Kitabı oku: «Der Schokoladenverkäufer»
Der Schokoladenverkäufer
Inhalt
Vorspiel
Mr. Booja-Booja
Money-Truffle
Die sagenhafte Geschichte von Mr. Booja-Booja
Den Hof machen
Venusbrüstchen
Pralinen-Andacht
Adonis-Naschwerk
Karma-Konfekt
Diesel-Praline
Der Schokoladenweg
Liebeskugeln
Meditation de Macaron
Ecstasy Balls
Der Meister-Trüffel
Mousse au fin
Anhang
Vorspiel
Das Leben ist eine verführerische, schicksalsschwangere Pralinenschachtel voller Drama und Überraschungen, bei der Frau oder Mann nicht so recht wissen, was sie darin erwartet bzw. was die Packung enthält, die man geschenkt bekommen hat. Die Aufmachung kann leicht täuschen und der Inhalt sowieso: Man denke nur an all die nicht deklarierten Zusatzstoffe! Aber, und das ist die vorweggenommene Botschaft dieses Buches, wissen wir – frei nach „Forest Gump“ – alle, dass wir nicht nur nicht wissen, was für eine Praline wir bekommen, sondern auch, dass kein einziger Schoko-Trüffel übrig bleiben wird.
Wie sich auch immer das süße, zart-bittere Drama des Lebens entfaltet, alle Pralinen müssen gegessen werden, wenn nicht beim Lesen dieses Buches oder in diesem Leben, dann im nächsten oder übernächsten. Die verschmähten Pralinen, die nicht gelebten Leben, die verdrängten Sünden und Gelüste werden uns immer wieder neu serviert, schön hergerichtet und verschwinden nicht. Ein Mindesthaltbarkeitsdatum tragen solche Pralinen übrigens nicht!
Auch von diesen seltsamen, ja oft skurrilen Pralinen erzählt dieses Buch, jedoch vor allem von neckischem Naschwerk wie zum Beispiel Energiebällchen, Venusbrüstchen, Liebeskugeln und Meister-Trüffeln. Es geht um Sünde, Sex und Sperma. Verbiegungen, Verführung und Verkauf. Kasse, Kundinnen, Karma und Komplimente. Und wieder um Sex, Bäume, Meditation und das Nirwana. Vielleicht nochmal um Sex, doch diesmal nach dem Yoga. Um alles eben, was eine gut aufgemachte Pralinenschachtel und ein durchschnittliches Leben als Schokoladenverkäufer ausmacht, und um all das, wovon Frau und Mann scheinbar nie genug bekommen. Der Schokoladenverkäufer würde das Ganze nach jahrzehntelangem Probieren und Studieren in dem Begriff „bitter-zartes Schokoladen-Kamasutra“ zusammenfassen.
Doch jede Pralinenschachtel hat ihr ganz eigenes Karma, ihre eigene Ordnung und Reihenfolge. Auch die seltsam aussehenden Pralinen, die meist zuerst liegen bleiben, die keiner haben will, deren Zutatenliste einen die Nase rümpfen lässt oder die scheinbar vom Himmel gefallen oder geradewegs aus der Hölle gekommen sind, die es eigentlich nicht geben kann und darf, werden letztlich gegessen werden müssen. Manche heimlich nachts mit unstillbarer Gier und Lust, andere nur zu ganz bestimmten Momenten und mit ganz bestimmten Menschen.
Meist liegen diese Außenseiter-Trüffel ganz rechts unten oder in der allerletzten Ecke der Schachtel und sehen irgendwie merkwürdig aus, obszön künstlich, viel zu dunkel oder auch zu perfekt, unheimlich oder einfach nur ungewöhnlich. Keiner will sie haben. Mach die Schachtel auf, mach sie wieder zu. Wird sie schmecken? Ist es das, was ich gerade jetzt brauche? Keiner weiß im Vorhinein, welche Füllung, welches Herz sie hat. Der erste Anschein kann trügen.
Für diese letzten Objekte der Begierde braucht es eine gewaltige Frustrationstoleranz, große Nüchternheit oder große Ernüchterungen, einen großen Moment, einen Impuls, um diese „vergessenen Pralinen“ vorurteilsfrei, tolerant und ungehemmt zu verschlingen.
