Kitabı oku: «Und die Wahrheit steht auf», sayfa 3
Insgesamt hielt ich mich fast fünf Wochen an diesem Platz auf, belegte noch mal zwei geführte 10-Tageskurse und verbrachte die meiste Zeit in Meditation.
Als ich den stillen Ort Ende Januar zusammen mit einem Freund wieder verließ, den ich im Zentrum kennengelernt hatte, waren meine Muskeln im ganzen Körper so sehr entspannt, dass ich kaum einen Bleistift halten konnte. Meine Zwanghaftigkeiten waren verschwunden. Ich aß normal und auch mein Fliehen-wollen vor der Welt und ihren Herausforderungen war nicht mehr vorhanden. Ich fühlte mich sehr geläutert. Es war sehr seltsam, die Aufmerksamkeit wieder dem normalen Treiben in der Welt zu widmen.
Wir hatten gemeinsam beschlossen ins Landesinnere von Indien, in den Bundesstaat Madhya Pradesh, zu reisen. Unsere Reiseroute führte mit der Bahn den Narmadafluss entlang. Ein paar Kilometer nach Bhopal nahmen wir einem Bus, der uns in eine Gebirgsregion brachte, die heute Satpura National Park genannt wird. Mein Begleiter kannte sich sehr gut aus und hatte die letzten fünfzehn Jahre in Indien verbracht. Er war sicher doppelt so alt wie ich, hatte eine Drogenkarriere als Junkie hinter sich und seine Sucht mit Hilfe der Vipassana-Meditation besiegt. Wir fuhren immer tiefer in die Berge hinein, deckten uns in einer kleinen Stadt auf einem Hochplateau mit Lebensmitteln für zwei Wochen ein und wanderten mitten in den indischen Urwald zu einem Ort, den die Ureinwohner, die Gond-Baba, von den Adivasi-Stämmen8 „Shiva Mundi“ die „Stille des Shivas“ nannten. Shiva ist einer der wenigen Götter, der auch von den nicht hinduistischen Gond-Baba als Gott verehrt wird. Shiva soll der Legende nach in dieser Gegend von einem Dämonen verfolgt worden sein, springend von Hügel zu Hügel, hinterließ er überall seine Spuren, die nun als Plätze für Gebete und Rituale dienen. Die ganze Gegend ist übersät mit Höhlen und Kultplätzen, die weit in die frühe Menschheitsgeschichte zurückreichen und in denen bereits die Menschen der Steinzeit lebten. In vielen Höhlen kann man noch steinzeitliche Höhlenmalereien erkennen. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass diese Plätze von hinduistischen und buddhistischen Mönchen vor vielen Jahrhunderten zur Meditation und zum Rückzug genutzt wurden.
Da den Ureinwohnern Bäume als heilig gelten, stehen überall riesige, uralte Exemplare von ungeheuerer Kraft und überwältigender Würde.
Wir durchquerten hohe und dichte Bambuswälder und kamen an Mangobäumen vorbei, die eine unglaubliche Größe hatten und in deren Kronen Affen kreischten und gefährlich herumtollten. An einem der Hauptheiligtümer zu Ehren Shivas füllten wir unsere Vorräte noch einmal auf und sahen wieder dutzende von Höhlen, die meist mit einer aufgerichteten, aus dem Stein gemeißelten schwarzen Kobra, dem Zeichen Shivas geschmückt waren. Wir zogen auf unwegsamen Pfaden immer tiefer in den Urwald hinein und fanden schließlich die Stelle, die wir suchten.
Ein indischer Baba sorgte sich um den Platz mitten im Dschungel, der aus 20 bis 30 kleinen und großen Höhlen bestand und sich über den Bergrücken hinzog. Manche Plätze und Höhlen waren nur über Steigleitern zu erreichen. Dieser Platz diente nur der Meditation und es herrschte große Stille. Die Höhle des Babas lag am Fuße einer Schlucht und war so etwas wie die zentrale Anlaufstelle. Eine riesige Palisade aus Holzstämmen schützte seine Höhle vor Leoparden, Tigern und Wildkatzen, deren Zuhause dieser Urwald war. Auf den ersten Blick erschien der Shiva-Baba vollkommen neurotisch und verrückt. Seine Augen waren vom pausenlosen Marihuanarauchen verklärt und undeutlich zu erkennen. Er war sehr freundschaftlich und sorgte dafür, dass wir während unseres Retreats in dieser einsamen Gegend nicht gestört wurden. Als Willkommensgruß schenkte er uns etwas Tee.
