Kitabı oku: «Die weise Schlange», sayfa 15
Heimkehr ist die beste Umkehr
An der Fähre konnten sie gleich übersetzen. Loranthus stellte sich nach vorne und betrachtete das näher kommende Ufer. Er bekam gar nicht mit, wie der Fährmann Viviane an sich drückte und sie ihm ins Ohr raunte, er solle Loranthus ablenken, was er mit verschwörerischem Grinsen auch sofort tat.
„Du bist Grieche?“, tönte er in passablem Griechisch und schmetterte Loranthus eine Hand auf die Schulter, der sofort Schlagseite bekam. „Interessant. Normalerweise ist dies hier eine Furt, musst du wissen, Grieche. Das heißt, man kann an dieser Stelle zu Fuß über die Werra. Allerdings schwillt der Fluss jedes Frühjahr dermaßen stark an, dass sich nur Idioten durch das Wasser wühlen. Die schwinden mit der Zeit von selbst und für die anderen gibt es zur Schneeschmelze einen Fährmann. Das bin ich. Den Rest des Jahres bin ich Salzsieder, musst du wissen, Grieche. Das Salz sprudelt bei uns nur so aus dem Boden, stellenweise hüfthoch. Soll ich dir sagen, wie das geht?“
„Ja, gerne! Das ist sehr nett von dir!“ Erfreut beugte sich Loranthus über das Wasser – anscheinend hielt er Ausschau nach sprudelnder Salzlauge. Bis er es besser wusste, konnten Viviane und Hanibu am hinteren Ende der Fähre in Ruhe reden.
Noch einmal öffnete Viviane die Holzdose und nahm den grauen Flaum heraus. Liebevoll streichelte sie darüber. Hanibu sah sie fragend an.
„Ich trage es seit fast sechs Jahren bei mir und habe die Dose noch nie geöffnet. Das war gut so, denn wie sich herausstellte, war der Geruch immer noch ausreichend vorhanden, jedenfalls für den Spürsinn einer Wildsau. Es ist Wolfshaar. Der Wolf ist der größte Feind der Wildschweine, von uns Menschen mal abgesehen.“
Hanibu nickte verstehend und freute sich, weil ihr Viviane den Flaum in die Hand legte. „Ich bin so froh, dass euch nichts passiert ist. Ich hatte schreckliche Angst um euch. Aber warum wolltest du ihm nichts davon erzählen?“ Hanibu hielt das Wolfshaar hoch und schaute darüber hinweg zu Loranthus.
„Nun, er sollte nicht denken, er stünde in meiner Schuld.“
„Du stehst selbst nicht gern in anderer Leute Schuld, oder?“
Viviane lachte auf und zuckte mit den Schultern.
In dem Moment winkte ihnen Loranthus überschwänglich, er strahlte vor Mitteilungsbedürfnis. Viviane verpackte den Flaum so unauffällig wie möglich und sie gingen zu ihm, doch bevor er irgendetwas sagen konnte, drängte sich der Fährmann dazwischen.
„Endlich kann ich dich ordentlich begrüßen, Kind, wie sich das gehört! Herzlich willkommen zu Hause, junge Ärztin!“ Er verneigte sich tief, dann packte er Viviane an den Schultern und betrachtete sie voller Stolz. „Gut siehst du aus, so erwachsen. Aber ich habe dich trotzdem gleich wiedererkannt, schließlich bist du das perfekte Ebenbild deines Vaters, bis auf einige Stellen, versteht sich.“ Schmunzelnd tätschelte er ihren Kopf und schielte übertrieben auffällig abwärts.
„Onkel Wadi, du Charmeur!“, gluckste Viviane und zwickte ihn in den Bauch, was ihm sehr zu gefallen schien. „Im Gegensatz zu mir hast du dich gar nicht verändert. Immer noch so ein Witzbold wie früher und immer noch bestens in Form. Grüß Tante Fanar schön von mir, wir sehen uns ja bald zu Beltane. Ach … wie geht es Nora?“
Wadi winkte lachend ab. „Der könnte es gar nicht besser gehen.“
Gleich darauf glitt die Fähre an Land und Onkel Wadi hatte alle Hände voll zu tun, zumal schon die nächsten Fahrgäste in die Gegenrichtung warteten. Lauter Salzhändler, wie er Loranthus verkündete, der sich überschwänglich bei ihm bedankte und ihn offensichtlich genauso entlohnte, den aufgerissenen Augen Onkel Wadis nach zu urteilen. Dann ging es weiter.