Der Fluss der Schokolade ebbt nie ab und endet nicht – eine unbestrittene Tatsache, der unserem Schokoladenverkäufer so manches Trauma zu verdanken hat. Doch Schokolade geht immer! Vielleicht weil sie die einzige wahre Droge für unser Hormonsystem ist. Weil sie, wenn sie richtig serviert, dargereicht, hergestellt und vor allem wunderschön verpackt ist, sprich wenn sie „Booja-Booja“ ist, tatsächlich „Prasad“ ist.
Dann ist sie nicht der schnelle Fast-Food-Quickie, die obszöne Kassenware, die billig plattgewalzte Tafel oder die industriell gefertigte Frust-Kugel, die selbst bei 30 Grad im Schatten nicht schmelzen und zu den perfidesten Leugnern des Klimawandels zählen. Ja, wenn es tatsächlich Prasad ist, dann tut der Schokoladen-Trüffel einfach gut, beruhigt das Herz und lässt die Zeit stillstehen. Der Atem geht tiefer. Entspannung macht sich breit, ein neues Gefühl vollkommener Ruhe und anhaltender Befriedigung im nervenaufreibenden Getriebe des Lebens. Eine willkommene Pause, ein Liebesgefühl, ein Segen.
Schokolade spendet jedoch keinen Trost: das weiß jede Frau, die schon mal mehrere Packungen hintereinander in sich reingeschoben hat. Das ist wie schlechter Sex, auf den Frau oder Mann besser verzichtet hätten.
Schokolade ist die Speise der Götter. Und von daher eine der vielen Manifestationen, welche die Welt in ihrer süßen, weiblichen Seite in Erscheinung treten lässt. Und Frauen ohne exzellente Schokolade sind wie Männer ohne echte Freundschaft.
Der Schokoladenverkäufer, von dem dieses Buch handelt, hatte das große Glück, Frauen tatsächlich erleben und genießen zu dürfen, ihre Shakti, die Maya, die Dakini, ihre Schlangenkraft, die Kali, die große Verführerin, die alle Männer verwirrende, alles verschlingende Energie, die sich in einem unglaublichen Moment in der Zeit ihrem Ewigen Geliebten vollständig hingibt.
Mann darf keine Angst vor ihr haben, schon gar nicht als Verkäufer. Mann muss lernen, sie völlig zu umarmen und anzunehmen, so wie sie ist. In dieser Hinsicht ist dieses Buch auch ein Männerbuch, das Frauen ihren Männer schenken sollten. Ganz ähnlich, wie Frauen ihren geliebten Männern und Frauen Schokolade schenken, um sich dann trotzdem meist selbst die süßen Kugeln in den Mund zu schieben oder auf den Lippen der Geliebten zergehen zu lassen. Wer schon einmal bewusst einer Frau beim Schokoladengenuss zugesehen hat – ein süß-erregendes, immer wieder faszinierendes Eye-Candy – der weiß, was hingebungsvoller Genuss und Vergänglichkeit bedeuten. Ein gelebtes, umarmtes Leben. Ungeplant, berauschend, beglückend und mit einer großen Portion spielerischer Selbstdisziplin.
Übrigens: Gute Schokolade sollte man nie zerbeißen oder womöglich kauen, sondern ganz langsam im Mund dahinschmelzen lassen – bereits hier fängt die Disziplin an.
Der Schokoladenverkäufer hat auf seiner jahrzehntelangen Reise durch die Schokoladenwelt gelernt, dass die meisten Kunden Frauen sind. Ähnlich wie beim Yoga. Ein Thema, dass bei diesem Buch über Hüftgold, Bauch, Beine, Po und Süßkram natürlich nicht fehlen darf.
Doch wenn die fachlich fundierte und empirisch belegte Theorie des Schokoladenverkäufers, dass Schokolade das einzig wahre Yoga der Frau ist, was ist dann das wahre alltägliche Yoga des Mannes? Der Geliebten, dem Geliebten zu sagen, dass er sie liebt. Täglich. Immer. Das klingt vielleicht albern, ist aber eine ernste Tatsache, um die Mann nicht herumkommt, wenn diese Welt ihren dramatisch überhitzten Weg in Geist und Materie verändern will.
Da alles, was auf dieser Welt als sichtbare Manifestation in Erscheinung tritt, weiblich ist, Shakti ist, hört diese Liebe natürlich nicht bei der Partnerin oder dem Partner und ihrer Lieblingsschokolade auf. Die Verantwortung der sich „männlich“ manifestierenden Liebe von Mann und Frau ist viel größer, ja allumfassend.
