Kitabı oku: «Homer und Vergil im Vergleich», sayfa 12
5. Macrobius, Saturnalia
5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius
5.1.1 Vergil im Bildungskonzept der Saturnalia
Der umfassendste Vergleich zwischen Vergil und Homer, der aus der antiken Spezialliteratur zu diesem Thema überliefert ist, findet sich in den Saturnalia des Macrobius. Dieses Werk, das wohl Mitte der dreißiger Jahre des fünften Jhdt. entstand, ist als literarisches Symposium gestaltet: Im fünften Buch hält einer der Teilnehmer, Eustathius, einen umfänglichen Lehrvortrag, in dem er beide Dichter miteinander vergleicht. Im Folgenden soll zunächst der Frage nachgegangen werden, welchen allgemeinen Zweck Macrobius mit seinen Saturnalia und speziell mit den Dichtervergleichen des fünften (und sechsten) Buches verfolgt. Im zweiten Schritt ist dann zu untersuchen, welche Methoden, Kriterien und argumentative Strategien im Einzelnen eingesetzt werden und wie sich diese Detailbeobachtungen zu den allgemeinen Zielsetzungen des Werks verhalten.
Über Lebenszeit und Identität des Autors hat sich auf Grundlage der prosopographischen Untersuchungen Alan Camerons1 in der Forschung mittlerweile weitgehend Konsens eingestellt.2 Der vollständige Name des Autors lautet demnach Macrobius Ambrosius Theodosius, seine soziale Stellung wird in den Handschriften mit v<ir> c<larissimus> et inlustris angegeben.3 Er hatte als praefectus praetorio Italiae et Africae (PPO) im Jahr 430 n. Chr. eine zentrale Position in der staatlichen Zivilverwaltung inne.4 (Ob er im April des Jahres 426 n. Chr. primicerius notariorum war, wie Cameron vermutet, ist weniger sicher, würde die Spätdatierung der Saturnalia aber stützen.5) Sein Sohn, Fl. Macrobius Plotinus Eustathius, als praefectus urbi im Jahr 462 n. Chr. bezeugt, ist der Widmungsträger der Saturnalia.6 Aus der Verwendung der Amtsbezeichnung in den Titeln und Subskriptionen der Handschriften lässt sich die relative Chronologie der drei Werke des Macrobius7 dann wie folgt rekonstruieren: Demnach ist die Schrift De verborum Graeci et Latini differentiis vel societatibus8 vor seiner Erhebung zum PPO entstanden, die Saturnalia9 und der Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis10 – in dieser Reihenfolge11 – erst nach 430 n. Chr. Verbindet man diese Daten mit dem erwähnten Amtsjahr des Sohnes, der als jugendlicher Widmungsadressat in den Saturnalia genannt wird, so lässt sich die Entstehung dieses Werks in etwa auf die Zeit um das Jahr 435 n. Chr. einschränken.12
Bei den Saturnalia handelt es sich also um literarische Gastmahlliteratur in der Tradition des platonischen Symposion.13 Wichtiger als dieser Text ist für Aufbau und Anlage der Saturnalia freilich ein Klassiker der römischen Dialogliteratur, Ciceros De re publica.14 Nach diesem Modell hat Macrobius die Datierung seines Dialogs kurz vor dem Tod der greisen Hauptfigur (Laelius bzw. Vettius Agorius Praetextatus) vorgenommen: Das fiktive Datum der Saturnalia dürfte demnach im Jahr 382 bzw. 383 n. Chr. anzusetzen sein.15 Außerdem ließ er sich von Cicero bei