Wir wählten die letzte große, tief in den Berg hineinreichende Höhle am Ende der steil ansteigenden Schlucht und richteten uns ein. Alle Dinge des Alltags mussten über Geröll und in den Fels gehauene Pfade nach oben geschafft werden. Das Wasser trugen wir täglich in Eimern, nach dreißigminütigem Abstieg, von einem märchenhaft schönen Fluss, unter großen Anstrengungen den Berg hinauf, ebenso das tägliche Feuerholz. Die Flammen des Feuers mussten die ganze Nacht am Leben gehalten werden, da es um uns herum nur so von wilden Tieren wimmelte. Darunter große Wildkatzen, die erst ein paar Tage zuvor einen Einheimischen angefallen und schwer verletzt hatten. Die Lebensmittel hängten wir an Schnüren an der Felsdecke auf. Trotzdem versuchten die Nager des Nachts mit akrobatischen Luftsprüngen sich ihren Teil zu sichern.
Wir schliefen direkt am Feuer nahe am Eingang der Höhle. Im hintersten Teil unserer Wohnstätte, der im Dämmerlicht lag, stand erhöht eine menschengroße, schwarz-aufgerichtete Kobra, die aus dem Felsen gehauen war. Die Gond-Babas, die mit aufrecht-grazilem Gang im Wald mit Axt und Machete unterwegs waren, besuchten alle paar Tage die Höhle um Blumen-Malas um die Schlange zu legen und ihre Puja abzuhalten. Sie beachteten uns kaum und gingen ihrer Wege.
Nachts wachten wir abwechselnd am Feuer, bis in den frühen Morgenstunden unsere Meditation begann. Alles geschah in Stille und ohne Sprechen. Es war eine Herausforderung ohnegleichen für Körper und Geist. Am Morgen meditierten wir zu Beginn in der Höhle, beziehungsweise auf der Plattform davor, wo sich das grüne Tal vor uns erstreckte. Tag für Tag, nach dem Mittagessen, machten wir uns an den Abstieg, badeten im Fluss und blieben bis zum Abend am Ufer des Flusses in Meditation. Wir taten nichts anderes als alles zu beobachten was im Körper geschah und ließen es vorbeiziehen. Nach ein paar Tagen hörte ich die Stimme des Flusses als melodische Symphonie in meinen Ohren erschallen. Es war wie eine Umarmung. Ich saß Stunden ohne die geringste Bewegung auf dem Felsen und langsam stieg eine unermessliche Traurigkeit in mir auf, die durch die Gesänge des Flusses vom Grund meines Herzens aufgewühlt wurde. Was tat ich hier?
Ich saß wie immer direkt am Wasser, als ich mir urplötzlich des Todes bewusst wurde, meines eigenen und den der anderen. Die Erinnerung an den Tod meines Vaters, den ich als fünfjähriges Kind in all seinem Schrecken und seinen Auswirkungen erlebt hatte, überwältigte mich.
Es hatte sich überhaupt nichts geändert, die Gesetze der Welt waren noch die Gleichen wie vorher. Ich konnte ihnen nicht entfliehen, auch nicht durch pausenlose Meditation. Ich weinte ohne Unterlass. Mein Begleiter wurde trotz jahrelanger Meditation langsam unruhig, als der Kummer kein Ende nehmen wollte. Hatte ich früher gefressen und gekotzt, war ich jetzt endloser Meditation verfallenn um das Dasein irgendwie zu meistern, alles nur, um dieses Grundwissen des Todes nicht fühlen zu müssen. Andere konnten diese unbewusste Ahnung mit Karriere, Geld, Frauen, Männern, Renten- und Feuerschutzversicherungen aller Art betäuben. Diese Illusionen waren mir erspart geblieben.