In dieser Hinsicht ist das Endzeit-Dilemma dieser Welt, das hauptsächlich in der Psyche des Mannes begründet liegt, nicht, dass Männer scheinbar ihre Identität verloren haben, seit Jahrzehnten zuhauf billige Schokolade verschenken, sämtliche Regeln des guten Geschmacks verachten bzw. wieder als halbstarke Sandkasten-Rowdys das Weltgeschehen bestimmen oder Frauen die Männer verdrängen. Es ist der Mangel und die Weigerung des Mannes, wahre Liebe zu geben, zu teilen, sich zu verschenken, sich in den Dienst von allem zu stellen und das bedingungslos sowie objektlos. Ohne Machtanspruch, ohne Selbst-Glorifizierung, ohne Dagobert Ducks Geldspeicher, ohne Gesichtswahrung und in größter Demut.
Das selbstgemachte und vollkommen unnötige Endzeit-Drama basiert auf der Weigerung, nicht nur das zu lieben, was Mann scheinbar besitzen kann, wie etwa Geld, eine auf Hochglanz polierte, bald selbstfahrende Gebärmutter, Immobilien, sinnstiftenden Nachwuchs oder eine geheiratete Frau – was ja heute auch nicht mehr funktioniert. Die Zeichen der Zeit fordern stattdessen vor allem die Männerwelt auf, endlich die Welt an sich, als Ganzes, ohne Wenn und Aber zu lieben und zu schützen. Tag für Tag für den Erhalt der Natur und die Shakti zu kämpfen, zu leben und allen Menschen zu dienen. Buchstäblich allen. Zu dienen, der Perfektionierung des eigenen Selbstbildes und Lebensstils zu entsagen, das ist Liebe. „Ich liebe Dich“ bezieht sich nicht nur auf das scheinbare Gegenüber. Das Wörtchen „Dich“ bedeutete schon immer „Alles“! Es stellt sich in den Dienst von Allen.
Es fehlt der Aufbruch der wahren Diener der Liebe. Es fehlt die große männliche Hingabe, der Menschheit und Umwelt jetzt als Ganzem ins Auge zu blicken, dem Versagen und grandiosen Scheitern gewahr zu werden und neue Schritte zu gehen – nur dann bricht die Panzerung des Herzens und dieser Planet hat eine Zukunft.
Womit wir verheißungsvoll und dramaturgisch unspektakulär beim Öffnen der Pralinenschachtel angelangt sind. Den weichen Kern, die zarte Füllung und die sinnliche Verführung herbeizusehnen – der Schokoladenverkäufer würde sich jetzt das französische Wort „Ganache“ auf der Zunge zergehen lassen – und gespannt die erste Praline zu erwarten.
In ergebener Dankbarkeit für alle KundInnen, Lieferanten, LKW-Driver, EinkäuferInnen, EinzelhändlerInnen, Paketzusteller, Großhändler, Spediteure, Banker und Katzen und Fans von Booja-Booja.
Mr. Booja-Booja
An dem legendären zartbitter-süßen Tag, als Mr. Booja-Booja1 in das gerade mal wieder grandios gescheiterte Leben des tränenüberströmten Schokoladenverkäufers trat, konnte dieser nicht im Geringsten ahnen, was ihn erwarten sollte.
„Alle können nur durch das Booja-Booja ins Unbekannte gelangen. Alle.“
Booja-Booja hatte bereits 25 Jahre zuvor spontan das Licht der Welt erblickt und mit ihm Mr. Booja-Booja. Diese zwei betörende Worte wurden damals geschaffen, um später als Schokoladen-Trüffel und Eiscreme-Kugeln die Welt zu beglücken und zu verzaubern.
Ein verrückter Narr und sein sinnlich-süßes Mantra waren geboren. Booja-Booja schallte zum ersten Male durch die manifeste Welt, als die Flowerpower-Bewegung der 1970er Jahre sich zu Ende neigte. Humor und Verführung manifestierten sich jetzt dort, wo sie dringender denn je gebraucht wurden. Aber tatsächlich vergingen noch einmal 20 Jahre, ausgenommen einer Kekse-artigen Experimentierphase, bis im Jahr 1998 in einem fernen Königreich, das sich selbst immer mal wieder als Insel bezeichnete, sich in Wirklichkeit aber als Kontinent fühlte, die von Mr. Booja-Booja weisgesagten, famosen Trüffel und die unwiderstehliche Eiscreme, unbeabsichtigt und ohne Vorahnung das vegane Licht der Welt erblickten.
