Kitabı oku: «Die weise Schlange», sayfa 9
Viel konnte er nicht sehen, Vivianes Gesicht lag tief unter ihrer Kapuze verborgen. Dagegen war sein Mienenspiel, von ihrer Warte aus, bestens zu erkennen.
Darin spiegelten sich Erschrecken, Nachdenken, Argwohn und Vorsicht. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und eine Schweißperle kroch seine Schläfe hinab. Ein Augenlid zuckte, die Perle kroch schneller … Sein sonnengebräuntes Gesicht bekam einen Stich ins Grünliche – er hatte das Atmen vergessen.
Mal warten, wie lange er das durchhielt. Wegen ihre Kapuze konnte er nicht sehen, wie prächtig sich Viviane hier amüsierte. Es war wirklich interessant: Dieser eingebildete Grieche, diese Stachelbeere auf Stelzen, dieser wandelnde Schreihals, der Medusas Schlangen allesamt persönlich füttern wollte, hatte tatsächlich Angst vor ihr. Da konnte sie sich durchaus geehrt fühlen. Gleich würde er ihr vor die Füße kippen vor lauter Ehrfurcht. Nun wurde es aber langsam Zeit zum Weiteratmen.
„Darf ich euch meine Hilfe anbieten?“, fragte sie mit melodiöser Stimme in perfektem Griechisch und schwenkte die Hand von ihm zu der schwarzen Perle und wieder zurück. Sein Mund formte ein stummes ‚Oh‘ und blieb in dieser Position. Eine Antwort brachte er nicht zustande, obwohl er die Geste und auch ihre Frage verstanden haben dürfte. Er schien auch vergessen zu haben, dass er einfach bloß nicken bräuchte. Dafür war ihm wieder eingefallen, wie Atmen ging. Reichlich spät – er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen; mit den großen Glupschaugen und dem wirren Haarschopf sah er aus wie eins seiner eigenen Mischwesen. Vielleicht ein dürrer Hecht mit schwarzen Ringelwürmern auf dem Kopf – Medusa wäre entzückt.
Der Ärmste. Das war wohl etwas zu viel für ihn. Erst eine brutale Räuberbande und jetzt auch noch eine griechisch sprechende Kapuze.
„D… du bist eine K… Kelta?!“, quiekte er und blinzelte hektisch.
War das nun eine Frage gewesen oder nicht? Egal. Immerhin hatte er schon herausgefunden, dass er es mit einem weiblichen Wesen zu tun hatte, das nördlich von Griechenland wohnte – im Großen und Ganzen eine ziemlich gefährliche Gegend; sagten zumindest die Römer, und die hatten viel zu sagen – die Griechen nicht mehr, wie man hier am praktischen Beispiel sehen konnte.
Der Grieche zitterte ein bisschen und trat von einem Bein aufs andere. Es hatte den Anschein, als wollte er gleich davonrennen – die Griechen waren ja bekannt für ihre Langstreckenläufer. Dazu sollte er sich vorher ordentlich warm machen, hierzulande war das besser.
„So, so, wenn ich eine Keltin bin“, grollte es dunkel aus der Kapuze, „dann bist du ein Ausländer, genauer gesagt ein Grieche, nicht zu verwechseln mit Römer.“ Die Kapuze beugte sich tief zu ihm hinunter und schnaubte: „Ich finde es nämlich sehr nett, dass du mich als ‚hochgewachsen‘ oder gar ‚herausragend‘ bezeichnest. Ja, ich fühle mich geradezu geschmeichelt. Die Römer machen nicht so feine Komplimente wie du. Warum wohl nicht …“
Nun kam eine Art Schnurren aus der Kapuze. Eine römische Maus wäre spätestens jetzt davongerannt.
„Bei Hera, vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt! Ich wollte dir keinen Honig ums Maul schmieren, ach, was red ich da! Ich meinte, ich wollte mich nicht einschmeicheln. Das Wort ist mir so herausgerutscht aus … nun ja, aus reiner Gewohnheit, weil wir euch alle so nennen! Euch alle, die ihr hier …“ Er machte eine weit ausholende Geste und sah mit Entsetzen, dass nur Bäume hier waren. Begütigend hob er die Hände. „Ich k… kann dich auch anders! Wäre dir G… Galata…“
„Spar dir die Mühe!“ Ungeduldig riss sie die Hand hoch und hackte die Luft in zwei Teile. „Ich weiß, dass ich milchig-weiße Haut habe gegen dich!“ Zum Beweis wedelte sie mit ihrer Hand vor seiner Nase herum.