„Viviane, du bist eine richtige Ärztin? Ich dachte, du bist eine Kräuterfrau wie diese Wisora, auf die du so große Stücke hältst?!“ Hanibu drehte ihr fragend das Gesicht zu, die Zügel locker im Griff. Dina zu führen war einfach unbeschreiblich für sie; es machte ihr viel Spaß.
„Ersteres, ja.“ Viviane schmunzelte. „Ich bin sozusagen eine frischgebackene Ärztin mit komplettem Status.“
„Kompletter Status?“ Loranthus bekam große Augen. „Du meinst, du hast eine vollständige, eine komplette Ausbildung in Heilkunde? Medizin inklusive Chirurgie?“ Er konnte es gar nicht fassen. „Aber du bist doch noch so jung!“
„Muss ein Arzt denn alt sein?“
„Nun ja, ich kenne eben nur alte Ärzte. Ergo habe ich wohl vergessen, dass die auch mal jung gewesen sein müssen.“
Loranthus lachte über sich selbst. Bis jetzt hatte er sich Viviane stets in Rüstung vorgestellt. Ihre Waffen, das geheimnisvolle Schwert, ihre Kampfkunst, die Art, wie sie sich bewegte … Sie war eine Kriegerin, gar kein Zweifel. Nie hätte er gedacht, sie könnte auch das genaue Gegenteil davon sein – eine Heilerin. Da passte doch irgendwas nicht zusammen, oder? Unauffällig musterte er sie von oben bis unten.
Zugegeben, als sie sich um Hanibu gekümmert hatte, war es schon offensichtlich gewesen; schließlich renkte nicht jede dahergelaufene, angriffslustige Kelta – Verzeihung, friedliebende Hermundurin – derart problemlos Arme ein.
Warum also hatte Viviane ihm bis jetzt verschwiegen, dass sie eine richtige Ärztin und damit eine Druidin war? War das nicht der am höchsten angesehene Stand hierzulande, von dem des Königs einmal abgesehen? Vielleicht lag es ja an dieser seltsamen Kombination aus Druidin und Kriegerin, von der er bis jetzt noch nie gehört hatte. Davon würde er wohl auch niemals zu hören bekommen, oder? Welcher Arzt gab schon gerne zu, dass er seine Patienten schneller töten als heilen konnte?
„Und jetzt kommst du gerade von deinem Studium“, stellte Hanibu fest, die das ‚Frischgebackene‘ nicht – wie Loranthus – überhört hatte.
„Ja, ich war fünfeinhalb Jahre in Britannien auf einer der wohl berühmtesten Schulen weit und breit, ‚der Ort‘ genannt; aus vielen Ländern kommen sie dorthin, doch leicht zu finden ist er nicht.“
„Nach fünf Jahren bist du bereits Ärztin?“ Loranthus riss entsetzt die Augen auf, jetzt wollte er Antworten, sofort. „Erklär mir mal, wie das sein kann! Als Ärztin bist du doch automatisch auch Druidin und ich habe gelesen, Druiden müssten an die zwanzig Jahre studieren. Zwanzig! Das ist vier mal fünf, ergo das Vierfache von fünf Jahren – nicht, dass wir uns hier missverstehen!“
„Das ist alles ganz richtig, Loranthus, ich kann übrigens auch gut rechnen“, gluckste Viviane. Sie wollte noch erwähnen, dass sie auch ein winziges bisschen Ahnung von Astronomie hatte, andererseits musste er nicht alles wissen.
„Nur so viel. Es dauert wirklich sehr lange, um den Stand eines Druiden zu erreichen. Aber keine Bange, man wird nicht alt und grau dabei, sondern man wird von Kindesbeinen an darauf getrimmt. Bei mir verhielt es sich zum Beispiel so: Bevor ich nach Britannien ging, war ich bereits drei Jahre an einer anderen Schule nahe der Donau, hoch in den Alpen. Außerdem habe ich immenses Glück, eine Kräuterfrau als Mutter zu haben. Ich hatte also großen Vorsprung, begann mein Studium sozusagen an der Mutterbrust.“ Viviane lachte hell auf. „In den ersten zwei Jahren war ich leider keine gute Schülerin und habe meine Mutter reichlich Geduld gekostet. Damals war sie in meinem Alter.“
Verträumt schaute Viviane in die Ferne. Es fühlte sich seltsam an, endlich wieder daheim zu sein. Als wäre es nicht echt, sondern nur ein Traum. Fast kam es ihr vor, als wäre sie eine Fremde. Diesem Zustand musste sie schleunigst abhelfen. Freudig winkte sie den Bauern auf den Feldern, die sie allesamt hochachtungsvoll zurückgrüßten.