Es war fast unmöglich gewesen, etwas Genaueres über den Businessplan, die Geschäftspraktiken oder die geheimen Rezepturen zu erfahren, ja über das Leben von Mr. Booja-Booja selbst. Allein das Wort „Booja-Booja“ zu „Bio-Schoko-Trüffel-Vegan“ werden zu lassen, hatte 20 Jahre gedauert. Die Welt der Maitres de Chocolat beobachtete damals mit einem müden Lächeln die Bemühungen der Booja-Booja Schokoladenmacher. Das war doch reine Blasphemie,was da ohne Milch und Sahne hergestellt und als Schokolade verkauft wurde.
Woher kam Mr. Booja-Booja? Wo und als was hatte er gearbeitet? Und wo waren seine Referenzen? Wollte er jemals etwas anders als durch Booja-Booja die Welt zum Lachen, ja zum hingebungsvollen Schmelzen bringen? Wer war dieser Mr. Booja-Booja überhaupt? Und was hatte der immer noch tränenüberströmte Schokoladenverkäufer damit tun? Das Einzige, was sich in alten Aufzeichnungen über Mr. Booja-Booja herausfinden lies, waren folgende verifizierbare Tatsachen:
Man sah ihn oft mit einen etwas traurig dreinblickenden, kleinen wuscheligen Hund, der sein ständiger Begleiter war. Ab und an beugte er sich zu ihm hinab und warf ihm liebevoll das Wort „Booja-Booja“ zu, sozusagen als Leckerli, um den Hund zu beruhigen, ihn liebevoll über den Kopf zu streicheln und ihm echte Aufmerksamkeit zu schenken.
Mr. Booja-Booja wurde ausschließlich mit einer gepunktete Mütze auf dem Kopf gesehen, sein weißes Leinenhemd war stets sehr weit aufgeknöpft, um der gewaltigen Hitze in seinem Körper einen Art Kamin zu gewähren, die dann allerdings die meisten Frauen und ab und an auch ein paar furchtlose Männer in sexuelle Ekstase versetzte, ja in einen Rausch. Er war ein verrückter, erleuchteter Narr. Verführung pur, hemmungslos und „very sexual“. Das Beste, was einem in dieser Welt passieren konnte.
Sein Lachen und sein Humor waren markerschütternd, wobei Mann und Frau seinen Hund nie ärgern sollten, da sonst ein gewaltiges Donnerwetter die Welt heimsuchte.
Der sich gerade wieder beruhigende Schokoladenverkäufer hingegen verbarg im ersten Teil seines Lebens seine wahre Identität. Er war weder roh noch gekocht, weder Fleisch noch Fisch, weder dafür noch dagegen, weder hü noch hott. Sein Leben spielte sich jenseits von Kommen und Gehen, von Reden und Schweigen, von Lieben und Hassen, kurz jenseits von Schokolade und Eisdiele ab. Er wartete nicht, er ging aber auch nicht. Mit allem, womit er zu tun hatte, wollte er eigentlich nichts zu tun haben. Überhaupt, das war sein Lebensmotto.
Seine Karriere als Verkäufer begann ausgesprochen früh. Im Alter von zehn Jahren verkaufte er auf dem Schulhof Aufkleber verschiedener Fußballvereine, die er zuvor aus einem Abfallcontainer einer Druckerei herausgefischt und zurechtgeschnitten hatte. Im Alter von 12 begann er ausgefallene Klamotten zu nähen, die er an seine Freunde verkaufte. Mit 15 saß er in verräucherten Kneipen, obwohl er weder trank noch paffte, seinen besten rauchenden und trinkenden Kumpels zur Seite, und spielte sehr erfolgreich Karten, da sein Freund ein verwegener Spieler war und alle Tricks und Schlichen kannte und diese auch perfekt einzusetzen wusste. Beide hatten immer genug Geld und waren gleichzeitig fasziniert vom Spiel, wie jeder echte Händler und jede wahre Händlerin im tiefsten Inneren ein verkappter Zocker oder eine verkappte Zockerin sein musste.