Schlagartig wurde er blass, krallte seine Hände am Umhang fest und begann, am ganzen Körper zu schlottern. Wenn der Grieche jetzt einen Kollaps bekam, war das ihre Schuld, dachte Viviane. Sie sollte lieber aufhören mit dem Katz-und-Maus-Spiel und endlich das tun, was sie angeboten hatte, nämlich helfen.
„Mein Name ist übrigens Viviane.“
Geschmeidig stieg sie vom Pferd und ergänzte: „Viviane vom Clan des edlen Hirsches Cernunnos, des verborgenen Gottes. Tochter von Flora, der Kräuterfrau, und Arminius, dem Schmied, Sippschaft von Mara und Anu väterlicherseits, Dana und Archu mütterlicherseits vom Stamm der Hermunduren aus der mächtigen Stammesgruppe der Sueben. Und das sind meine beiden Pferde, Dina und Arion.“
Viviane neigte kurz den Kopf, dann wartete sie geduldig auf eine Erwiderung. Wenn Stachelbeere auch keinen besonders einnehmenden Eindruck auf sie machte – gute Umgangsformen waren wichtig.
Allerdings zog er ein Gesicht, als müsse er noch mindestens drei Tage lang über seinen Namen nachdenken, und es war nicht sicher, ob er dann einen parat haben würde. Sie sollte ihm ein wenig auf die Sprünge helfen.
Elegant schlug sie ihre Kapuze zurück und lächelte.
Scheinbar hatte die Abendsonne extra auf diesen Moment gewartet. Sie gleißte genau zwischen zwei Baumwipfeln auf und ließ Vivianes Haare in den schönsten Rot- und Brauntönen schillern wie flüssiges Mahagoni. Ihre moosgrünen Augen strahlten in ihrem Gesicht wie Smaragde auf feinster rosa Seide.
Dem jungen Mann fiel die Kinnlade herunter. Bei Aphrodite! So musste sie aussehen, diese Göttin des Olymps, zart und ebenmäßig und anmutig und … allmählich gewann sein Verstand wieder die Oberhand.
Er schluckte und sogleich sprudelte es aus ihm heraus wie ein Wasserfall: „Ich bin gerade eben überfallen worden! Sie haben meinen Reisewagen, meine Rappen und meine gesamte Habe mitgenommen! Es waren sechs bärenstarke, grobe Kerle! Echte Schurken, absolut brutal! Haben mir fast den Finger gebrochen, um an meinen Siegelring zu kommen! Wenn ich die noch mal in die Finger kriege!“
Wild gestikulierend unterstrich er seine Worte und zeigte seinen rechten Mittelfinger, auf dem nur noch der Abdruck seines Siegelrings zu sehen war. Unvermittelt lächelte er verlegen.
„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Loranthus. Loranthus, Sohn des Madenius, Sohn des Kalidus, Sohn des Falagus, älteste und bedeutendste Händlerdynastie aus Kreta, der Wiege des Zeus, und, man beachte, ein Bürger Roms.“ Er stellte sich in Pose, Brust raus, Bauch rein.
„So, so, ein griechischer Händler mit römischem Bürgerrecht“, tönte Viviane und musste sich das Grinsen verkneifen - zum einen, weil er sie offenbar nicht wiedererkannte, zum anderen, weil sein Bauch trotz seiner Bemühungen immer noch abstand. „Hast du das auch schriftlich?“
Loranthus wurde schlagartig blass. Seine Dokumente waren auch alle weg.
„Keine Bange, dein Wort reicht mir“, beruhigte ihn Viviane, bevor er wieder zum Hecht wurde. „Du kannst von Glück reden, Loranthus aus Kreta, dass die Räuber bloß an deiner schicken Kutsche interessiert waren.“ Dass sie die Räuber samt Beute gesehen hatte, verriet sie ihm nicht. Dass sie ihn bereits vom Sehen her kannte, verriet sie ihm erst recht nicht. Womöglich wäre er auf die Idee gekommen, mit ihrer Hilfe die Verfolgung aufzunehmen, und eine derart interessante Heimreise wollte sie nun doch nicht haben.