Beim Anblick sich tief verneigender Bauern reckte sich Loranthus in die Höhe. Er hatte tatsächlich Glück im Unglück gehabt. Er wusste zwar nicht genau wieso, aber es war Viviane, wegen der er sich so unbeschwert fühlte wie schon lange nicht mehr. Es war ihm egal, warum sie mit der Druidin-Kriegerin-Kombination hinter dem Berg gehalten hatte. Und es war auch nicht wichtig, dass er zwischen dicken Taschen eingequetscht war. Bedeutsam war nur: Er saß quicklebendig auf einem besonders großen, stattlichen Hengst und sämtliche Leute schauten ihm bewundernd nach.
Mit sich höchst zufrieden überblickte er die Gegend.
Das Land war jetzt nicht mehr so weit und offen. Überall erhoben sich einzelne Bergkuppen und die beiden lang gestreckten Gebirgszüge kamen mit jedem Schritt näher; es sah fast so aus, als würden sie Loranthus in die Zange nehmen wollen. Oder war es mehr wie eine Hafeneinfahrt?
Viviane zeigte Richtung Thuringer Wald und erklärte: „In meiner Heimat gibt es viele Clans und jeder hat seinen eigenen Rix oder König, wie man auch sagen kann. Dann haben wir noch einen Großkönig, der über allen die Oberhoheit hat. Er regiert das gesamte Land bis zum Grenzweg auf dem Kamm. Dahinter leben auch Hermunduren, sie haben jedoch einen anderen Großkönig. So ist es einfacher, denn unser komplettes Territorium erstreckt sich bis weit nach Osten, zu den Sueben, von denen wir abstammen.“
„Euer Gebiet geht demnach bis zur Albia oder Albis, wie ihr Hermunduren wohl sagen würdet. Oder sagt ihr ‚Elbe‘ dazu? Egal, auf alle Fälle besitzt ihr ein großes Gebiet.“ Loranthus nickte anerkennend. „Es heißt nicht umsonst: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“
„Der Stamm der Sueben ist uralt und mächtig, von dem sind schon viele Äpfel heruntergefallen.“ Viviane lachte und ihre Hand schwenkte herum.
„Gen Westen, hinter Raino, leben die Chatten. Vielleicht hast du es bereits gehört, sie gelten als straff organisiertes Kriegervolk. Wir Hermunduren unterhalten zu ihnen und allen anderen Nachbarn freundschaftliche Beziehungen. Die Zeit der Fehden ist schon seit Generationen vorbei. Unsere Heimat gibt uns alles, was wir brauchen; wer eiserne Pflugscharen hat, kann wesentlich besseren Ackerbau betreiben. Wir haben Eisen, wir haben Salz und wir haben Frieden, den wohl besten Ernährer überhaupt.“
„Und wenn die Ernte miserabel ist, was macht ihr dann?“
„Ein, zwei schlechte Ernten können wir verkraften. Wir nutzen unsere Vorräte sinnvoll und leben ansonsten von den Früchten des Waldes wie unsere Ahnen vor uns. Dieses Wissen wird an jede Generation weitergegeben. Das ist unabdingbar. Man muss sich in einer Notlage selbst helfen können. Unsere Vorfahren wussten das nur zu gut.“
„Früchte des Waldes?“ Misstrauisch visierte Loranthus den nächstbesten Berg an. „Wenn ich in solchen Wäldern leben müsste, würde ich jeden Tag aufs Neue vor einer Wildsau flüchten, wenn ich nicht vorher verhungere. Ich wüsste nicht, was ich essen darf und was nicht.“ Ob Würmer wohl besser gebraten oder gekocht schmeckten? Loranthus schüttelte angewidert den Kopf. Und eigentlich war das auch egal, denn er konnte ja nicht mal Feuer machen; das war Sklavenarbeit.
„So, Hanibu, jetzt ziehst du ganz sachte am linken Zügel und drehst dich ein wenig nach links … Gut, wir reiten vom Hauptweg, unserer Antsanvia, herunter und biegen auf den kleinen Uferweg der Sünna. Gleich sind wir daheim. Schaut!“
Viviane zeigte auf den Berg links von ihnen.
„Das ist der Uhsineberga. Oben auf der Kuppe könnt ihr die Burganlage schon sehen. Mein Rix, also mein König, Gort, lebt dort. Er regiert das größte Oppidum der Gegend.“
„Du meinst, dort oben leben viele Menschen?“
„Ungefähr tausend.“
„Interessant.“ Loranthus hob die Hand über die Augen, damit er besser sehen konnte.