der Frage des Gesprächsanlasses beeinflussen: War De re publica in den feriae Latinae des Jahres 129 v. Chr. angesiedelt, so stellt auch Macrobius seinen Dialog in den Rahmen eines Festes, eben der Saturnalia.16 Das ciceronische Modell schlägt auch in der dialogischen Disposition durch: Der Gesprächsverlauf ist in lange, meist von einem Hauptsprecher gehaltene Lehrvorträge gegliedert, und das Werk dürfte ursprünglich nicht wie in den heutigen Ausgaben in sieben, sondern entsprechend der Anlage von De re publica in sechs Bücher unterteilt gewesen sein, von denen je ein Buchpaar einen der drei Festtage zum Thema hatte.17 Das dritte und fünfte Buch befasst sich jeweils mit dem Werk Vergils, womit sich die folgende Gliederung ergibt:18
ursprüngliche Bucheinteilung | moderne Bucheinteilung | Hauptthemen | |
Vorabend und erster Tag (16./17.12.) | *Sat. 1 | 1 | Vorabendgespräche Morgengespräche (Schluss: Vergil als Gesprächsgegenstand für die beiden Folgetage gewählt; Themenverteilung [Sat. 1, 24]) |
*Sat. 2 | 2* <…> | Nachmittags- und Abendgespräche | |
zweiter Tag (18.12.) | *Sat. 3 | <…> 3, 1, 1– 3, 12, 10 <…> | 1. <Eustathius: Astrologie und Philosophie bei Vergil> 2. <Flavianus: Auguralrecht bei Vergil> 3. Praetextatus: Pontifikalrecht bei Vergil (Sat. 3, 1–12) |
*Sat. 4 | <…> 3, 13, 1– 3, 20, 8 | Nachmittags- und Abendgespräche | |
dritter Tag (19.12.) | *Sat. 5 | <…> 4–6** <…> | 1. <Symmachus> und Eusebius: Vergil als Rhetoriker (Sat. 4, 1–5, 1) 2. Eustathius: Vergil und die griechische Literatur (Sat. 5, 2–22) 3. Rufius und Caecina Albinus, Servius: Vergil und die altlateinische Literatur (Sat. 6, 1–9) |
*Sat. 6 | 7 | Nachmittags- und Abendgespräche |
Mit der Wahl Vergils als Gegenstand der „ernsteren“ Morgengespräche des zweiten und dritten Festtages, der damit den gewichtigen Themen des ersten Vormittags – Festkalender und Sonnentheologie19 – gleichgestellt wird, hebt sich Macrobius von seinem ciceronischen Modell ab, in dem Dichtung keine besondere Rolle gespielt hat. Was qualifiziert aber nun gerade Vergil, den Klassiker des römischen Schulunterrichts, für diese Rolle im Zentrum der Saturnalia?
Eine Antwort auf diese Frage muss von den programmatischen Stellungnahmen zu Beginn des Werkes ihren Ausgang nehmen. In der Vorrede kommt die pädagogische Zielsetzung der Saturnalia deutlich zum Ausdruck: Macrobius bekundet hier zunächst seine väterliche Sorge um die Bildung des Sohnes Eustathius und seinen Wunsch, dass sich der Erwerb der dafür notwendigen Kenntnisse so rasch und effizient wie möglich gestalte. Diese Kenntnisse soll Eustathius nämlich nicht nur durch eigenes Studium erlangen, auch die – griechische und lateinische – Lektüre des Vaters soll dafür nutzbar gemacht werden, indem Macrobius sie als „wissenschaftliches Rüstzeug“ (scientiae supellex) aufarbeitet und eben in Form der Saturnalia für den Sohn bereitstellt (praef.MacrobiusSat. praef. 1–2 1–2). Als inneres Organisationsprinzip proklamiert er dafür die Einheit, d.h. die Integration der heterogenen Bestandteile seines Miszellanwerks zu einem Ganzen.