„Da wäre ich mir nicht so sicher!“ Loranthus hob den Zeigefinger und lächelte grimmig. „Meine Sklavin wollten sie mit sich zerren, aber sie hat sich gewehrt, hat wie eine Wildkatze gekratzt und gebissen. Dem einen Schurken hat sie übel mitgespielt, bis der Anführer ihn endlich zurückgepfiffen hat.“
Loranthus stemmte die Fäuste in die Hüften, räusperte sich und rief mit dröhnend-tiefer Stimme: „Mit solch einer Furie hast du keine Freude. Da musst du Angst haben, einzuschlafen. Lass sie. Such dir woanders ein braves Lämmchen. Ich brauch dich schließlich im Ganzen. Ha, ha, ha.“
„Was sagst du?! Der Anführer dieser Räuberbande hat in der Mundart der Hermunduren gesprochen?!“ Viviane strich sich über die Stirn. In ihrem Kopf wirbelten viele Fragen durcheinander. Die drängendste war: Seit wann betätigten sich Krieger der Hermunduren als Räuber? Das war schlichtweg unmöglich, und daraus folgte: Wer tarnte sich hier als Hermundure und raubte noch dazu ausländische Händler aus? Was sollte das, abgesehen von der Beute, für einen Nutzen bringen? Von den diplomatischen Verwicklungen ganz zu schweigen, denn einen Bürger Roms raubte man nur einmal aus. Manchmal lebte man danach noch lange genug, um seine Taten Tag und Nacht zu bereuen, in den Bergwerken oder auf den Galeeren zum Beispiel. Manchmal musste man sich mit dem Bereuen beeilen, besonders wenn man in einer Arena landete. Wer also brauchte sich keine Sorgen darüber machen, früher oder später als Futter für Tiere zu enden? Wer wollte vielleicht sogar einen Streit zwischen Hermunduren und Rom provozieren? Für die Gerichtsverhandlung stünde sogar ein glaubhafter Ankläger zur Verfügung.
Achtung heischend hob Loranthus wieder den Finger und sagte in seiner eigenen Tonlage: „Ganz recht, er hat exakt in dieser Mundart gesprochen. Bestimmt war der Idiot der Meinung, ich könne ihn nicht verstehen und erst recht nicht diverse Dialekte auseinanderhalten.“ Überheblich den Kopf schüttelnd, zupfte er Gras von seiner dreckigen Tunika.
So ein dummer Anführer aber auch. Er hätte sich doch denken können, dass Griechen, die hier alle tausend Jahre mit Kutschen aufkreuzten, die Mundart der Hermunduren von den vielen anderen Dialekten unterscheiden konnten! Das Zusammentreffen dieser Zufälle war so wahrscheinlich, wie dass ihre Mutter sie nicht mehr erkennen würde.
Viviane grinste breit. Dass zufällig aufkreuzende Hermunduren auch mehrere Sprachen konnten – auf den Gedanken war Stachelbeerchen wohl nicht gekommen. Deshalb blieb sie beim Griechischen, Loranthus’ dümmliches Gesicht, als sie ihn damit angesprochen hatte, noch vor Augen.
„Warum hast du deiner Sklavin …“ – sie verzog geringschätzig das Gesicht – „… nicht geholfen?“
„Geholfen?“ Irritiert sah er von dem Matschfleck auf, den er gerade noch tiefer in seine Tunika hineinrubbelte. Es war offensichtlich, dass er noch nie auf eine solche Idee gekommen war.
„Oh, ich hatte ganz vergessen, zu erwähnen, dass mich der von allen wohl am meisten Stinkende festhielt.“
„Nur Einer? Was war mit den anderen?“
„Die machten sich über den Wagen her und begutachteten ihre Beute. Ich hatte jede Menge Handelsgüter dabei, musst du wissen, lauter teure Waren. Ich hatte besten Weihrauch aus …“
Es folgte eine akribische Aufzählung sämtlicher Handelsgüter inklusive Preise und Herkunftsländer, doch Viviane hörte gar nicht hin. Ungläubig pendelte ihr Blick zwischen Loranthus und seiner Sklavin hin und her.
Was musste das für ein Schlaffsack sein, wenn er nicht mal mit einem Mann fertig wurde? ‚Stachelbeere‘ war wohl eine sehr treffende Bezeichnung für ihn: Beim kleinsten Fingerdruck schon zermatscht. Da ging man am besten drüber hinweg. Die Sklavin brauchte mehr Aufmerksamkeit. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte sie zaghaft herüber und kauerte sich wieder zusammen. Ihr linker Arm hing schlaff und viel zu tief an ihrer Seite herab.
Viviane ließ Loranthus reden und ging auf die schwarze Wildkatze zu. Eigentlich war es eher ein braunes Kätzchen, sehr zierlich und etwas jünger als sie selbst.
