ihm ins Gesicht und grüßte schweigend. Simon fiel das verdächtige Fenster wieder ein. Hatte eine Hausfrau oder eine Magd vor dem Schlafengehen noch frische Luft ins Zimmer gelassen und beim Schließen einfach nur Rücksicht auf die Nachbarschaft genommen? Oder waren er und der Bote beobachtet worden? Sollte er das Versteck wechseln? Schon wieder?

Am Anfang hatte er vor der Stadt nahe dem Rintheimer Feld eine verfallene Scheune ausfindig gemacht, die für seine Zwecke bestens geeignet schien. Aber nach einiger Zeit wurden die Wächter am Durlacher Thor misstrauisch, frugen ihn aus, wenn er wieder mal die Stadt ohne Kompagnie verließ, und dann war unvermittelt eine Patrouille aufgetaucht. Er musste das Weite suchen. Das nächste Versteck lag bei Gottesau. Von dort führte ein verborgener Trampelpfad in die Residenz. Dafür aber schlichen ständig Tagelöhnerinnen, Feldarbeiter und Schmuggler in der Gegend herum, und wieder befürchtete er, entdeckt zu werden. Bis er eines Tages mitten in der Stadt im wahrsten Sinn des Wortes über diesen leeren Bauplatz stolperte, genauer gesagt über eine im Weg liegende Stange. Während er sich hochraffte, bemerkte er im Zaun eine Lücke zum Nachbargrundstück. Neugierig ging er nachschauen und erspähte dahinter, versteckt unter Bäumen und Büschen, so etwas wie eine Hütte, einen von hohem Gras und Kletterpflanzen überwucherten verlassenen Schuppen.

Eine Zeit lang beobachtete er den Ort, dann richtete er ihn her und besorgte sich für die Tür ein Vorhängeschloss. In den beschädigten Zaun passte er Latten ein, die er leicht abnehmen und wieder davorklemmen konnte. Der Durchschlupf würde nur jemandem auffallen, der direkt danach suchte. Allerdings müsste er aufpassen, falls das Grundstück eines Tages verkauft werden würde und jemand zu bauen anfing. Aber darüber wollte er sich jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen. Vielleicht könnte er ja tatsächlich selbst … wenn das Geschäft weiterhin so gut liefe …

Die feinste Adresse war Heberles Schankstube in der verlängerten Adlergasse nicht. Es stank nach verpesteter Luft, Schimmel und Nierle in saurer Soß. Der Schnaps war Fusel, der Wein lausig, aber bezahlbar.

Die Kameraden waren noch nicht da. Simon setzte sich an ihren Stammtisch, Johanna brachte ihm zu trinken.

»Auch was essen?«

Er schüttelte den Kopf.

Vom Nachbartisch wehte Tabaksdunst herüber. Dreckiger Verschnitt wie zu Hause in Landeck. Er hasste die Erinnerung daran. Wenn es wenigstens reines Kraut wäre, wie es der Herr Major zu rauchen pflegte.

Natürlich hatten sie damals unbedingt auch rauchen wollen. Er. Fischers Arthur, der mit seinen zehn Jahren der Jüngste gewesen war. Dem Englerbauer sii Jacöbli. Kiefers Christian. Und schließlich der Huber Auguscht, der zwei Jahre später in die Mistgabel fiel und vier Tag lang starb. Sie hatten ihren Alten das Kraut stibitzt und in einem Keller der Landecker Burg gepafft, bis ihnen der Rauch aus den Ohren quoll. Nur dass ihm kotzübel davon wurde. Er hatte raus müssen, hinter einen Busch. Das passiert mir nicht noch mal, schwor er sich. Wenn die anderen rauchen konnten, konnte er das ja wohl dreimal. Aber sein Körper wollte nicht wie er, rebellierte, sooft er es versuchte. Die Freunde verhöhnten ihn, und bald wusste es jeder im Dorf, der Simon kann nicht rauchen! Der ist noch grün hinter den Ohren, grüner geht’s nicht. Sein Bruder, dieser Blödian, tönte am lautesten und pustete ihm seinen Pfeifenrauch ins Gesicht. Dabei war der kaum älter als er. Nur zwei Jahre.