Auch diese Bergkuppe war baumfrei und die Burganlage thronte obendrauf. Man sah wieder eine lange Wallanlage aus Stein und Holz ähnlich der, die sie bei ihrem Eintritt ins Großkönigreich der Hermunduren gesehen hatten. Und genau wie im Reich von Aodhrix lagen auch hier die Dörfer am Fluss, Felder und Weiden waren von Hecken umgeben, alles war grün und sauber.
Der ‚kleine Uferweg‘, auf dem sie bequem nebeneinander reiten konnten, führte am Uhsineberga vorbei und gab den Blick auf einen weiteren Berg frei.
„Das ist der Dietrichsberg.“
„Ah, der hat nur einen kleinen Wall obendrauf, sieht von hier unten ziemlich mickrig aus.“
„Das kommt auf den Standpunkt an. Ich denke, Amaturix wird dir sein mickriges Reich zu gegebener Zeit persönlich zeigen. Mal sehen, was du dann für Augen machst.“
„Amaturix heißt er? Also auch ein Rix?“ Loranthus kniff die Augen zusammen und schwenkte seinen Kopf vom Uhsineberga zum Dietrichsberg. „Wenn zwei Könige so nah beieinander leben, wie vertragen die sich?“
„Das haben sie schon von klein auf getan. Sie sind Brüder. Sie achten sich sehr und vertrauen sich vollkommen. Außerdem ist Amaturix kein amtierender König. Er trägt zwar den Titel, aber er steht freiwillig hinter seinem älteren Bruder zurück. So nah beieinander kann nur einer regieren.“
„Trotzdem duldet dein König Gort, dass sein Bruder den Titel eines Rix am Namen hintendran hat?“
„Er hat es selbst so angeordnet. Er ehrt seinen Bruder damit.“
„Wohl dem, der solch einen guten Menschen als Nachbarn hat!“
„Zusammen sind sie stark. Du wirst es bald sehen.“
Viviane drehte sich zur Seite und winkte weit ausholend. Sie hatte ein wohlbekanntes Kribbeln im Nacken; das Gefühl, von einem der Türme des Uhsineberga beobachtet zu werden. Sicherheitshalber grüßte sie auch gleich zu den Türmen der Dietrichsburg hoch.
Dort wurde jetzt das Fernrohr heruntergenommen und Meldung gemacht: Viviane, die junge Ärztin, war zu Hause.
Natürlich hatten sie die Wächter auf dem Uhsineberga bereits viel früher gesehen. Hier oben gab ein junger Mann das Fernrohr an einen Wächter zurück und strahlte seinen Vater an.
„Sie ist noch hübscher als damals. Das Warten hat sich gelohnt.“
„Lew, pass auf. Sei bloß nicht so stürmisch. Überfall sie nicht gleich mit einem Heiratsantrag, sonst ergeht es dir womöglich wie dem Fährmann von Aodhrix.“ Feixend schlenkerte der Vater – niemand anders als König Gort – seinen Arm und tat so, als sei dieser gebrochen.
„Er hat es bestimmt verdient, sonst hätte sie ihn nicht so zugerichtet.“
„Eben.“
„Oh, jetzt verstehe ich.“
Lachend schaute Lew auf die kleine Gestalt hinab, die ihm gerade zugewunken hatte. Woher wusste Viviane, dass er sie beobachtete? „Ich werde mich auf das besinnen, was ich am besten kann.“
„Recht so, mein Sohn. Hast du eigentlich die schwarze Maid gesehen, die vor ihr auf dem Pferd sitzt?“
„Welche Maid?“
König Gort seufzte übertrieben. „Sohn. Sie ist gerade heimgekehrt und schon bist du für alle anderen Maiden blind.“ Freundschaftlich klopfte er Lew auf die Schulter. „Mit deiner Mutter ging es mir genauso.“
„Was heißt hier ging? Dir geht es noch genauso, Vater.“ Lew gluckste und schaute wieder hinunter zu Viviane, von der er so viele Nächte lang geträumt hatte.
Sie ritten über eine breite Holzbrücke und folgten dem Weg nun auf der anderen Seite des Flusses. Hinter einer Biegung hielten sie an und Viviane zeigte mit glänzenden Augen auf eine Hagebuttenhecke, die bis zum Wasser reichte. Der einzige Eingang war auch hier ein großes Eichentor, an dem sich keiner vorbeiquetschen konnte, der dicker als eine Schlange war.