Um diesen Einheitscharakter sinnfällig zu machen, verwendet Macrobius sechs Gleichnisse, die jeweils den Eingliederungsprozess selbstständiger Elemente in eine höhere Organisation beschreiben.20MacrobiusSat. praef. 3–9 Diese sechs Gleichnisse fokussieren also den Produktionsaspekt und die daraus resultierende Struktur der Saturnalia – sie haben streng genommen noch nichts mit dem pädagogischen Wirkungspotenzial, das Macrobius seinem Sohn mit der Lektüre des Werks in Aussicht stellt, zu tun. Doch unterbricht Macrobius an einer Stelle seine Gleichnisreihe, um auf den Zusammenhang zwischen der einheitlichen Struktur der Saturnalia und ihrer didaktischen Dynamik zu sprechen zu kommen:
nos quoque quicquid diversa lectione quaesivimus committemus stilo, ut in ordinem eodem digerente coalescat. nam et in animo melius distincta servantur, et ipsa distinctio non sine quodam fermento, quo conditur universitas, in unius saporis usum varia libamenta confundit, ut etiam si quid apparuerit unde sumptum sit, aliud tamen esse quam unde sumptum noscetur appareat. (Sat. praef. 6)
Erst der ordo, in den die isolierten Wissensbestände gebracht werden, gewährleistet für Macrobius Eingängigkeit und Retention der vermittelten Sachverhalte; erst ihre Kontextualisierung macht die Einzelinformation didaktisch wirksam. Außerdem verändert der Vorgang der Ordnung die Elemente selbst (~ fermentum): Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.21
Dann differenziert Macrobius in Fortführung eines seiner Gleichnisse – nun schon ganz mit Blick auf den Rezipienten der Saturnalia – diesen Gedanken noch durch den Aspekt, dass eine gedächtnismäßige Aufnahme von Informationen, wenn sie isoliert präsentiert werden, in die memoria zwar möglich, eine Förderung des ingenium hingegen unter diesen Umständen undenkbar sei:
idem in his quibus aluntur ingenia praestemus, ut quaecumque hausimus non patiamur integra esse, ne aliena sint, sed in quandam digeriem concoquantur: alioquin in memoriam ire possunt, non in ingenium. (Sat. praef. 7b)
Die Vorstellung von der pflegenden Sorge für das ingenium, die unverzichtbare Begabungskomponente22 bei der Ausbildung des Redners, zeigt an, in welche Richtung Macrobius mit seinem Bildungskonzept geht, das sich nämlich im Kern als grammatisch-rhetorisch bestimmen lässt. Das wird noch deutlicher, wenn Macrobius in einem späteren Abschnitt – unter Rückgriff auf Gell. praef. 16 – seinen allgemeinen Bildungsbegriff mit der Angabe von vier besonderen Bildungszielen konkretisiert:MacrobiusSat. praef. 11
nihil enim huic operi insertum puto aut cognitu inutile aut difficile perceptu, sed omnia quibus sit <1> ingenium tuum vegetius, <2> memoria adminiculatior, <3> oratio sollertior, <4> sermo incorruptior … (Sat. praef. 11)
Damit ist das allgemeine Bildungsziel der Saturnalia deutlich als ein rednerisches bezeichnet, das sowohl grammatische (<4>) wie auch rhetorische Einzelziele (<1>–<3>) einschließt.23
Wie fügt Macrobius nun aber Person und Werk Vergils – das erklärte Hauptthema des Dialogs24 – in seinen grammatisch-rhetorischen Rahmen ein, der auf die Vermittlung eines als Einheit präsentierten Wissensbestands abzielt? Gelegentlich wird in den Saturnalia der Bezug zwischen Vergil und dem in der Vorrede formulierten Einheitsprogramm hergestellt, etwa wenn Eustathius Vergils Homernachahmung als „Inkorporation“ heterogener Einflüsse in das corpus vergilischer Dichtung beschreibt.25 Übernahmen, die nicht mehr kenntlich sind, weil Vergil sie vollkommen in sein Werk integriert habe, rügt Eustathius nicht als Plagiate, sondern würdigt sie als Teil der vergilischen Dichtkunst.26 Aus Stellen wie diesen lässt sich ableiten, dass Vergils dichterische Praxis gewissermaßen ein Modell für die Saturnalia liefert – auch wenn dieser Bezug nirgends ausdrücklich hergestellt wird: Ebenso wie sich bei Vergil verschiedene „Quellen“ und Modelle ausmachen lassen, die die Assimilationskraft des Dichters zu einem einheitlichen Ganzen verbunden hat, beabsichtigt auch Macrobius, die Diversität seiner Vorlagen zu einem einheitlichen Ganzen zu integrieren.