Aber auch die östlichen, spirituellen Wege, die ich bis dahin nie so bezeichnet hätte, weil ich gar nicht wusste, was Spiritualität oder ein Weg ist und mich auch gar nicht darum kümmerte, hatten offensichtlich keinerlei wirkliche Lösung parat. Immer blieb ein Stück Unzufriedenheit und Unfriede übrig, flehende Gebete, ein endloser Kampf. Was sollte ich noch hier?
Am nächsten Tag beendeten wir spontan unseren Meditationsretreat. Ich hatte mich bereits entschieden auf dem schnellsten Weg nach Deutschland zurückzukehren.
Auf halbem Weg zurück in die Zivilisation machten wir noch einmal am Ufer eines Flusses halt, der unten im Tal an den Gebirgshängen in den Narmadafluss mündete. Es war unser letzter Tag in den Bergen. Wir mussten wieder enorme Anstrengungen auf uns nehmen, um an diesen verzauberten Ort zu gelangen, der vor märchenhafter Schönheit und Ruhe strahlte. Der Fluss war an dieser Stelle, hoch oben in den Bergen, noch sehr schmal, übersät mit riesigen, rundgewaschen Felsen und das Wasser floss in absoluter Stille und Gelassenheit durch den Urwald dahin. Es wurde Nacht. Der Vollmond, der am Himmel langsam emporstieg, spiegelte sich im Wasser. Stück für Stück näherte sich das Spiegelbild des Mondes dem Ufer, wo ich mich niedergelassen hatte. Mein Körper war von den Strapazen der Wanderung vollkommen erschöpft. Bei der Ankunft hatte ich mich einfach auf einen Stein fallen gelassen und war lange Zeit regungslos liegen geblieben. Ich konnte nicht mehr.
Jetzt saß ich neben dem Feuer, mein Begleiter hatte sich bereits zum Schlafen hingelegt. Der Mond strahlte riesengroß und leuchtete hell und schien mehr Wahrheit auszudrücken, als meine ganze Sucherei. Stunden vorher hatte sich nochmals mein ganzes Dilemma offenbart, als wir einen Platz besuchten, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Es ging an einem See entlang, der vor einer riesigen Felswand lag. Vor der Felswand am Ufer gab es ein altes Dorf der Gond-Baba, die ihre Häuser direkt vor die steinzeitlichen Höhlen gebaut hatten. Am Wasser brannte ein großes Feuer, die Abenddämmerung nahte, die Menschen versammelten sich um das Feuer. Wir gingen einen schmalen Felsweg in eine Schlucht hinab, in der Shiva sich im Gestein sichtbar manifestiert haben sollte. In den Felsnischen, auf engen Vorsprüngen, saßen Yogis und Asketen. Sie riefen uns lachend Worte zu, machten Scherze und schenkten uns Räucherstäbchen, Asche und Prasad. Es ging tiefer in die Schlucht hinein. Am Ende unseres Weges tat sich ein Platz auf, der über und über geschmückt war mit Blumen, Räucherwerk und Kerzen. Vor uns, in einer natürlichen Grotte, standen in tief blaue Atmosphäre eingehüllt Shiva und Pravati im Tanz vereint. Alles schien zu leben und zu vibrieren. Ich setzte mich nieder in die augenscheinliche Hingabe und Verehrung dieses Platzes und dem Tanz von Bewusstsein und Energie.
Wie passten Bewusstsein und Energie zusammen? Wie konnte ich diese Welt umarmen und gleichzeitig glücklich sein? Warum waren da immer zwei? Wie konnte man jemals den Tod der Geliebten akzeptieren?
Trotz dieser unglaublichen Fülle und der jenseitigen, atemberaubenden Atmosphäre bekam ich keine Antwort, auch die alten Völker hatten für mich keine brauchbaren Lösungen gefunden.
Der langsam dahingleitende Fluss vor mir schien sich nicht zu bewegen. Ich sah wieder die volle, runde Scheibe des Mondes sich im Wasser zu meinen Füßen spiegeln und gleichzeitig am Himmel. Wer spiegelte wen?