„Das steht ja sperrangelweit offen!“ Loranthus riss entsetzt die Augen auf.
„Tagsüber ist das Tor auf, denk an die Wächter.“ Viviane zeigte zu den Türmen. „Die Tore der anderen Gehöfte, an denen wir vorbeigekommen sind, waren doch auch offen. Ist dir das nicht aufgefallen?“
„Das ist dein Dorf“, stellte Hanibu fest.
„Ja, hier bin ich geboren.“
Viviane konnte kaum noch still sitzen. Gleich war sie wieder bei ihrer Familie. Sie war schon ganz aufgeregt. „Kommt“, brachte sie nur noch mit kratziger Stimme heraus.
Hinter dem Tor war der Weg mit Gras überwuchert, das die Schritte der Pferde dämpfte. Links und rechts befanden sich etliche Gehege aus den obligatorischen Hainbuchenhecken mit Gattern aus geflochtenen Weidenruten, alles sehr stabil. Dahinter waren Schafe und Ziegen zu sehen. Manche rupften das saftige Gras, andere lagen wiederkäuend unter üppig blühenden Obstbäumen, und alle schauten den Neuankömmlingen hinterher, die von einer aufgeregten Hühnerschar begleitet wurden.
Endlich schwenkten die Hühner zu einem Misthaufen ab und Loranthus konnte sich wieder in Ruhe umschauen.
Diese Barbaren-Bauern waren wirklich sehr praktisch veranlagt. Sie hatten tatsächlich den Fluss angezapft und leiteten das Wasser durch schmale Gräben zu den Wiesen und Weiden, die nicht am Fluss lagen. Überall standen riesige Obstbäume, die in ihrer Blütenpracht herrlich anzuschauen waren und im Sommer garantiert viel Schatten spendeten.
Weiden wechselten sich mit Wiesen ab, Schafe wechselten sich mit Ziegen ab und irgendwann fragte sich Loranthus, wann sie denn nun endlich das Dorf erreichen würden.
Er staunte nicht schlecht, als nach einer Wegbiegung dicke Holzpalisaden in Sicht kamen und sogar ein kleiner Wachturm. Die bisherigen Dörfer hatten weder das eine noch das andere gehabt. Dieses hingegen war gleich zweimal gesichert und schien wohl eine größere Bedeutung zu haben. Leider traute er sich gerade nicht, Viviane danach zu fragen, denn ihre Körperhaltung war dermaßen angespannt, als würde sie gleich vom Pferderücken aus über diese doppelt mannshohen Palisaden katapultieren.
Viviane fühlte sich tatsächlich, als sei sie auf dem Sprung; sie lauschte angestrengt. Hatte sie nicht gerade die Stimme ihrer Mutter gehört? Der Wind stand günstig und trug ihnen lautes Geschrei entgegen. Was passierte da?
Viviane sprang rückwärts von Dina und rannte los. Kurz vor den Palisaden stoppte sie abrupt, denn jetzt konnte sie die Worte verstehen.
„Mama bitte, gib ihn mir wieder“, bettelte eine Kinderstimme.
„Wie oft habe ich dich jetzt schon mit dem Ding erwischt, du ungezogenes Gör?!“ Die Frauenstimme überschlug sich fast vor Ärger.
Viviane schlug sich die Hand auf den Mund und lauschte ihrer Mutter.
„Schon drei Mal“, kam eine kleinlaute Antwort.
„Und was habe ich dir beim letzten Mal angedroht?“
Mutters Stimme wurde ruhiger. Gefahr war im Verzug.
„Ach nein, liebste Mama! Das kannst du doch nicht machen!“
„Oh doch, ich kann.“
An diese Tonlage konnte sich Viviane noch gut erinnern.
„Nein, das kannst du nicht. Bitte, allerliebste Mama!“
„Und warum sollte ich das nicht können? Verrate es mir!“
Eine kurze Pause folgte. Sicherlich, um die beste Antwort zu finden.