Freundlich sah Viviane in das verweinte Gesicht und zeigte auf die linke Schulter. „Darf ich mir das einmal ansehen?“, fragte sie ganz sanft auf Griechisch. Für einen Moment wurden die fast schwarzen Augen weit vor Erstaunen, dann nickte die Sklavin scheu.
Vorsichtig zog Viviane den verdreckten Umhang weg und tastete den Schulterbereich ab. Der Arm war ausgekugelt, und die Sklavin schien sich dessen bewusst zu sein, ihrer ängstlichen Miene nach zu urteilen. Beruhigend strich ihr Viviane über die Wange und fragte wieder auf Griechisch: „Kannst du mich gut verstehen?“
Sie nickte wieder scheu.
„Wenn du einverstanden bist, renke ich deinen Arm ein, aber das wird für einen Moment sehr schmerzhaft sein.“
„Das kannst du?“, kamen die ersten, zaghaften Worte von ihr.
„Selbstverständlich! Arme renke ich jeden Morgen noch vor dem Frühstück ein. Die Leute stehen Schlange bei mir.“
Viviane wedelte herrisch mit der Hand, als ob sie gleich den Nächsten aufrufen würde, und sah ihr Gegenüber das erste Mal richtig lachen – ein Zähneblitzen so weiß wie eine Perlenkette.
„Du kannst ruhig auch schreien, wenn es dir hilft, mich stört das nicht.“
Mit einer königlichen Anmut setzte sich die Sklavin gerade. „Ich werde nicht schreien.“
„Dann nimm wenigstens diesen Ast, ist besser für die Zähne.“
Viviane knickte einen daumendicken Ast vom Baum und wartete so lange mit strenger Miene, bis die Sklavin den Mund aufmachte.
„Gut, dann will ich mal.“ Sich die Hände reibend, trat Viviane hinter den Baumstamm, fasste mit der linken Hand den Arm und legte die rechte ans Schulterblatt.
„Ich werde langsam bis drei zählen. Bist du bereit?“
Die Sklavin rollte den Ast zwischen ihren Zähnen in eine bessere Position und nickte.
„Achtung! Ich zähle! Eins …“
Und schon war der Arm dort, wo er hingehörte.
Verwundert nahm die Sklavin den Ast aus dem Mund. Er hatte ein paar Kerben.
„Du hast nicht bis drei gezählt!“ Tastend glitten ihre Finger über die Schulter. „Ich hatte nicht genug Zeit, mich auf den Schmerz vorzubereiten. Aber kaum tat es weh, war es auch schon vorbei. Ich danke dir von ganzem Herzen.“
„Gern geschehen. Bei nächster Gelegenheit schneide ich dir ein Weidenästchen ab, falls du Schmerzen bekommst.“
„Das habe ich nicht gewusst“, keuchte Loranthus. Er war von beiden Frauen unbeachtet herangeeilt und zeigte auf den eingerenkten Arm.
Ruckartig schwang Vivianes Mahagonihaar herum und peitschte ihm ins Gesicht. Ihre grünen Augen loderten. Hastig trat er einen Schritt zurück. Er hatte plötzlich das Bild eines zähnefletschenden roten Drachen vor Augen, und der Drache grollte: „Du trampelst hier vor Langeweile Muster in den Waldboden, hast es aber nicht für nötig befunden, zu fragen, ob es ihr gut geht?!“
Loranthus riss die Hände hoch.
„Oh nein, das siehst du falsch! Ich war lange damit beschäftigt, mich zu säubern! Der Raufbold, der mich festhielt, war nämlich der Meinung, ich würde zu gut riechen! Er hat mir die Hosen vom Leib gerissen und meine feinen Lederstiefel und meinen dicken Wollmantel, beinahe hing noch mein Kopf mit drin in der Kapuze, alles neu, beste Qualität, habe ich mir extra für das rauere Klima hier zugelegt. An meinem dünnen Umhang hier hat er mich umhergezerrt, dort hinüber zu dem Wassergraben!“
Eilfertig zeigte Loranthus schräg hinter sich zum Wegesrand. Dann veranstalte er einen Ringkampf mit sich selbst, legte sich die Hände um die Kehle, als würde er sich würgen, und quetschte aus schiefgelegtem Hals heraus: „Ich habe mit ihm gerungen, leider war er zu stark. Gerettet hat mich ein dürrer Ast, auf dem ich rücklings zu liegen kam. Als mich der Kerl würgte, brach er unter der Gewalt und knackte dabei laut. Der Idiot hat wohl gedacht, er hätte mir das Genick gebrochen und ließ von mir ab. Aber er verpasste mir noch einen derben Tritt in die Seite. Ich habe keinen Ton von mir gegeben und mich tot gestellt, obwohl meine Rippen heftig wehtaten und er mir noch meine eigenen Sandalen an den Kopf geworfen hat, stell dir das mal vor!“
Zog Loranthus zu dieser fadenscheinigen Ausrede etwa einen beleidigten Schmollmund? Nun raffte er auch noch seinen Umhang an sich, als wolle er seine Sandalen vorzeigen. Vivianes Augen wurden schmal.