Ich wollte kein Asket sein, körperfeindlich. Ich wollte mich nicht kasteien und irgendwelche Meditationstechniken ausüben nur um die Wahrheit zu finden, um das hier alles irgendwie auszuhalten. Die Mondscheibe kam immer näher und schien zu lachen, als das Wasser sich in Wellen am Ufer kräuselte. Scheiß Fragen! Ich lächelte zurück und legte mich erschöpft schlafen.
Am nächsten Morgen packten wir zum letzten Mal unsere wenigen Dinge zusammen. Ich vergaß zwischen den Steinen meine Glöckchen, die ich wegen der Schlangen im Urwald immer am Fuß getragen hatte, und freute mich über ein willkommenes Frühstück, zu dem ein eigenartiger Mann, der in der Nähe des Flusses wohnte, uns eingeladen hatte. Wir sahen ihn schon von weitem vor seinem Haus, als wir vom Flusstal her aufstiegen. Er hatte die Beine hochgelegt, saß in einer Militärkampfuniform auf seiner Veranda und begrüßte uns höflich. Einen tantrischen Guru sollten wir treffen, hatte mir mein Meditationsfreund vorher erzählt, der alle möglichen übernatürlichen Dinge im Fluss vollbringen konnte. Der Mann kümmerte sich auch um die Menschen im Dorf, besorgte ihnen Arbeit und achtete darauf, dass das Dorf sauber gehalten wurde und die Kinder zur Schule gingen. Gerade hatte sich eine Gruppe der Dorfbewohner in seinem Hause vor einem Fernsehgerät versammelt, um sich eine indische Soap aus der Mahabharata9 anzuschauen. Während er sich lächelnd mit uns unterhielt, uns immer wieder zum Essen animierte, sprach er zwischen den Worten immer wieder Mantras. Ram Ram Ram, Sita-Ram. Er schaukelte die ganze Zeit auf dem Stuhl hin und her und erzählte uns, dass er viele Menschen im Krieg gegen Pakistan töten musste. Es war die „unheiligste Erscheinung“, die mir in Indien je begegnet war und er tat mir irgendwie gut. Ich spürte seine helle Liebe, seinen Respekt und sein wahrhaftiges Interesse und Mitgefühl, wie ich es nie vorher bei einem Menschen gespürt hatte. Seine Augen leuchteten wie Scheinwerfer. Er lachte über unsere Meditationspraxis, lobte sie gleichzeitig und gab uns zum Abschluss den Rat einen Guru zu finden, da wir sonst noch viele Leben in Meditation verbringen müssten. Wir lachten zurück und verließen beglückt den Platz und nahmen den nächsten Bus hinunter nach Bhopal. Dort trennten sich unsere Wege. Mein Meditationsfreund fuhr nach Orissa an die indische Ostküste, ich sollte ihn nie mehr wiedersehen. Ich nahm den Zug nach Delhi, um mit der nächstmöglichen Maschine nach Deutschland zurückzufliegen. Drei Tage später stand ich auf dem Frankfurter Flughafen. Frühling 1988, ich war dreiundzwanzig Jahre alt.
Rock-Zeit
„Es gibt keine Zwei-heit in Mir – sondern nur Eins.“
Adi Da
Die Ankunft war ein einmaliges Erlebnis und wäre einer Shakespeare-Komödie würdig gewesen. Ich hatte völlig vergessen, dass diese westliche Welt so anders ist. Da stand ich, hatte gerade die Passkontrolle hinter mich gebracht und starrte entgeistert in die graue Ankunftshalle. Alle Menschen schienen um mich herumzurennen und es herrschte eine unglaubliche Hetze. Manche Leute glotzten mich an und rümpften offensichtlich die Nase. Ich hatte eine ausgebleichte Stofftasche in Form eines Sacks um mich hängen, an dem eine Kokosnussschale als Trinkbecher baumelte. Meine Füße steckten nackt in indischen Latschen. Meine Beine bedeckten ein selbst-genähter, ausgebleichter, roter Rock und um den Oberkörper war meine naturfarbene, abgewetzte Leinendecke gewickelt, die mir bei allen Gelegenheiten treu gedient hatte. Um den Hals trug ich an einer Schnur ein größeres Holzstück in der Form einer Vagina, welches ich im Urwald am Fluss gefunden hatte. Ein junger Cateweasle10, der im falschen Jahrhundert angekommen war. Der Geruch nach Parfum- und Plastikwelt war für meine Nase unerträglich. Die rastlosen, grau-blau vorbeieilenden Mäntel und Geschäftsanzüge fanden keine Rezeptoren mehr in meinem Gehirn.