„Weil ich dein kleines Nesthäkchen bin und du mich ganz, ganz doll lieb hast. Und weil du Flora heißt. Und alle Floras, wirklich alle auf der ganzen weiten Welt, sind so schön und lieblich wie Blümchen und man muss sie einfach alle lieb haben, am allermeisten dich.“
Flora wurde ganz still, dann lachte sie glockenhell. „Lavinia, mein kleines Nesthäkchen, du hast eine ganz, ganz eigenwillige Art, deine Mutter um den Finger zu wickeln. Ich fühle mich geehrt und in sehr lieblicher Stimmung. Den Schädel gibst du trotzdem her!“
„Nein, Mama! Wie soll ich denn mit Robin die Schlacht im Teutoburger Wald nachspielen, wenn ich keinen Schädel mehr habe?!“
„Keinen Widerpart, es wir gemacht, was ich sage! Ihr könnt euch ja einen schnitzen. Das haben deine Schwester und Silvanus damals auch geschafft.“
Viviane musste lachen, als sie an ihre ersten Schnitzversuche dachte, und gab ihren Horchposten auf. „Ja“, rief sie laut. „Aber erst, nachdem mir der Schädel heruntergefallen war und ich dachte, er wäre kaputt!“
Auf der anderen Seite der Palisaden stieß Flora einen Schrei aus. Hastig rannte sie zum Tor und stürzte heraus, doch just in dem Moment preschte eine riesige Hirschhündin an ihr vorbei und rannte sie beinahe über den Haufen. Bis Flora sich gefangen hatte und wieder ordentlich in ihre Holzschuhe geschlüpft war, hatte die Hündin schon längst Viviane angesprungen und bellte wie verrückt.
„Ethmanja! Ruhig! Ruhig, ist ja gut! Ich freue mich auch, dich zu sehen! Bei Epona, bist du groß geworden, du bist ja größer als ich! Nein! Nicht abschlecken! Lass das, wo bleiben deine Manieren?! Puh, du stinkst! Was gab es denn zum Frühstück? Ausgebuddelte Knochen?“
Viviane lachte. Sie versuchte, so gut es mit Ethmanjas Pfoten auf den Schultern ging, Richtung Tor zu laufen sowie dem hechelnden Maul auszuweichen, das sie weiterhin abschlecken wollte, und endlich, endlich konnte sie sich in die offenen Arme ihrer Mutter werfen. Beide brachten vor lauter Tränen kein Wort heraus.
Loranthus und Hanibu blieben auf den Pferden sitzen und betrachteten aus gebührendem Abstand das Spektakel, denn es war schon reif für den Zirkus, wie die Hirschhündin namens Ethmanja um die beiden Frauen herumsprang. Selbst auf vier Pfoten war sie so groß, dass man auf ihr reiten konnte, und wenn sie, so wie jetzt, auf den Hinterbeinen hüpfte und bellte und die Zähne zeigte, sah es schlichtweg gefährlich aus. Im stillen Einvernehmen zogen Loranthus und Hanibu die Beine ein Stück an und richteten ihre Aufmerksamkeit auf Vivianes Mutter.
Flora war schlank und hochgewachsen. Ihre langen, kupferfarbenen Locken hatte sie mit einer Lederspange am Hinterkopf gebändigt; ihre dunkelbraunen Augen strahlten eine fast spürbare Wärme aus und trotz ihres Alters schien ihr Gesicht absolut glatt. Obwohl sie weinte und schniefte, sah sie wunderschön aus. Mit einem Zipfel ihres karierten Überkleides wischte sie sich die Augen trocken. Dann packte sie Viviane an den Schultern und musterte sie mit geschürzten Lippen von oben bis unten.
„Kind, du bist zu dünn“, stellte sie – wie wohl jede Mutter nach so langer Trennung – fest. „Du musst sofort etwas essen.“
Viviane lachte und fiel ihr wieder um den Hals. „Ach, Mama, ich habe mir schon gedacht, dass du so etwas sagen wirst. Du bist übrigens auch schön schlank geworden. Mein Lieblingskleid passt dir wieder tadellos.“
„Ja, nicht wahr? Ist sogar noch Platz.“ Flora strich sich über den flachen Bauch und zupfte ihr Kleid zurecht. „Das habe ich heute extra für dich angezogen. Feinstes Leinen, genau richtig für diesen warmen Tag. Hat aber ganz schön lange gedauert, bis ich es wieder tragen konnte, bin eben nicht mehr die Jüngste.“
Viviane sah ihre Mutter liebevoll an. Sie trug ein Überkleid mit kleinen Karos in Gelb und Violett, die ab und an von dünnen Streifen Hellgrün durchzogen wurden. Das einfarbig-hellgrüne Unterkleid passte perfekt dazu. Viviane hatte beide Stoffe selbst gewebt, allerdings war ihr beides, Unterkleid wie Überkleid, viel zu eng geraten. Für das Weben und Nähen hatte sie noch nie viel Ausdauer besessen, es war bloß ein sehr langer Winter gewesen, und sie wollte ihrer Mutter etwas Besonderes schenken. Vielleicht wollte sie auch beweisen, wie selbstständig und erwachsen sie schon war. Ihre Mutter hatte sich trotzdem begeistert in das Kleid gezwängt und ihren Arbeitseifer sehr gelobt. Danach hatte sie kaum noch Luft bekommen und verkündet, sie sei nicht zu dick, sie sei schwanger.