Solche Jammerlappen waren es nicht wert, auch nur einen Finger für sie zu krümmen. Obwohl, gerade verspürte sie den heftigen Drang, sämtliche Finger in seinen Haarschopf zu krallen und alles, was daran hing, durch diese verlockende Pfütze am Wegrand zu ziehen. Leider tat man das nicht mit Händlern und erst recht nicht mit griechischen. Zudem hatte sie einen Eid geschworen.
Daher summte sie die Isa-Rune für innere Ruhe, wie sie es gelernt hatte, und allmählich trat die erwünschte Wirkung ein: Wozu sich aufregen? Dieser Loranthus vom Stamm der Hornochsen würde gar nicht begreifen, dass er in ihren Augen ein selbstsüchtiger, nutzloser …
„Als ich so tot es ging da lag, hörte ich noch, wie der Anführer sagte, sie bräuchten sich nicht zu beeilen, sein Jüngster wolle noch etwas Schonzeit, bevor er wieder vom Weib des Statthalters ausgequetscht würde. Da haben alle gegrölt vor Lachen und dem Blonden auf die Schulter geklopft. Mein Peiniger fragte ihn sogar, ob sich sein Weib noch nicht beschwert habe oder ob er sie auch noch schaffe, wenn die Herrin mit ihm fertig sei.“ Entrüstet schüttelte Loranthus den Kopf. „Beim Zeus, ich hätte ihm für diese Dreistigkeit einen Fausthieb verpasst! Wie redete der denn mit dem Sohn seines Anführers?! Aber der Blonde hat nur geseufzt. Er gebe sein Bestes, hat er gesagt. Es war eine seltsame Unterhaltung, wenn ich so recht darüber nachdenke, denn Hermunduren haben ja gar keinen Statthalter.“
Wozu der Hundeblick?! Verstand der griechische Hornochse den logischen Zusammenhang nicht? Nun, da konnte Viviane ihm auch nicht helfen, den verstand sie nämlich selbst nicht. Oder hätte der brave Bürger Roms gerne einen Statthalter für die Hermunduren? Viviane schürzte die Lippen, ihre Augen wurden sehr schmal. Wenn er jetzt noch anfing zu hecheln, flog gleich ein Stock bis nach Griechenland.
Doch so weit kam es nicht, ein heftiges Zähneklappern brachte sie zum Umlenken. Auf Pfiff kamen ihre Pferde angetrabt und sie zog aus einer der vielen Taschen einen gelbgrün karierten Wollmantel, ein gelbes Hemd und brombeerfarbene Hosen. In einer anderen Tasche kramte sie nach einem Paar kniehoher Filzstiefel. Kaum drehte sie sich mit dieser Ausbeute in Händen um, zuckte Loranthus zusammen und ging ein Stück weg.
Viviane konnte es nicht lassen und schleuderte das Stöckchen mit den Bisskerben weit über seinen Kopf in den Wald hinein, doch er sprang nicht darauf an; er schien es nicht einmal gemerkt zu haben. Achselzuckend legte sie der Sklavin die neuen Kleider auf den Baumstamm und half ihr beim Umkleiden.
Diese ließ es mit müden Bewegungen geschehen und flüsterte: „So schöne Farben und so weich. Du bist so gut zu mir. Ich wünschte, ich könnte es dir vergelten.“
„Ich nehme dich beim Wort, aber fürs Erste reicht es mir, wenn du mir deinen Namen verrätst, damit ich meine Patientin richtig anreden kann.“ Viviane wackelte neckisch mit den Augenbrauen. „Die Stiefel sind eigentlich für Schnee gedacht, aber die taugen auch für kleine frierende Wildkätzchen. So, jetzt ummantele ich dich noch fein, gleich wird es warm. Ist beste Filzwolle, da kann Loranthus’ dünnes Sommerdeckchen nicht mithalten.“ Resolut stülpte sie ihr die Kapuze über den Kopf, schlang den Mantel gleich zweimal herum, stach eine bronzene Fibel mit Pferdekopf-Motiv hindurch und klemmte die Nadel sicher in die Halterung. Zufrieden betrachtete sie ihre Einwickelkünste. Eine Raupe hätte es nicht besser gekonnt, auch die Farben passten gut.