Ich betrat die Ankunftshalle. Setzte mich in das nächstbeste Restaurant, das nicht zu edel aussah und bestellte – Wasser. Als ich den unsicheren Blick der Bedienung lächelnd auf mir ruhen sah wurde mir langsam klar, dass meine Kleider unglaublich riechen mussten, nach Feuer, Essen und indischer Seife. Mein ganzer Körper, jede einzelne Zelle roch nach Indien und Urwald und Meditation und sah vermutlich auch so aus. Ich stand auf und suchte die Toiletten – vielleicht sollte ich mal einen Blick auf mein Erscheinungsbild werfen. Ich ließ all meine Sachen im Restaurant am Platz liegen und fuhr mit der Rolltreppe in eine der unteren Etagen. Kaum hatte ich die Toiletten gefunden, den Spiegel angegrinst, mich auf der Schüssel niedergelassen und die deutsche Sauberkeit ehrlich bewundert, meinen Kopf in die Hände gestützt, um zu begreifen, wo ich wieder gelandet war, da wurde plötzlich mein Name durch die Lautsprecheranlage ausgerufen. Ja, das musste ich sein. Ich sollte sofort zum Security-Service-Point kommen.
Halb in Panik, halb lachend, ließ ich meinen Rock wieder herunter und suchte den Service-Point. Dort warteten bereits mehrere Herren und eine freundliche Frau, die mein Gepäck in den Händen hielt. Alles war ausgeräumt und sie hielten meinen Pass und anderen Kram in den Händen. Was kam jetzt?
Sind sie Herr Karl Faller? Was für eine Frage, ich nickte und lachte. Gepäckstücke im Restaurant rumliegen zu lassen ist nicht erlaubt. Und den Pass sollte man immer bei sich haben! Ich war zurück. Dies war eindeutig die westliche Zivilisation. Ich grinste und wies die Herren darauf hin, dass sie mich ohne Pass ja gar nicht gefunden hätten. Packte meine Sachen zusammen und ging mit einem flauen Gefühl im Magen davon. Denen brauchte ich nichts von „Alles-ist-vergänglich“ erzählen und dass der Tod auch sie eines Tages besuchen wird.
Ich ging zum Telefon, rief eine Freundin an, die es nicht fassen konnte, dass ich wieder da war, suchte den nächsten Supermarkt, wusste nicht was ich kaufen sollte und entschied mich für die Dinge, die früher Bestandteil meiner Ess-Brechanfälle waren. Ich setzte mich in der Ankunftshalle auf eine Bank. Sortierte das Essen sorgfältig auf meinem Schoß, bereit es allen zu zeigen. Nach den ersten Bissen stoppte ich. Diese Welt musste anders gemeistert werden. Ich ließ den Drang nach Verachtung vorüberziehen und schmiss das meiste in den Mülleimer. Legte mich auf die Bank und schlief erschöpft ein. Meine Freundin würde mich schon finden.
Es dauerte über ein halbes Jahr, bis ich mich wieder einigermaßen eingelebt hatte. Ich schlief auf der Veranda im Freien oder mit vollständig geöffneten Fenstern, da die Mauern in geschlossenen Räumen mich zu erdrücken schienen. Meine Sinne waren so fein geworden, dass ich Angst förmlich riechen konnte. Ich las, was in den Gedanken anderer Menschen vor sich ging. Sah ihre versteckten Emotionen oder ob sie gerade Sex hatten. Vieles, was Menschen normalerweise hinter ihrem sozialen und angelernten Verhalten versteckten, offenbarte sich mir. Also blieb ich lieber zu Hause, machte meine tägliche Yoga- und Meditationspraxis und richtete mich allmählich ein. Zuerst nähte ich mir neue Kleider, lang und wallend. Pachtete für wenig Geld ein Stück Ackerland, um mein Gemüse selbst anzubauen, setzte die Renovierung meines Hauses fort, legte einen Teich an, pflanzte Blumen und Kräuter im Garten und verschenkte mein Auto, einen Fiat 500 Bambini. Ich genoss das ruhig Einsiedlerleben und arbeitete einmal die Woche in einem Bioladen, wo ich mir meinen Lohn in Lebensmittel ausbezahlen ließ. Durch die Herstellung und den Verkauf von Kräuterölen und naturbelassener Kleidung verdiente ich mir zusätzlich ein kleines Einkommen. Ein Müsli-Men wie aus dem Bilderbuch!