Später tröstete er sich mit der Kuhmagd des Georgenbauern. Sie war ihm an einem heißen Julitag bereitwillig in den Wald gefolgt, entledigte sich auf einer hellen Lichtung ihrer Schnürbrust, löste gegen ein paar Kreuzer das hellrote Bändele am Hemdausschnitt, sodass das Kleidungsstück über die Schulter glitt und der Busen herausrutschte. Erregt packte er zu. Aber sie haute ihm auf die Finger, giggelte und kicherte und ließ ihn zappeln, er hielt es kaum noch aus. Da endlich erbarmte sie sich, hob den Rock und zeigte ihm, was er tun müsse. Er sei der Erste, versicherte sie ihm hinterher, während sie sich gemächlich Tannennadeln und Grashalme aus Haaren und Kleidung pflückte und das Geld zählte, das sie ihm abverlangt hatte. »Schwör’s«, hatte er gesagt, und sie schwor: »He jo bisch dü de Erschd, was glaubsch denn?« Jetzt war er also ein Mann, ein richtiger Mann, und den anderen eine Nasenlänge voraus, auch wenn er das Rauchen nicht vertrug. Bis er erfuhr, dass dieses heimtückische Weib schon im Jahr zuvor mit Kiefers Christian das gleiche Spiel getrieben hatte und auch mit dem Englerbauer sii Jacöbli und sogar mit seinem blöden Bruder.

Als die Werber des Markgrafen kamen, entschied er sich sofort. Er ließ sich mustern und wurde genommen. Nach Carlsruhe würde es gehen, Carlsruhe war gut, die Stadt war weit weg von Landeck, viel weiter weg als Freiburg. Und er stellte sich vor, wie anmutig die Frauen in der Residenz sein würden, und keiner käme ihm ins Gehege, vor allem nicht sein blöder Bruder.

Simon hatte den Wein, den Johanna ihm zuvor gebracht hatte, längst ausgetrunken, als die Kameraden eintrafen, sogar der ernste Heinrich Abele war mit dabei.

»Sieh da, der Abele. Der Herr Professor steigt vom hohen Ross und beehrt das Fußvolk. Ist dir die Lektüre ausgegangen?«, lästerte Simon, aber der Kamerad ging nicht auf die Sticheleien ein, ließ ihn einfach abblitzen.

»Brot, Schmalz und den größten Krug Wein, den ihr habt«, krakeelte Hänsle Pfeiffer, noch bevor er sich gesetzt hatte. »S’ geht auf mich.«

»Prost, Landecker!«, sagte Friedrich mit den roten Haaren, als jeder versorgt war, und hob sein Glas. »Auf dich, und pass in Zukunft besser auf, wenn du zu ’ner Dirn gehst.«

Simon keifte. »Als ob ich nicht aufgepasst hätte!«

»Nimm das nächste Mal einen Schafsdarm mit!«, riet Pfeiffer und machte eindeutige Zeichen mit den Fingern.

»Wieso einen Schafsdarm?«, fragte Ludwig Lauer. »Ich dachte, die Weiber wissen, wie sie einen Bauch wieder wegkriegen …«

»Du bist zwar der Längste im Regiment, Lauer, aber dafür der Dümmste, so dumm wie Bohnenstroh.« Der rote Friedrich, der neben ihm saß, versetzte dem Gefährten einen Schlag auf den Hinterkopf.

»Ich dachte …«

»Denk nicht, das nützt bei dir nix.«

Lauer schwieg eingeschnappt.

»Ihr hättet heute Morgen die Gesichter der Weiber auf dem Richtplatz sehen sollen«, unterbrach Hänsle Pfeiffer das Geplänkel der beiden. »Mann, sind die verschrocken, herrlich.«

»Nur verschrocken?«, meldete sich Georg Frühauf. »Eine Lehre fürs Leben sollte es ihnen sein.« Er hob seine Stimme, als stünde er auf der Kanzel. »Was diese Würbsin gemacht hat, ist doch wider Gott und die Natur. Diese Teufelinnen bringen ihre eigenen Kinder um und behaupten hinterher noch, dass der Satan es ihnen befohlen hat.« Geringschätzig zog er die Luft durch die Nase.