Der Schock kam mit Anfang 20, als er merkte, das dieses Geldspiel bitterer Ernst war, tatsächlich der Sinn des Lebens selbst, das einzige, was die Menschen der westlichen Welt wirklich interessierte. So setzte er eines Tages wieder einmal alles auf rot und erkannte im blendenden Licht der Kronleuchter, noch während das Roulette sich surrend drehte, dass die Kugel getürkt war und es hier in dieser bedingten Welt absolut nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren gab. Das Casino des Vollkonsums, die Manipulation unserer größten Wünsche, war nur eine tödlich-langweilige Freizeitbeschäftigung, eine grandiose Täuschung.
Geld, die wahnwitzigste aller Religion, die die Menschheit hervorgebracht hatte, war kein vergnügliches jugendliches Spiel mehr, das schlicht und ergreifend die Lebensgrundlagen sicherte, sondern immer nur noch mehr Täuschung, Macht und rohe Gewalt bedeutete und sicherte.
Er wartete erst gar nicht ab, wohin die Kugel fiel und verließ den mit schweren Vorhängen ausgekleideten Raum, sah ein letztes Mal in die auf einmal leeren Augen der leicht bekleideten, jungen Frauen im Casino und kehrte nie wieder. Von da an Bestand sein Verkaufsladen aus leeren Regalen, ja aus der Leere selbst.
Das materielle Dasein meinte es gut mit unserem Schokoladenverkäufer. Schon die Vorfahren hatten ihm vorausschauend und in großer Weisheit ein leergeräumtes Geschäft samt Verkaufsraum hinterlassen, der auch so gut wie leer bleiben sollte. Sein Pensionärsdasein erfolgte bereits mit Mitte 20 an einem gemächlich vorbeifließenden Fluss, mit einer großen Linde vor dem Fenster und seiner Lieblingskatze, der er beibrachte, keine Vögel im Garten zu fangen.
Eigentlich war es völlig offensichtlich, dass ein Schokoladenverkäufer und ein leerer Laden auf Dauer nicht funktionieren konnten. Sicherheitshalber wurde der Laden nach einiger Zeit auch noch verkauft. Selbst der Leere war irgendwann nicht mehr zu trauen.
Der Schokoladenverkäufer war mittlerweile schon Anfang 30, gab sich wie immer dem Leben hin, liebte, meditierte, arbeitete ein bisschen und versuchte zu verbergen, dass er mit seinen Sprüchen über die Leere in all den Jahren im Nirgendwo gelandet war. Glückliche Tage.
Erschöpft und ernüchtert schlenderte er durch seine Stadt, sah ein Werbeplakat mit einer großen Verheißung. Sagte sich selbst, dass er nicht intolerant und verschämt sein sollte, und ging auf den Deal ein.
Unerwartet und ohne die geringste Vorahnung und ohne ein Zeichen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, gewann der Schokoladenverkäufer an einem verregneten Novembertag im Lotto. Jackpot, 6 Richtige mit Zusatzzahl, übervoll, jenseits aller Vorstellungen. Diesen unbeschreiblichen, unerwarteten Segen konnte er nicht mal in 10 Leben ausgeben. Ja nicht einmal in 100 Leben. Sein Herz jubelte, all seine Zellen explodierten förmlich und sein Körper brannte Wochen lang vor Glück. Das, was er immer verzweifelt woanders gesucht hatte, manifestierte sich schlagartig und aus der wortwörtlichen zutiefst ernüchternden Leere heraus. Zahlen lügen nicht. Was jetzt noch fehlte, war die Insel, seine Insel, wie er dachte, das Paradies. Und genau da wollte er hin.
Letztlich war der Schokoladenverkäufer schon immer ein wahrer Glückspilz gewesen. Schon früh dachten immer alle, er hätte etwas genommen – dabei hatte er noch nie irgendeine Droge angerührt. Die Welt war ihm Droge genug. Nur eines hatte er nie ganz kapiert: Was hatte Liebe mit dieser Hölle auf Erden zu tun. Er hatte nie verstanden, wie die Menschen es toll finden konnten, auf diesem Planeten zu leben. Sahen sie nicht die unerbittliche Wirklichkeit der dualen Welt? Dass jede Liebe einmal sterben wird, egal wie groß und wahr sie ist? Wie konnten Mann und Frau sich an diesen unbeständigen Dingen, an der absoluten Vergeblichkeit der bedingten Welt, Jahr für Jahr berauschen? Sich damit zufriedengeben?