Geld hatte in meinem Leben nie eine besondere Rolle gespielt. Meine Mutter hatte während meiner Kindheit gerade so viel Geld verdient, dass es jeden Monat für uns reichte und in meiner Jugend nahm ich verschiedene Ferienjobs an, um mein Taschengeld aufzubessern. Meine Reise nach Indien wurde durch Rücklagen finanziert, die ich mir in der Zeit meiner Lehre und während des Zivildienstes angelegt hatte. Sie waren durch meine Reise nur wenig geschrumpft. Geld war eine Nebensache, um die ich mich nicht besonders kümmerte und die nicht attraktiv für mich war, wie das ganze normale Leben überhaupt. Ich nahm ein Stück weit daran teil, aber es interessierte mich nicht wirklich. So verpasste ich emotional komplett den Fall der Berliner Mauer 1989.
Ich lebte in einer Art Pseudo-Nirwana und hatte das Gefühl, dass es Zeit wäre, in Vorruhestand zu gehen. Ich las immer noch sehr viele Bücher, die sich vor allem mit uralten Mythen, Kulturen und Religionen befassten und das weiblichen Prinzip als primären Zugang zur Wahrheit und dem Glück sahen.
Obwohl ich eine buddhistische Meditationstechnik praktizierte, die bis auf Gautama, den Buddha, zurück datiert wurde, legte ich die Schriften zu den Grundlagen der Achtsamkeit nach kurzem Studium wieder zur Seite. Mein Verstand wollte rein gar nichts aufnehmen und ich bekam auch nach mehreren vergeblichen Versuchen keinen Zugang. Ebenso erging es mir mit den alten Veden, den religiösen Schriften der Hindus. Das war nicht meine Welt und irgendetwas rebellierte in mir, aber ich konnte es nicht greifen. Es war mir alles zu strukturiert und zu durchdacht – zu vergeistigt. Und was war mit dem Herz und der menschlichen Liebe?
Als Kind war mir völlig klar gewesen, dass ich nichts zu tun habe, um glücklich zu sein, um überhaupt zu sein. Überhaupt nichts. In meinem verloderten Schulmäppchen stand der Satz von Laotze: „Der Weg ist ewig ohne Tun, aber nichts was ungetan bliebe.“
Dies kam meinem Gefühl schon ziemlich nahe. Aber die westliche Welt verlangte permanent, dass das Glück in der Materie zu finden ist und im Rausch des Konsums. Als ehemaliger Anhänger der Bulimie könnte diese westliche Philosophie mit einem Fachausdruck „Auf-Fressen“ benannt werden. Während die spirituellen Wege sich der Materie entledigen wollten oder zumindest ein schwerwiegendes Problem darin sahen und Leere, bzw. Eins-Werden anstrebten mit etwas, von dem man grundsätzlich getrennt ist und was über die Materie hinausgeht. Es könnte, um in der Fachsprache der Bulimie zu bleiben, auch „Aus-Kotzen“ genannt werden. Beides hatte mich nicht wirklich befriedigt, nur etwas gelassener werden lassen. So machte ich mich erst mal daran, die Dramen meiner Kindheit aufzuarbeiten und ließ die „wirklich“ großen Themen außen vor. Krishnamurtis Bücher wirkten zunächst ebenfalls beruhigend auf meinen Charakter und bestärkten mich in der Überzeugung, dass ich eigentlich alles Wichtige schon erlebt hatte.