Die Arme konnte ihr Gegenüber zwar nicht mehr von sich strecken, aber dafür zeigte sie wieder dieses hübsche Perlenlächeln.
„Mein Name ist Hanibu.“
„Hanibu?! Ein feiner Name.“ Viviane nickte freundlich. Sanft strich sie über die verletzte Schulter, dann raffte sie die verdreckten Sachen zusammen und beorderte Hanibu mit einem Kopfnicken dicht an ihre Seite.
„Komm!“, herrschte sie Loranthus an, der sich inzwischen wieder herangewagt hatte.
„Hanibu braucht Ruhe! Eine viertel Wegstunde von hier liegt ein Gasthaus. Dort werden wir die Nacht verbringen. Und wehe, du sagst auch nur ein Wort dagegen. Also keinen Widerpart, ich hadere selbst genug mit mir.“
Wehmütig schaute Viviane gen Westen in das einsetzende Abendrot und seufzte. Sie hätte es heute gern noch bis nach Hause geschafft, und für den Griechen allein hätte sie bestimmt nicht die letzte Fähre verpasst. Aber Hanibu brauchte ihre Hilfe und Bedürftigen zu helfen war schließlich ihre Berufung. Sie musste nur ein wenig umdisponieren, damit sie beide bequem reiten konnten.
Mit ein paar Handgriffen hatte Viviane ihren Sattel von Dina auf Arion umgelagert, das Festzurren hingegen dauerte wesentlich länger. Arion ertrug es mit Gleichmut, dass Viviane an seinem Gepäck herumruckelte, bis sie endlich zufrieden war. Danach half sie Hanibu auf Dinas Rücken. So leicht und klein, wie sie war, würde Dina sie ohne große Mühe beide tragen können.
Nach erneutem Kramen in einer ihrer vielen Taschen fand Viviane noch ein paar verschrumpelte Äpfel. Dina und Arion bekamen je einen, und einen drückte sie Hanibu in die Hand, die darauf starrte, als hätte sie noch nie einen Apfel gesehen.
„Nun ja, er ist zwar nicht mehr der beste, aber garantiert auch nicht der schlechteste. Iss nur, Hanibu, der schmeckt!“
Dankbar biss Hanibu hinein. Dieser kleine Apfel machte sie sehr, sehr glücklich. Süß, fruchtig und wunderbar warm, zauberte er ein Lächeln in ihre müden Augen.
„Für dich habe ich auch einen, Loranthus, aber erst, wenn du oben sitzt“, sagte Viviane und ließ es mit Absicht wie einen Befehl klingen; ihr war aufgefallen, wie geringschätzig der Grieche ihre Äpfel gemustert hatte. Na, dem würde sie die Extravaganzen schon noch austreiben. „Hurtig, hoch mit dir!“
Bestimmend zeigte sie auf Arion, und weil Loranthus nicht gleich reagierte, machte sie noch ein paar Handbewegungen, als würde sie ihn zur Not auch hochwerfen.
„Das geht doch gar nicht“, maulte Loranthus. „Wie soll ich da raufkommen?“ Er ging einmal um Arion herum und suchte eine freie Stelle. Wie Viviane bei diesem Wust von Taschen auch noch ihren Sattel obendrauf festzurren konnte, war ihm ein Rätsel, aber sie hatte es geschafft, und eines war sicher: Vor lauter Gepäck sah er nicht einmal, wo das Pferd aufhörte. Zum Glück war der Kopf frei geblieben, so konnte er immerhin vorne und hinten unterscheiden.
Weil Viviane keine Anstalten machte, auch nur eine einzige Tasche abzunehmen, damit er die Aufstiegsmöglichkeit wenigstens vermuten konnte, ging Loranthus noch eine Runde um Arion herum und grummelte: „Bei Poseidon, ist das ein kompaktes Riesenvieh!“
Das hätte er lassen sollen. Aus dem Hinterhalt peitschte ihm Arion seinen langen Schweif in den Nacken, und kaum war Loranthus vorwärtsgetaumelt, hatte er auch schon ein ziemlich beleidigtes Pferdegesicht vor der Nase.