Dass die Auffassung, Vergil verkörpere in exemplarischer Weise das Ideal der Einheit, nicht nur das Einarbeiten direkter literarischer Modelle in einzelnen versus bzw. loci betrifft, sondern auch auf einer allgemeineren poetologischen Ebene Gültigkeit beansprucht, wird in Sat.MacrobiusSat. 1, 24 1, 24 bei der Wahl Vergils zum Thema der Gespräche des zweiten und dritten Festtages deutlich. Symmachus entwickelt hier in Reaktion auf die Kritik des Euangelus ein anspruchsvolles Konzept von Dichter und Dichtung, dessen philosophisch-religiöse Implikationen letztlich auch den Rahmen für die Homer-Vergil-Vergleiche des fünften Buches bilden. Euangelus kritisiert in Sat. 1, 24, 2 Praetextatus, weil er sich bei seinen Darlegungen zur Sonnentheologie auf Vergil berufen hat. Konkret nimmt er dabei Bezug auf Sat. 1, 16, 44, wo Praetextatus behauptet hat, Vergil meine inVergilgeorg. 1, 7 georg. 1, 7 mit Liber und Ceres „eigentlich“ Sonne und Mond, weil an dieser Stelle auf die altrömische Tageseinteilung nach dem Mond- und die neuere nach dem Sonnenlauf angespielt sei.27 Praetextatus möchte also – in einer aus heutiger Perspektive willkürlichen Verdrehung des ursprünglichen Sinns der Stelle – eine „tiefere Wahrheit“ in den vergilischen Götternamen erkennen, indem er eine allegorische Lesart der Stelle in Vorschlag bringt. Genau dagegen richtet sich nun aber die Kritik des Euangelus. Er unterstellt Vergil in Sat. 1, 24, 3, dass er Liber und Ceres für „Sonne“ und „Mond“ aus einem nicht näher bezeichneten anderen Dichter übernommen habe (… in alterius poetae imitationem posuit …), ohne die genaue theologische Begründung für die Gleichsetzung jedoch gekannt zu haben (… ita dici audiens, cur tamen diceretur ignorans).
Diese hier an programmatischer Stelle von Euangelus hinterfragte allegorische Deutungsart – für die neuplatonische Dichterexegese bekanntlich die Methode der Wahl (s.u.) – spielt im weiteren Verlauf der Saturnalia keine Rolle mehr; diesen Widerspruch betont zurecht Vogt-Spira (2012), S. 164–165.28 Stattdessen geht es in den Gesprächen des zweiten Tages im Wesentlichen um Vergils umfassendes Sachwissen (doctrina), in denen des dritten Tages um sein rhetorisches Vermögen und seine griechisch-römischen Vorbilder, freilich auch hier mit besonderem Akzent auf seine Sachkenntnisse, d.h. auf antiquarische doctrina. Wie zuletzt von Vogt-Spira (2012), pass. herausgearbeitet, handelt es sich dabei um ein originelles poetologisches Konzept, das zwei unterschiedliche Aspekte – Sachwissen über die „Wirklichkeit“ (doctrina) und philosophisches Wissen über die „Wahrheit“ (sapientia) – verbindet.29 – Wie ist die Verbindung nämlich herzustellen? Dass der Nachweis von Vergils Sachwissen als Teilaspekt seiner sapientia auf der Basis der neuplatonischen Konzeption vom Dichter als „zweitem Schöpfer“ bzw. als „kosmischem Dichter“ zu erklären ist, stellt Vogt-Spira (2012), S. 166–169 heraus (vgl. auch die Hinweise auf das entsprechende Phänomen in der Homerdeutung auf S. 166; bes. Anm. 22). Vergils imitatio naturae steht, wie Vogt-Spira a.a.O. anhand von Sat. 5, 1, 18–20 nachweist, nicht in einem Abhängigkeits-, sondern in einem Analogieverhältnis zur Natur: Der Dichter schafft als ein zweiter Schöpfer, daher kann sein Werk sozusagen als eine Primärquelle der Naturerkenntnis einstehen (vgl. Bernard Weinbergs Formulierung, zit. nach Vogt-Spira [2012], S. 168: „Vergil is nature“, und zusammenfassend Vogt-Spira [2012], S. 169: „Kennzeichnend für das Konzept der imitatio naturae ist dabei, dass es nicht gegenstandsbezogen ist, sondern sich auf eine Ordnungsstruktur richtet: Der Dichter ahmt nicht die äußere Welt, sondern das, was ihr Struktur und Form gibt, ihren ‘Prätext’ nach; daher ordnet er die Dinge wie die Natur. … <D>ie Pointe in Macrobius’ imitatio-Entwurf liegt darin, dass sie nicht nur philosophisch ihre Begründung im neuplatonischen Kosmoskonzept findet, sondern gleichzeitig pragmatisch in der gängigen rhetorischen Nachahmungsdoktrin verankert ist, die geradezu mit Nachdruck eingearbeitet scheint. Eben damit gewinnen die Saturnalia über die theologisch-philosophische oder auch die antiquarische Seite hinaus die Grundzüge einer Poetik.“).