Deine Lieb geht nur bis zu deiner Stirn, und sie küsste ihn.
Bis zu dem Moment, als die Zusatzzahl tatsächlich 7 anzeigte, hatte er immer nur ein Ziel verfolgt: Was ist der Sinn des Lebens? Was ist die Wahrheit? Nun hatte ihn eine Wahrheit gefunden, an einem Platz und durch einen Umstand, den er nie für möglich gehalten hatte. Ein Schicksalsschlag ohnegleichen. Nun hieß es, Koffer packen und der strahlenden Sonne entgegen, das Konto prall gefüllt. Aber die Wahrheit hatte etwas anderes mit ihm vor. Etwas völlig anderes.
Money-Truffle
Zutaten: Roulette, 20 Mark, Lottofee, Superzahl
Die Verkaufstheke hatten sie selbst gebaut, ebenso das Brotregal und alle anderen Regale, den alten Kolonialwarenladen komplett neu renoviert. Der Name Booja-Booja war zur damaligen Zeit im Jahr 1988 nicht einmal 10 Jahre alt und wartet immer noch geduldig auf seine endgültige Erweckung, die aber erst 10 Jahre später erfolgen sollte. Wir hatten also noch Zeit.
Es war ein sehr warmer Sommer. Der Schokoladenverkäufer stand zum ersten Mal hinter seiner neuen Registrierkasse. Barfuß, ein langes Leinenkleid tragend, das in der Mitte von einen roten, pflanzen-gefärbten Seidenband zusammengehalten wurde. Die langen Haare, hennarot gefärbt, ebenfalls zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, die Haut von der Sonne braungebrannt. Er strahlte.
Nach dem Umbau wurde der verschönerte und vergrößerte Bioladen wieder eröffnet. Er war wie durch einen Zufall in diese Baustelle, in diesen Laden hineingeraten, nachdem er noch Monate zuvor sein Leben fernab aller westlichen Lebens- und Liebesweisheiten in Meditation zugebracht hatte.
Da stand sie vor ihm, seine erste Kundin. 20 Mark. Die „Grüne Dame“. Er nahm den Schein. Papier. Er schaute die Kundin lustig an. Er schaute den Schein belustigt an. Er fühlte sich wie als junger Ministrant beim katholischen Glaubensbekenntnis in seiner Dorfkirche: „Geboren aus der Jungfrau Maria... aufgefahren in den Himmel...“. Er hatte schon als Kind bei diesen Sätzen immer geschwiegen. Mann sollte ja keine Lügen verbreiten, so was war ganz schlecht für das Karma. Papier.
Das gleiche absurde Gefühl wie damals neben dem Altar stellte sich wieder ein, als er den Schein in seine Hände nahm und in die sich automatisch öffnende Kasse legte. Das ganze war reiner Glaube und funktionierte nur, wenn alle dieser Illusion zustimmten. Sie machte das Miteinander und den Austausch einfacher. Eine reine oder schmutzige Glaubenssache blieb es trotzdem, immer wieder menschlichen Verführungen unterworfen, da Kasse und Altar sich doch sehr ähnlich waren und beide stets abgeschlossen werden mussten. So eine Glaube konnte ja schnell verloren gehen oder einem gestohlen bleiben.
Ab diesem Moment war die Sache mit dem Geld für ihn wieder einmal erledigt. Es war ein Gebrauchsgegenstand, mehr nicht. Wenn der Schokoladenverkäufer es brauchte, besorgte er es sich. So begann in der Müsli-Bewegung der 1980er Jahre die Karriere des Schokoladenverkäufers. Er verkaufte alles mögliche. Selbstgemachte Massageöle und Teemischungen, Kräuter, selbst genähte Klamotten und alles, was es sonst so in einem Bioladen gab. „Killed Food“ und Zucker waren im Laden tabu. Das Gemüse für den Laden musste des Öfteren auf dem Acker des Demeter-Bauern selbst geerntet und abgewogen werden, da diesem die Arbeit über den Kopf wuchs. Was ihn allerdings nicht davon abhielt, Gedichte-Abende in seinem riesigen, beleuchteten Gewächshaus abzuhalten, wo Goethe, Rilke und Morgenstern samt eigenen Kreationen dem jungen Gemüse und den Besuchern vorgetragen wurden.