„Du bist also meine große Schwester.“
„Ja, das bin ich.“ Viviane senkte ihren Blick auf das kleine Mädchen, das sich mittlerweile hinter die Mutter geschlichen hatte; ein dunkelbraunes Auge, ein Mund, der vor Staunen nicht mehr zugehen wollte, und ein Haarschopf aus wilden nussbraunen Kringeln lugten hervor. „Und du bist meine kleine Schwester, Lavinia. Du kannst übrigens noch genauso laut schreien wie als Baby, da hab ich dich auch schon von Weitem gehört.
Allerdings hatte ich nicht viel Gelegenheit dazu. Du warst ja kaum geboren, da bin ich fortgegangen.“
„Genau so habe ich dich mir vorgestellt, Epona“, flüsterte die Kleine und trat dermaßen ehrfürchtig aus ihrer Deckung heraus, dass ihre Ringellöckchen leicht vibrierten.
Viviane traten die Tränen in die Augen. Heftig blinzelnd krächzte sie: „Und genau so habe ich dich mir vorgestellt, kleine Fee.“
„Kleine Fee!“ Lavinia kicherte geschmeichelt und wollte sich wieder hinter der Mutter verstecken, doch Viviane schnappte sich ihre Schwester und hob sie hoch; die kleinen Ärmchen legten sich wie von selbst um ihren Hals und überwältigt von einer unbändigen Freude, schmiegte Viviane ihre Wange an die ihrer wunderschönen Schwester. Ethmanja stellte sich auf die Hinterbeine und hüpfte wieder nahe heran, als wollte auch sie auf den Arm genommen werden.
Resolut drängte sich Flora dazwischen und streichelte ihren beiden Töchtern die Haare.
„Deine große Schwester hat auch einst solch wilde Löckchen gehabt, musst du wissen, Lavinia, nur eben in ihrer Haarfarbe. Ansonsten hat sie fast genauso ausgesehen wie du jetzt. Ethmanja, gib endlich Ruhe! Platz, oder du bekommst nichts mehr von mir! Viviane, ist dir eigentlich aufgefallen … du hast eine überaus rosige Haut, absolut rein, kein einziges Fleckchen und so weich.“ Prüfend sah sie Viviane in die Augen, mit ihrem typischen ‚Ich kriege alles raus‘-Blick. „Hast du dich verliebt?“ Verschwörerisch nickte sie zu Loranthus hinüber.
Viviane prustete los und versuchte, den Kopf zu schütteln, doch Lavinia schmiegte sich mit aller Kraft an sie. Also rollte sie übertrieben mit den Augen und winkte ihre Begleiter zu sich, die allerdings recht zögerlich von den Pferden glitten, den Blick starr auf Ethmanjas freudig hechelndes Maul gerichtet.
Es war das erste Mal, dass Loranthus Hanibu den Vortritt ließ, bis er Mut fasste und sie überholte. Er blieb sogar direkt neben der lang ausgestreckten Ethmanja stehen und hob grüßend die Hand. Ethmanja ergriff die Gelegenheit und schlabberte ihm die andere mit Hingabe ab.
„Mama“, gluckste Viviane bei dem Anblick, der sich ihr bot. „Das ist Loranthus aus Kreta mit seiner äthiopischen Sklavin Hanibu. Ich habe sie kurz vor dem Gasthaus von Aodhrix aufgegabelt. Loranthus möchte gerne Land und Leute studieren und dann zu seinem Vater zurückkehren. Der ist ein sehr reicher Händler, und Loranthus wird nach dieser Reise in seine Fußstapfen treten.“
Falls Ethmanja genug von ihm übrig ließ; sie schleckte mittlerweile schon den Unterarm ab und schien noch lange nicht aufhören zu wollen – je mehr Loranthus schwitzte, desto besser schien er zu schmecken. Viviane lächelte vom stocksteif dastehenden Loranthus zu Hanibu, die wesentlich entspannter wirkte, bis Ethmanja den Hals reckte, um ihre Schlabberzunge auf sie auszudehnen. Nach kurzem Zögern streckte Hanibu gleich beide Hände aus – in der Hoffnung, ihre Arme würden verschont bleiben oder Loranthus würde als schmackhafter befunden. Doch sie hoffte vergebens – Ethmanja verdoppelte einfach ihre Liebesbekundungen, damit keiner zu kurz kam.