Der Vorwurf des Euangelus zielt in Sat. 1, 24 vordergründig also auf einen Mangel an doctrina, letztlich stellt er sich aber gegen die Auffassung des Praetextatus, dass in Vergils Werk eine allegorisch verschlüsselte Wahrheit vorhanden und erkennbar sei. Imitatio ist – so lässt sich die Auffassung des Euangelus an dieser Stelle zusammenfassen – nur dann zulässig, wenn das nachgeahmte Modell vom nachahmenden Dichter auch intellektuell bewältigt wurde und dann auch ganz der antiquarischen doctrina entspricht.30 Auf die Frage nach der grundsätzlichen Berechtigung der allegorischen Lesart – und damit auf die Frage, ob man Vergil sapientia im Sinne der oben dargelegten Dichtungskonzeption zubilligen darf – geht Euangelus nicht ausdrücklich ein, er verlegt die Diskussion auf das Feld der doctrina.
In Sat. 1, 24, 4 erhebt Euangelus einen vergleichbaren Vorwurf gegen Cicero, der mit seinem philosophischen Konzept vom Redner und dem Anspruch, auch selbst in beiden Eigenschaften – als Philosoph und Redner – wirksam zu sein, gescheitert sei, weil er durch seine „wirren“ philosophischen Einlassungen den Ruhm, den er sich als Redner erworben hatte, geschmälert hat (… gloriam quam oratione conflavit incondita rerum relatione minuat). – Die Rede von der incondita relatio zielt wieder auf die intellektuelle Bewältigung des aus den Quellen geschöpften Wissens (in diesem Fall philosophischer Lehrmeinungen u.a.). Im fertigen Werk zeigt sich dieser Mangel, weil beim Leser der Eindruck der Unordnung und des unreflektierten Nachsprechens entsteht. Auf die doctrina-Kritik an Vergil übertragen heißt das für Euangelus: Weil Vergils doctrina dem intellektuellen Anspruch der verwendeten Quellen nicht entspricht, kann der Dichter seine Vorbilder nicht eigentlich künstlerisch nachahmen, sondern kommt über ungeschickte Übernahmen, die eben nicht virtuos und souverän in das organische Ganze seiner Werke eingefügt sind, nicht hinaus.