Mein Bruder lebte immer noch mit mir in dem Haus in einer abgetrennten Wohneinheit. Der Kontakt hielt sich in Grenzen, da er mit meiner Art das Leben zu bewältigen seine Schwierigkeiten hatte und so überhaupt nicht verstand, warum ich keine Karriere machen wollte. Ein Jahr nach meiner Rückkehr aus Indien zog er aus. Von nun an sollte Haus und Garten mit anderen geteilt werden.
Das Einsiedlerleben ging seinem Ende entgegen. Ich hatte schon vor meiner Indienzeit eine Freundschaft zu einem Mann geknüpft, der in München lebte und dort Psychologie studierte. Als ich wieder aus Indien zurück kam wurde ein intime Beziehung und innige Freundschaft daraus. Er war ein sehr schöner Mann, mit einem wundervollen Körper, der es locker mit jedem Hollywoodstar aufnehmen konnte, voller Energie und sehr sexuell. Ich hatte seit zwei Jahren keinerlei sexuelle Erregung mehr verspürt und explodierte jetzt förmlich. Per Anhalter fuhr ich, immer noch barfuß und mit wallenden Gewändern, alle paar Wochen nach München und verbrachte dort meine Zeit mit ihm. Wir gingen Hand in Hand durch die Stadt und müssen äußerlich eine merkwürdige Erscheinung abgegeben haben, die mir völlig egal war. Ich genoss es einfach.
Nach zwei Stunden Sightseeing-Tour durch die Münchener City musste ich wieder zurück in die Wohnung, da ich der Reizüberflutung von Mensch und Reklame noch nicht gewachsen war. Wir hatten drei bis viermal am Tag Sex miteinander und penetrierten uns gegenseitig. Ich wusste gar nicht mehr, welche Lust und Geilheit in mir steckte und wie schön es war sich hinzugeben und dabei in den Hintern gevögelt zu werden. Als ich Tage später wieder nach Hause zurückfuhr und an der Autobahn stand, kam ich mir wie eine aufreizende Hure vor, deren Geilheit und Wollust aus jeder Zelle heraussprühte, was jeder doch sofort sehen musste. Wie hatte ich schon auf meiner spirituellen Suche festgestellt: Man wird zu dem, was man meditiert, in dem Falle penetriert.
Mein Haus begann sich langsam zu füllen. Nach und nach tauchten die richtigen Menschen auf, so dass wir bald mit vier Personen eine Wohngemeinschaft bildeten. Ein Mann, der ein eigenes Comedy-Theater aufbauen wollte und vom Straßentheater und Zirkusauftritten lebte, eine Frau, die in einer Promi-Aryuvedaklinik im Schwarzwald als Köchin arbeitete und ein Schreiner, den, sehr viel später, unsere hochgeschätzte Köchin mit leidenschaftlicher Liebe bekochen sollte. Dazu noch Kinder, Freunde und Freundinnen, die übers Wochenende zu Besuch kamen und verschiedene Theatergruppen, die auf ihrer Sommertournee bei uns Halt machten. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Unser Dorf, das ein katholischer Wallfahrtsort war, nahm mit seinen Meinungen und Phantasien regen Anteil an unserem Leben. Wir hatten Männergruppen, Debatten über Putzpläne, Liebesdramen Tür an Tür und feucht-fröhliche Weihnachtsfeste mit Lagerfeuer im Garten. Dank ayurvedischen Gewürzen und einer treuen Getreidemühle waren unser Frühstück sowie unsere Festessen bei allen Gästen heiß begehrt. Es war eine wundervolle Zeit und das Haus strahlte Fülle und Freude aus. Die Hauswände und das Dach waren über und über mit Grün und blühenden Ranken bedeckt. Der Garten hatte sich über die Jahre dank Trauerweide, Teichen und riesiger Steinspirale, in eine Märchenlandschaft verwandelt. Birken standen dicht gedrängt um das ganze Haus, Fledermäuse jagten nachts über das Wasser des gemächlich fließenden Baches, während meine geliebte Katze an dem allem mit äußerster Selbstverständlichkeit und Gelassenheit teilnahm.