Sämtliche Ernährungsrichtungen und aphrodisierende Kräutermischungen der damaligen Zeit wurden intensiv zusammen mit den Kundinnen ausprobiert: 5 Elemente-Ernährung, Vegan, Sonnenkost, Makrobiotik, Instincto, Rohkost, Brucker, Bircher, Mayer... Ingrid, Nicola, Helga...
Verliebtheiten wurden gefeiert und Trennungen gemeinsam beweint oder kundenfreundlich getröstet. Am liebsten bediente der Schokoladenverkäufer schwangere Frauen. Sie waren großartig! Sie waren so schön, ätherisch, anmutig, rund und launisch. Keine Empfehlung passte und jeden Tag stand was anders auf dem Einkaufszettel. An solchen Kundinnen konnte ein Verkäufer nur wachsen.
Es gab die allererste Bio-Schokolade überhaupt: Nirwana! Als hätte sie jemand extra für unseren Schokoladenverkäufer kreiert. Gefühlt kostete sie damals 6 Mark. Das „Nirwana“ gab es nur bei Liebesdramen, beziehungsweise wenn Weihnachten und Ostern zusammenfielen.
Es blieb nicht die letzte Theke, hinter und vor und auf der sich der Schokoladenverkäufer in den nächsten Jahren vergnügte und voller Elan seiner Arbeit widmete. Gemüse- und Marktstände folgten, genau wie Vollkornbäckereinen, andere Bioläden und andere Städte bis zum Tage des sagenhaften Lottogewinns samt Superzahl mit randvollem Jackpot.
Wenige Tage nach diesem alles verändernden Ereignis saß der Schokoladenverkäufer wieder in seinem Bioladen, keiner da. Schaute immer noch benommen vor Glück in die prall gefüllten Regale, die sich beim längeren Anblick mehr und mehr zu leeren begannen, wie er es schon seit seiner Kindheit kannte, bis sie nur noch aus weißem Licht bestanden und die Stimme der freundlichen Lottofee plötzlich aus den entleerten Regalen sprach: „Wie lange willst du eigentlich noch so weitermachen?“
So ein Lottogewinn hatte seine eigene Dynamik, ein nicht vorhersehbares Eigenleben. Die Gnade des Gewinns wollte offensichtlich irgendwo hin, ausgegeben werden, sich verschenken, und sie beglückte den Schokoladenverkäufer mit dem Un-Zu-Erwartetsten auf der Welt – einem Kind.
Hier muss nun zum tieferen Verständnis des immer schon shakespeareschen Seelenlebens des Schokoladenverkäufers und der bereits erwähnten nackten Füße und Leinengewänder festgehalten werden, dass tief in seiner Schoko-Seele, zumindest fifty-fifty, wenn nicht sogar anteilig mehr, auch ein Wandermönch, wenn nicht sogar Bettelmönch wohnte. Auch im persönlichen Horoskop des zukünftigen Schokoladenverkäufers war nichts von Kindern, Familie oder Beziehungen zu lesen. Weder Lottogewinn, noch Superzahl oder Jackpot wurden auch nur am Rande in irgendeinem der Häuser erwähnt. Es wimmelte aber nur so von Mönchen, Wanderschaft und leeren Regalen.
Wander- und Bettelmönch hängten also von der Liebe und der Fee erschüttert sowie geläutert ihre Leinengewänder an den Nagel, beziehungsweise verbrannten sie endgültig, während etwas zur gleichen Zeit, noch unbemerkt vom werdenden Vater, die ersten Booja-Booja Pralinen das vegane Licht der Welt erblickten.
Der künftige Schokoladenverkäufer wechselte aber zunächst einmal von der Theke hinter einen Feng-Shui Bürotisch mit PC und Bildschirm. Lernte in den nächsten zwei Jahren alles über Computer, Buchhaltung und Chatrooms und die knallharte Schule des Handelns mit allerlei Waren und Geld im größeren Stile. Durchlebte als Crashkurs – wieder umringt von Zockern und Spielern – Zahlenkrisen, Goldgräberstimmung, Internet-Hypes, noch mehr Zahlenkrisen, das Scheitern und die Auferstehung als Phönix aus der Asche. Nicht nur die Zahlen stürzten ins scheinbar Bodenlose, was der Schokoladenverkäufer mit viel Geschick, Vertrauen und unbändigem Einsatz abfangen konnte, nein, auch seine so heilige Berufung fuhr erst einmal und für eine unbestimmte Zeit frontal gegen die Wand.