„Kannst du mir mal helfen, Viviane? Der will mich nicht haben“, jammerte Loranthus und beugte sich weit nach hinten. Arion folgte ihm, den langen Schweif wieder zwischen den Taschen verborgen. Loranthus bekam arge Schräglage, beim kleinsten Zucken würde er umfallen.
„Probiere es mal mit Bestechung“, gluckste Viviane und drückte ihm einen Apfel in die Hand. Hastig streckte er das verschrumpelte Ding, das ein Apfel sein sollte, von sich, und Arion schnappte zu.
„Und jetzt lässt er mich aufsteigen?“ Loranthus blieb skeptisch. Er ließ Arion nicht aus den Augen und verfolgte mit offensichtlichem Argwohn, wie der Hengst den Apfel verspeiste. „Der wird mich zermalmen, ich meine, wie soll ich denn über die Taschen … ich will ihm ja nicht wehtun!“
Seufzend nahm Viviane Arions Zügel, führte ihn zu dem umgefallenen Baumstumpf und bedeutete Loranthus, von hier aus aufzusteigen, was er schleunigst tat – der Apfel war nämlich gleich alle und kein Nachschub in Sicht.
Nach einigem Hängen und Würgen und viel Hilfe von Viviane hatte sich Loranthus endlich auf Arion zurechtgerückt und hockte mehr oder weniger zusammengequetscht dort, wo er hinsollte. Kaum hatte er mit den Füßen nach den Steigbügeln gehangelt, ging es auch schon los. Die großen Taschen scheuerten bei jedem Schritt gegen seine Beine, seinen Rücken, seinen Bauch und seine Arme, die Steigbügel hatte er immer noch nicht erwischt … er machte ein missmutiges Gesicht. Er steckte so fest, dass er ohnehin nicht herunterfallen würde.
„Besser schlecht geritten als gut gelaufen“, knurrte Viviane und reichte ihm den versprochenen Apfel.
„Da magst du recht haben, Viviane. Aber wenigstens ist der Sattel, auf dem ich hier sitze, bequem, sehr bequem sogar. War bestimmt teuer, daher vermute ich: Dein Arion ist gar kein Packpferd. Selbstverständlich kann er viel Gepäck tragen, aber du hast ihn hauptsächlich als Taschenberg getarnt, damit er kleiner wirkt und man das edle Ross übersieht.“
Loranthus lächelte wissend und hob die Hand, um Viviane an einer Erwiderung zu hindern. Ihr erstaunter Blick war ihm Antwort genug und er wollte noch etwas Wichtiges sagen. „Nun, ich möchte mich gerne für deine Hilfe erkenntlich zeigen. Ich habe genug Gold, um dich für deine Mühen zu entlohnen. Zum Glück haben die Räuber mich nicht durchsucht. Ich trage es immer bei mir.“ Zufrieden tätschelte er seinen feisten Bauch.
„So, so.“ Viviane rümpfte die Nase. Wo der wohl sein Gold versteckt hatte, dass es bei einem Kampf mit Körperkontakt nicht aufgefallen war? Beim Anblick von Loranthus’ süffisantem Grinsen fiel es ihr schlagartig ein: Des Rätsels Lösung war so einfach und gleichzeitig genial. Der feiste Bauch war gar nicht echt!
„Lass dein Gold stecken. Jeder andere hätte das Gleiche für euch getan. Es ist selbstverständlich für uns Hermunduren, in der Not zu helfen. Aber du darfst gerne die Zeche fürs Gasthaus bezahlen. Wir sind bald da.“
„Prima.“ Bei dieser verlockenden Aussicht traute sich Loranthus nun doch, in den hässlichen Apfel zu beißen, und wurde prompt für seinen Mut belohnt. Der Apfel schmeckte einfach köstlich und war trotz der vielen Falten noch ziemlich saftig. Er musste sich richtig zusammenreißen, damit er sich den Mund nicht zu voll stopfte. Gut erzogen, wie er war, biss er also hastig noch einmal zu, nur ein winziges bisschen.
Derart genüsslich mit Kauen und Knabbern beschäftigt, erreichte er den letzten Bissen sowie die nächste Wegbiegung und hätte sich beinahe verschluckt. Raben über Raben stoben vor ihnen auf, ein Wust aus Federn, Krallen, Krächzen, Flattern; Loranthus warf sich die Hände über den Kopf, krümmte sich zusammen, wühlte sich kopfüber in den Taschenberg auf Arions Rücken … auf einmal war der Spuk vorbei, so schnell, wie er gekommen war.