Die Kritik an Vergils doctrina läuft also letztlich darauf hinaus, einzelne Stellen in seinem Werk als intellektuell unbewältigte Übernahmen aus anderen Werken zu beanstanden und damit implizit auch den von Praetextatus behaupteten Status Vergils als Dichter im Sinne eines der natura analogen Schöpfers zu hinterfragen. Damit ist zugleich eine fundamentale Infragestellung des Einheitscharakters der vergilischen „Schöpfung“ verbunden, der sich – wie man jetzt spezifizieren kann – zunächst einmal vor dem Kriterium der Sachrichtigkeit und den Maßstäben der doctrina zu bewähren hat. Erst wenn sich jeder Verdacht sachlicher Unstimmigkeit als haltlos erwiesen hat, kann man Vergils Werk Einheit und dem Dichter philosophische sapientia zuschreiben, wie sie Praetextatus mit seiner allegorischen Interpretation in den Augen des Euangelus vorschnell vorausgesetzt hatte. Der Nachweis über Vergils doctrina steht also im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ideal der Einheit: Die Vorträge an den Vormittagen des zweiten und dritten Festtages zielen darauf ab, dass Vergil in seinen Dichtungen keine heterogenen Agglomerate produziert, sondern jedes einzelne Modell in das jeweilige corpus integriert hat. Gerade die immer wieder betonten „verborgenen“ Kenntnisse Vergils, die sich dem Laien, der sich nur auf der Erzähloberfläche bewegt, nicht ohne weiteres enthüllen, sondern die Spezialisten unter den Lesern ansprechen, werden in diesem Sinne zu Indizien für eine gelungene Integration, über deren Herkunft nur der uneingeweihte Leser im Unklaren bleibt.31
Im Folgenden wechselt die Diskussion von Sat. 1, 24 zur Frage nach der „richtigen“ Vergilrezeption im Horizont des doctrina-Kriteriums über. Auf den Vorwurf des Symmachus, er sei über ein schülerhaftes Verhältnis zu Vergil noch nicht hinaus, betont Euangelus in Sat. 1, 24, 6 seine Fähigkeit, vitia im Werk Vergils zu erkennen, im Umkehrschluss geradezu als Ausweis für ein gereiftes Verständnis des Dichters, das sich über das Niveau des Schulunterrichts und sein adulatorisches Verhältnis zu Vergil erhebe. Beide Kontrahenten bringen biographische Zeugnisse zum Beweis ihrer Auffassungen vor: Euangelus die Anekdote von Vergils testamentarischer Verfügung über die Verbrennung der Aeneis – ein Beweis für ihre Unvollkommenheit – (Sat. 1, 24, 6; vgl. Gell. 17, 10, 7 und VSD 39–41), Symmachus einen Abschnitt aus einem Brief Vergils an Augustus, in dem der Dichter über die Arbeitsbelastung im Zusammenhang mit den Spezialstudien für sein Epos klagt (Sat. 1, 24, 11).32 Simplifizierende Vergilkritik wird von Symmachus in den Bereich der bornierten litteratores (Sat. 1, 24, 12)33 verwiesen, also der Elementarschulmeister, die keinen Zugang zum „Innersten des heiligen Gedichts“ (adyta sacri poematis; Sat. 1, 24, 13) haben.
Man kann die Vergilvorträge der Saturnalia, die in den folgenden Büchern die doctrina des Dichters demonstrieren sollen, als eine umfassende Bestätigung dieser von Symmachus vorgebrachten These auffassen. Auf seine Aufforderung hin wählen die anwesenden Gäste in Sat. 1, 24, 14–19 folgende Spezialgebiete für ihre Vorträge:
Vormittag des 2. Festtages | Vormittag des 3. Festtages | ||
Vettius Agorius Praetextatus | Pontifikalrecht (16) | Quintus Aurelius Symmachus | rhetorische Glanzstücke (14) |
Virius Nicomachus Flavianus | Auguralrecht (17) | Eusebius | Rhetorik (14) |
Eustathius | Astrologie (18) | Eustathius | Übernahmen aus den Griechen (18) |
Eustathius | Philosophie (18) | Furius Albinus | Übernahmen aus altlateinischen Autoren in versibus (19) |
Caecina Albinus | Übernahmen aus altlateinischen Autoren in verbis (19) | ||
[Avienus | gelegentliche Bemerkungen (20)] | ||
[Servius | dunkle Stellen (20)] |
Der hier präsentierte Disziplinenkanon ist von beinahe enzyklopädischer Vielfalt, auch weil der Schluss des imitatio-Vortrags von Eustathius und das Wechselgespräch zwischen Avienus und Servius über unklare Stellen bei Vergil grundsätzlich für jedes antiquarische Problem, das sich im Zusammenhang mit Vergils Schriften erläutern lässt, offen ist (Sat. 5, 18–22 und Sat. 6, 7–9). Macrobius gliedert seinen Stoff, indem er die im engeren Sinne sachlichen Aspekte vergilischer doctrina auf den zweiten, die Themen Rhetorik und imitatio auctorum auf den dritten Festtag verteilt.34 Damit deckt er im Wesentlichen diejenigen Bereiche, für die traditionell der grammaticus zuständig ist – Sprache und Sachen –, ab.35 Das steht nur auf den ersten Blick im Widerspruch mit der Polemik des Symmachus gegen den Schulunterricht: Die Gespräche in den Saturnalia bleiben thematisch durchaus im Bereich der Grammatik, überschreiten das Niveau der litteratores – hier wohl mit den grammatici gleichzusetzen – aber durch die gründliche und umfängliche Art der Behandlung.