Er konnte in diesem wilden Casino, als die digitale Welt sich anschickte, die Aufmerksamkeit der Menschen vollkommen zu vereinnahmen, noch unwissend für wen und was, sich alles aneignen, was es brauchte, um später ein kleines, aber feines Schoko-Handelsunternehmen zu führen.
Diese kapitalistische Geld- und Zahlenwelt, wie sie sich ihm jetzt darstellte, konnte er nicht alleine durch sein Händlerkarma aus dem vorherigen Leben aus der Hängematte hinaus mit Hibiskusblüten im Haar bewältigen. Es erforderte das Ablegen jeder Naivität und eine Herzensklarheit, die allen Lügen, Verführungen, Manipulationen, Ausbeutungen und den täglichen Prostitutionsangeboten widerstanden. Ein Ex-Mönch konnte zur Not auch im Büro oder im Laden gut leben. Liebe und Miteinander blieben und waren die einzige Währung, der er sich unterwarf.
In einer Biographie des großen indischen Heiligen Ramakrishna und seinem wichtigsten Schüler Vivekananda, hatte der Schokoladenverkäufer zu Zeiten seines Mönchs-Fables eine sehr schöne Geschichte gelesen: Der blutjunge Student Vivekananda brauchte dringend Geld für sich und die Familie, für die er nach dem Tod seines Vaters als ältester Sohn sorgen musste. So schickte Ramakrishna seine geliebten Schüler mit der Anweisung in den Tempel, die große Göttin Kali in Dakshinesvar – einer großen Tempelanlage in Kalkutta – um materiellen Beistand zu bitten. Als Vivekananda aus dem Tempel zurückkam, fragte ihn sein Meister, was sie ihm geantwortet habe. Vivekananda senkte das Haupt und teilte ihm mit, dass er nur für die absolute Wahrheit und um Erleuchtung bitten konnte und seinen Auftrag schon wieder vergessen hatte, als er vor ihrem Bildnis stand. Das kam dem Schokoladenverkäufer ziemlich bekannt vor, wenn er vor seinen biologisch-göttlichen Müsli-Regalen stand, die sich plötzlich zu leeren begannen.
Ramakrishna war nicht sehr erfreut über diese Mitteilung und schickte ihn umgehend zurück in den Tempel. Auch als er das zweite Mal aus dem Tempel trat, war die Antwort Vivekanandas wieder dieselbe. Ramakrishna schimpfte jetzt laut mit ihm und schob ihn ein drittes mal in den Tempel. Doch auch diesmal war die Antwort des Schülers, dass er nur um vollkommene Befreiung und Erleuchtung bitten konnte. Ramakrishna ging nun, bewundernd und verärgert zugleich, selbst in den Tempel, um mit der Göttin zu sprechen. Strahlend kam er nach kurzer Zeit wieder hinaus und verkündete Vivekananda, dass Kali ihm zu gesichert hätte, er und seine Familie würden immer ein Auskommen haben und nie Not leiden.
Hier aber war der sich der Gnade verweigernde und entsagende Westen, hier gab es keinen Tempel der großen Kali, man sah auch schon sehr lange keine Wandermönche mehr umherziehen, die den Menschen die dringend benötigte Weisheit und wahres Mitgefühl schenken konnten. Was aber immer ging, war Schokolade!
Keiner wusste das besser als Mr. Booja-Booja, der 20 Jahre hatte warten müssen, bis endlich ein Schokoladenmacher und ein Schokoladenverkäufer soweit waren und das Leben sie zu Dienenden gemacht hatte. Genau dieser ehrliche Moment war es dann auch, als Mr. Booja-Booja entschieden und mit einem breiten Lachen, mit seiner gepunkteten Mütze auf dem Kopf, seinem vergnügt-traurigen Hund an der Leine, den Büroraum des nun werdenden Schokoladenverkäufers betrat. Die vielen Regale durchdringend betrachtend, die linke Augenbraue wissend hochgezogen, dem Schokoladenverkäufer heftig auf die breite Schulter klopfend und ihn liebevoll und mit tiefem Humor auf die Stirn küssend, offenbarte er ihm die absolute und letzte Lebensweisheit eines wahren Schokoladenverkäufers:
„Relax, Nothing Is Under Control.“