„Und das, meine lieben neuen Freunde …“, lachte Viviane und schwenkte ihre Hand mit einer fast triumphierenden Geste. „Das sind meine Mutter, Flora, meine Schwester, Lavinia, und …“ Sie kraulte die Hirschhündin hinter den Ohren. „… die beste Fährtenleserin weit und breit, Ethmanja.“
„Loranthus und Hanibu, willkommen in unserem Dorf!“, rief Flora auf Griechisch und schwenkte ihre Hand mit großer Geste zum Tor. „Kommt! Seid herzlich eingeladen! Wir essen gleich zu Mittag! Ihr seid sicher hungrig!“
„Das nenne ich Gastfreundschaft!“ Loranthus bedankte sich strahlend für die freundliche Einladung und Hanibu nickte eifrig dazu. Endlich ließ Ethmanja von ihnen ab und zockelte los, als wollte sie ihnen den Weg zeigen.
Mit ihr vorneweg brachten sie alle zusammen die Pferde auf die Weide genau gegenüber dem Tor, nahmen Arion das Gepäck ab und strebten vollbepackt dem Eingang des Dorfes entgegen. Obwohl Flora, Lavinia und Viviane vor lauter Taschen kaum die Hände heben konnten, berührten sie dennoch eine Holzskulptur, die wie ein Wächter neben dem Tor stand - oder besser, saß. Es war ein mit verschränkten Beinen dasitzender Mann mit einem Hirschgeweih auf dem Kopf, das oberste Ende des Geweihs befand sich in Höhe von Vivianes Schulter.
„Das ist unser Cernunnos“, erklärte diese, als sie sah, wie Loranthus den Mund zur Frage öffnete. „Ihr dürft ihn auch gerne berühren, ob an den Hörnern, seinem Torques oder woanders ist egal. Er gehört zu unserer Sippe wie das Blut in unseren Adern und ihr, als unsere Gäste, gehört von nun an dazu.“
Sofort stellte Loranthus die Taschen ab, um das Geweih zu befühlen, während Hanibu das hölzerne, freundlich blickende Gesicht streichelte. Viviane schmunzelte. Sie ging als Letzte den kurzen Gang unter dem Wachturm hindurch und wäre beinahe mit Loranthus und Hanibu zusammengestoßen, die es nur einen Schritt ins eigentliche Dorf hinein geschafft hatten, so sehr hielt sie der Anblick gefangen. Vor lauter Orientieren hatten sie sogar die Last in ihren Händen vergessen.
Viviane zog ihnen die schweren Taschen aus den Fingern, ohne dass sie es überhaupt zu merken schienen, und schaute sich selbst neugierig um. Ein Haus war dazugekommen, ansonsten sah alles noch so aus wie bei ihrer Abreise. Trotzdem blieb sie ruhig stehen und genoss das Gefühl, heimgekehrt zu sein.
Loranthus blickte fasziniert in die Runde.
Das Dorf war größer, als er von außen gedacht hatte. Links an den Palisaden gab es eine Schmiede, die nach allen Seiten offen, aber mit einem ausladenden Dach versehen war. Dann kamen drei Grubenhäuser, jedes mit einem Dach bis fast zum Boden und einer Menge gestapeltem Holz darunter. Weiter ging es im Bogen nach rechts mit einem Backofen, aus dem es köstlich duftete, und einem Handwerkshaus, bei dem Fenster und Tür offenstanden und aus dem ein Gewirr verschiedener Geräusche herausdrang. Den Schluss der Runde bildete ein sehr langes Haus. Vielleicht gab es dahinter noch andere, kleinere, aber das konnte man nicht sehen, denn dieses Langhaus stand nicht nur auf der Erde wie das Gasthaus, das sie besucht hatten, sondern ein wenig erhöht auf einem Hügel. Es hatte sogar einen überdachten Balkon über seine gesamte Länge, von dem aus man auf ein großes Steinbecken mit plätscherndem Wasserstrahl schauen konnte.
Zwischen den Häusern war viel Freiraum für saftiges Gras, das so kurz geschnitten war, als wollte es als Teppich durchgehen. Genau in der Mitte des Dorfplatzes stand ein großer gemauerter Rost, sogar mit steinernen Sitzplätzen und überdacht, damit man bei jedem Wetter gemütlich brutzeln konnte. Gleich dahinter befanden sich eine offene Feuerstelle und ein paar grob zusammengezimmerte Holzbänke für geselliges Beisammensein bei schönem Wetter.