Wenn man in der Engführung von allegorischer Methode mit grammatisch-antiquarischem Nachweis der überragenden doctrina Vergils, wie sie sich an dialogisch exponierter Stelle in Sat. 1, 24 vollzieht, einen selbstständigen programmatischen Betrag des Macrobius zur Dichtungskonzeption sehen konnte (s.o.), so gilt Gleiches weder für die bereits erwähnte Auratisierung des Gesprächsgegenstands Vergil zum quasi-göttlichen Dichter noch für die Disposition der Themen in den Vormittagsgesprächen des zweiten und dritten Festtages. Macrobius verfährt hier keineswegs originell, sondern lehnt sich an entsprechende Vorbilder aus der Homerrezeption an. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die erwähnte Gliederung nach Sach- und Sprachaspekten strukturell einer Schrift entspricht, der es ebenfalls um den Nachweis enzyklopädischen Wissens bei einem Dichter zu tun ist, nämlich der unter dem Namen Plutarchs überlieferten Schrift Περὶ Ὁμήρου.36Ps.-Plutarchde Hom. B 6, 4
Ps.-Plutarch gliedert seine Schrift (vgl. de Hom. B 6, 4 = 53–55 Kindstrand) in zwei Abschnitte, nämlich über Homers sprachliche πολυφωνία (de Hom. B 6, 5–73 = 56–761 Kindstrand) und seine πολυμάθεια (de Hom. B 74–217 = 762–2705 Kindstrand) in Sachfragen. Unter dem Thema der πολυφωνία werden Metrum, Dialekte, Archaismen, Tropen und Figuren sowie Stilarten abgehandelt. Die πολυμάθεια gliedert sich in drei Teilbereiche, die der Autor in einer „eigenwillige<n> Umbiegung der Begriffe ins Inhaltliche“ (Hillgruber [1998], S. 191) in de Hom. B 74, 1 = 762–764 Kindstrand mit den aus Cic. or. 180 bekannten Redetypen ἱστορικὸς λόγος (Gegenstand und Form der Erzählung), θεωρητικὸς λόγος (Physik, Ethik u.a.; die Kategorie wird in der vorangestellten Gliederung nicht eigens genannt, später aber ausgeführt), πολιτικὸς λόγος (Rhetorik, Recht, Staat, persönliche Verpflichtungen gegen Götter und Familie, Kriegswesen und Lebensalter) bezeichnet.
In seiner Tendenz, Homers universales Wissen nachzuweisen, trifft sich Ps.-Plutarch mit der Grundaussage der Saturnalia.37 Doch lassen sich, zumal bei der ersten Themengruppe der Saturnalia, auch nähere inhaltliche Übereinstimmungen feststellen: Die vier Vorträge des zweiten Festtages der Saturnalia behandeln nämlich gerade solche Gegenstände, die Ps.-Plutarch unter seinen zwei Hauptkategorien im Bereich der πολυμάθεια, dem θεωρητικὸς λόγος38 – vgl. die Vorträge des Eustathius über Astrologie und Philosophie – und dem πολιτικὸς λόγος39 – vgl. Praetextatus und Nicomachus Flavianus über Pontifikal- und Auguralrecht – thematisiert hatte. Die Analogien sind zu vage, um an dieser Stelle von einer direkten Benutzung der Schrift durch Macrobius auszugehen. Wahrscheinlicher dürfte es vielmehr sein, dass Macrobius in der Anlage seiner Vorträge – wenn auch in umgekehrter Reihenfolge – auf einen Gliederungstypus zurückgreift, der Homermonographien von der Art der Schrift Περὶ Ὁμήρου zugrunde gelegen hat, die grundsätzlich eine Unterteilung des Stoffes in einen sprachlichen und einen sachlichen Bereich vornahmen.40
Der Hinweis auf De Homero führt aber noch einen Schritt weiter: Dieser Text steht, wie bereits erwähnt, in einer Tradition von Schriften, die auf den Nachweis abzielen, „verborgene“ Wissensbestände im Werk Homers aufzudecken und so den göttlichen Rang der homerischen Dichtung zu belegen.41