Mein Leben in der WG ging seinen gewohnten Gang. Die Renovierung des Hauses, die Verschönerungen im Garten und der Gemüse- und Kräuteranbau nahmen die meiste Zeit in Anspruch. Ich baute mein tägliches Yoga-Programm aus und lernte zusätzlich noch Tai-Chi und Chi-Gong. Ich fuhr zwei- bis dreimal im Jahr auf Retreat in das neu eröffnete europäische Meditationszentrum, welches in Zentralfrankreich angesiedelt war, half dort mit neue Kurse zu organisieren, brachte meine Dienste ein und fühlte, wie meine Meditationspraxis eine neue Dimension bekam. Die Vorgehensweise in der Meditation war immer die gleiche. Wenn der Geist einen gewissen Grad an Ruhe findet und die Aufmerksamkeit den Körper abtastet, werden bei diesem Vorgang verschiedene Arten von Empfindungen an den unterschiedlichsten Stellen des physischen Körpers spürbar. Manche Empfindungen verschwinden sofort oder nach kurzer Zeit, andere sind sehr hartnäckig und bleiben über einen langen Zeitraum bestehen, aber irgendwann verschwinden auch diese. Es gibt keine Empfindung, die von Dauer ist, es gibt kein Gut und Schlecht. Alles kommt und geht. Oftmals sind an diese Empfindungen Emotionen oder Bilder oder Gedanken aus der Vergangenheit geknüpft. Alles, was wir erlebt haben, wird im Körper abgespeichert und es wirkt, ob wir das wollen oder nicht. Ursache-Wirkung. Manchmal scheinen die aufgewirbelten Emotionen überwältigend zu sein, dann wieder die Bilder oder der Geist hört nicht mehr auf zu denken. All das findet kein Interesse. Die Aufmerksamkeit bleibt einfach bei der Beobachtung der Empfindungen. Wenn diese verschwunden sind, tauchen tiefer liegende Schichten auf, Erfahrungen aus früheren Leben, Erinnerungen, alle möglichen Zustände und neue Empfindungen. Und so geht es weiter und weiter und weiter. Jeder Meditierende und jede Meditierende durchläuft dabei seinen und ihren eignen individuellen Prozess. So weit die Theorie, einfach dargestellt.
Die Zeit, bis die ersten Schichten meiner Empfindungen sich aufgelöst hatten, verstrich immer schneller. Der Körper und vor allem die Wirbelsäule fingen zu schwingen an und brachten neue Empfindungen an die Oberfläche. Das dritte Auge wurde während der Retreats von einer Bilderflut heimgesucht, dass ich mir des Nachts eine Hand oder ein Kissen auf meine Stirn pressen musste, um die Flut der Visionen zu stoppen oder einfach, um die Bilder nicht mehr sehen zu müssen. Meine Wirbelsäule wurde von heftigsten Energien geschüttelt, was darin gipfelte, dass sich während der Meditation spontan eine große weibliche Schlange fühlbar und für mich sichtbar als meine eigene Wirbelsäule erhob, immer mehr aufstieg, um als Shakti mit silberglänzenden Schuppen, dunkler Haut und schwarzleuchtenden Haaren über dem Kopf minutenlang zu tanzen. Ich verschmolz mit dieser scheinbar urweiblichen Energie und blieb glücks- und tränenüberströmt zurück. Danach wanderte ich zur Erholung im Garten umher und „verstand“ die Bäume und Sträucher und fühlte keinerlei Unterschied mehr zwischen außen und innen. Die Welt war eine Einheit.
All das ging vorüber, doch fragte ich mich manchmal, ob ich nicht einen Pfad eingeschlagen hatte, den ich gar nicht gehen wollte. Die Zweifel über diesen buddhistischen Weg, der nach meinem Verständnis auf Leere, unter bewusster Vermeidung und Ausschluss von allem augenscheinlich Vergänglichem, ausgerichtet war, nagten verdrängt und aufgeschoben in mir.
In meinem Herzen gab es einen unfassbaren und nicht erklärbaren Widerspruch und Protest in dieser buddhistischen Definition der Welt. Das Leben war nicht von Geburt an Leid, obwohl es so schien, obwohl alle augenscheinlichen Beweise dafür sprachen, obwohl ich es selbst so erlebt hatte und Milliarden andere Lebewesen auch. Aber ich wollte es genau wissen und wie es mein Charakter war bis zum Ende durchhalten.
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