Loranthus seufzte tief geduckt in seinen Bauch hinein, er war zum Glück heil geblieben. Er saß sogar noch oben auf dem Pferd, das hätte ja auch mit ihm durchgehen können. Doch sobald er sich endlich traute, sich aufzurichten, wünschte er sich die Raben zurück. Rechts und links, ein paar Schritt vor ihm, standen zwei nackte, blutverschmierte Männer wie monströse Wächter, doch sie bewachten nicht den Weg – sie waren schlichtweg tot. Ihr Anblick war grauenvoll. Einstmals mussten es stattliche Männer gewesen sein, das konnte man jedenfalls aus ihrem Körperbau schließen, denn ihnen fehlten die Köpfe, in ihren Brustkörben steckten Speere, ihre Bauchhöhlen waren aufgeschlitzt und absolut leer. Ein einziger Fetzen Fleisch hing von dem rechten Unterleib herunter und baumelte vor sich hin.
Viviane ritt kommentarlos auf die Toten zu, Arion folgte ihr und Loranthus presste sich eine zitternde Hand auf Nase und Mund, um den Gestank nach Blut und Tod von sich fernzuhalten. Hastig nahm er noch die zweite Hand zu Hilfe, doch seltsamerweise verspürte er keinerlei Drang, die Augen zusammenzukneifen. Im Gegenteil, er redete sich ein, hierzulande herrschten eben raue Sitten, und ließ sich kein Detail entgehen.
Diese geschundenen, kopflosen Körper standen nicht von selbst. Mit Lederriemen waren sie an Pfähle gebunden und genau so platziert, dass sie zu beiden Seiten den Weg flankierten, durch die Kurve aber spät einsehbar waren. Selbst wenn keine Raben aufgeflogen wären, hätte das Szenario eine schockierende Wirkung auf jeden, der hier ahnungslos des Weges kam. Allein schon diese weit aufklaffenden Bauchhöhlen waren zum Gruseln. Man konnte die Rippenbögen sehen, das blank geputzte Rückgrat und sogar die Knorpel zwischen den einzelnen Wirbeln. Dagegen schienen die anderen Körperteile, bis auf die blutverschmierte Haut, völlig unversehrt - wenn man von den Speeren auf Höhe der Herzen absah, und natürlich von dem Fehlen der Köpfe. Es wirkte schon fast skurril, wie statt der Köpfe die Pfähle emporragten; als hätte sich hier jemand einen bitterbösen Scherz erlaubt. Ein Detail war besonders merkwürdig: Zu beiden Seiten der Pfähle waren Ohren angebunden und zwar genau an der Stelle, wo normalerweise Ohren wären, wenn die Köpfe noch dagewesen wären.
Loranthus fragte sich, wozu diese explizite Anordnung gedacht war; für bestmögliche Sicht waren sogar besonders dünne Lederriemen zum Anbinden verwendet worden. Wieso stellte jemand so ausdrücklich Ohren zur Schau, wenn der Rest vom Kopf genauso deutlich fehlte?
Selbst Viviane schien intensiv darüber nachzudenken; sie betrachtete jedes Ohrenpaar auf das Genaueste, bevor sie ihre Stute zu einer etwas schnelleren Gangart antrieb. Loranthus war froh, den Ort des Grauens hinter sich lassen zu können, denn schon hörte er, wie sie wieder anrückten, wie sie flatterten und krächzten, die Raben. Er sah es förmlich vor sich, wie sie an dem lose baumelnden Fleischfetzen zerrten, und nun endlich verspürte er den heftigen Drang, die Augen zu schließen. Während Arion für stetig wachsenden Abstand sorgte, wischte sich Loranthus fahrig übers Gesicht, als könne er die Bilder vertreiben, wenn er nur lange genug die Augen zu ließe. Doch als er es endlich wagte, durch seine Fingern zu spähen, stöhnte er matt auf. Zu etwas anderem hatte er keine Kraft mehr, weil da nun noch mehr Tote waren. Noch mehr verstümmelte Körper, noch mehr Speere, noch mehr Lederriemen, noch mehr Pfähle, noch mehr Ohren … angeordnet zu einem langen, entsetzlichen Spalier.
Wie abgemessen flankierten sie eine ewig lange Gerade, etwa alle fünfzig Schritt stehende Leichen rechts und links. Loranthus konnte die Augen zupressen, so viel er wollte – er musste mitten durch sie hindurch, und er wusste: Dieses Schreckensszenario würde ihn in seine schlimmsten Träume verfolgen.