Die Auffassung von Homer als Ursprung aller Bildung und folglich als Inbegriff der Weisheit lässt sich bis auf Xenophanes und Heraklit zurückverfolgen, und noch Platons gelegentliche Angriffe zeugen indirekt von der im Grunde unbestrittenen Geltung Homers als enzyklopädischer pädagogischer Instanz.42 Mit seiner extensiven Verwendung im hellenistischen Schulunterricht43 hängt es zusammen, dass er auch für die Vermittlung rhetorischer Kenntnisse in Anspruch genommen wurde.44 Die enge Beziehung der entstehenden griechischen Philosophie, die sich immer wieder auf Homer als Anreger und Gewährsmann berief45, tat ihr Übriges, um den Dichter von Ilias und Odyssee in den Rang eines Weltweisen zu erheben: Gerade in diesem Bereich lässt sich schon früh die hermeneutische Methode der Allegorese nachweisen, mit deren Hilfe unter der Oberfläche der epischen Erzählung allgemeine Wahrheiten erschlossen wurden.46 Zwar erhob sich gelegentlich Widerspruch gegen eine solche Vereinnahmung Homers – bezeugt etwa im Falle des Eratosthenes47 –, doch waren dies nur vereinzelte Stimmen. Die Stoiker geben ein besonders gutes Beispiel für die Indienstnahme der Autorität Homers für die eigenen philosophischen Zwecke.48 Es überrascht nicht, dass auch die Neuplatoniker – entgegen der bekannten reservierten Haltung Platons gegenüber der Dichtkunst – nicht auf die gewichtige Stimme Homers verzichten wollten. Wenn hier im Laufe der Zeit die Allegorese zum privilegierten und bald dominierenden Zugang bei der Homerlektüre avancierte, so bleibt die traditionelle Vorstellung von Homer als der Quelle allen Wissens die notwendige Voraussetzung eines derartigen Homerverständnisses.49
Man kann davon ausgehen, dass Macrobius seinen Versuch, Dichterperson und Werk Vergils mit göttlicher Aura auszustatten, nicht nur vor dem Hintergrund, sondern in bewusster Adaption einer dominanten Strömung der Homerrezeption unternommen hat, und darin einen strategisch gelenkten Schritt zur Kanonisierung Vergils als alter Homerus sehen. In den charakterisierenden Bemerkungen, die Vergils besondere Qualitäten fokussieren, kommt dieses Moment immer wieder zum Tragen:
Hinzuweisen ist insbesondere auf die bereits behandelte Grammatikerschelte des Symmachus in Sat. 1, 24, 12: nec his Vergilii verbis copia rerum dissonat, quam plerique omnes litteratores pedibus inlotis praetereunt, tamquam nihil ultra verborum explanationem liceat nosse grammatico. ita sibi belli isti homines certos scientiae fines et velut quaedam pomeria et effata posuerunt, ultra quae si quis egredi audeat, introspexisse in aedem deae a qua mares absterrentur existimandus sit. Vgl. dazu Sat. 1, 16, 12 (Maro omnium disciplinarum peritus); Sat. 1, 24, 13 (Divinisierung der Aeneis: sacri poematis) und Sat. 1, 24, 16 (wo Vergil von Praetextatus geradezu als pontifex maximus bezeichnet wird). – Dieses Bild lässt sich noch durch einige Stellen aus dem Kommentar zu Cicero Somnium Scipionis erweitern; vgl. somn. 1, 6, 44 (Vergilius nullius disciplinae expers); 1, 13, 12 (doctissimus vates); 1, 15, 12 (Vergilius disciplinarum omnium peritissimus) und 2, 8, 1 (Vergilius quem nullius umquam disciplinae error involvit).
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