Kitabı oku: «Homer und Vergil im Vergleich», sayfa 2
1.2 Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode
Ausgehend von den Gesichtspunkten, die im Zusammenhang mit den vier Gedichten aus der Anthologia Latina angesprochen wurden, ist die zentrale Fragestellung der vorliegenden Untersuchung näher zu bestimmen. Die Arbeit verfolgt das Ziel, die ästhetischen Beurteilungskriterien und Begründungsstrategien in denjenigen Texten, die einen wertend-begründenden Vergleich zwischen den beiden Dichtern Vergil und Homer anstellen, zu benennen, zu erklären und nach ihren rezeptionsgeschichtlichen Bedingungen zu befragen. Daran schließt sich als übergeordnetes Untersuchungsziel die Frage an, ob und – wenn ja – wie sich die verschiedenen Antwortversuche auf das Problem einer Vorrangstellung Homers oder Vergils in der antiken Kanondiskussion positionieren, näherhin ob und inwieweit die fraglichen Vergleiche als Beiträge zu einer solchen Kanondiskussion betrachtet werden können oder ob sich die Funktion des Homer-Vergil-Vergleichs in der Antike anders bzw. differenzierter bestimmen lässt.
Als Untersuchungsgegenstände kommen also grundsätzlich wertende Vergleiche zwischen Homer und Vergil in Betracht. Diese wertenden Vergleiche wurden in der Antike mit dem Terminus Synkrisis (bzw. lat. diiudicatio locorum o.ä.) bezeichnet (s.u. → Kap. 1.3.1 und 4.1.3). Gemeint ist dabei immer ein methodengeleiteter, von bestimmten ästhetischen Kriterien ausgehender Vergleich mindestens zweier Texte mit dem Ziel, eine qualitative Hierarchie zwischen ebendiesen Texten zu bestimmen.
Ausgeschlossen aus der engeren Themenstellung sind demnach solche Texte bzw. Abschnitte, die ein homerisches Modell für eine konkrete Vergilstelle lediglich identifizieren, ohne eine explizite literaturkritische Stellungnahme damit zu verbinden. Das gilt etwa für die umfangreichen Abschnitte Sat. 5, 2, 6–5, 3, 17, 5, 3, 2–14, 5, 4, 2–5, 10, 13 und 5, 11 in den Saturnalia des Macrobius, aber auch für den Großteil der Homer-Vergil-Vergleiche in den Vergilkommentaren, zumal bei Servius. – Von einer gesonderten Untersuchung der Vergilkommentare konnte in diesem Rahmen vor allem aus zwei Gründen abgesehen werden: Einerseits sind die literaturkritisch wertenden Vergleiche mit Homer in diesen Erklärungsschriften wie erwähnt quantitativ unterrepräsentiert, zumeist wird einfach auf ein homerisches Beispiel verwiesen oder es werden unter Berufung auf Homer Sacherläuterungen gegeben. Außerdem liegt mit der Studie von Marco Scaffai eine umfassende Monographie vor, die alle expliziten Erwähnungen Homers bei Servius und den anderen Kommentatoren eingehend bespricht (vgl. ergänzend dazu Cyron [2009], S. 192–223 [„Die Funktion von Verweisen auf andere Autoren“; bes. zu Homer S. 210–223]). Die i.e.S. synkritischen Notizen nehmen dann entsprechend auch bei Scaffai nur einen kleinen Abschnitt ein; vgl. Scaffai (2006), S. 327–373 (Kapitel 3: „Critica poetica e sistema narrativo“). Gerade der zuletzt genannte Abschnitt kann daher als Ergänzung der vorliegenden Studie angesehen werden, auch weil er auf die an den jeweiligen Stellen relevanten ästhetischen Kategorien – wenn auch nicht systematisch – eingeht. Metapoetische Deutungen entsprechender Stellen, an denen Vergil in den Augen seiner antiken Exegeten über sich und sein Verhältnis zu anderen Autoren – Zeitgenossen, aber auch kanonischen Vorbildern – spricht, behandelt Cyron (2009), S. 277–282. – Selbstverständlich sind Servius und die anderen Kommentatoren aber auch für die engere Fragestellung dieser Untersuchung von Relevanz, weil es oft nur durch die in den Kommentaren überlieferten Vergildeutungen möglich ist, den philologischen Diskussionszusammenhang zu rekonstruieren, in den sich die wertenden Vergleiche bei Seneca d.Ä., Gellius oder Macrobius einordnen. Die Kommentatoren werden hier also durchaus durchgehend berücksichtigt, aber nicht eigenständig behandelt.1
Mit dieser Fragestellung soll also nicht nur ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Vergils geleistet werden, vielmehr werden am Beispiel des Homer-Vergil-Vergleichs exemplarisch Analysekriterien zusammengestellt, mit denen der literaturkritische Praktiker in der Antike zumal solche Beziehungen zwischen Texten bewertete, bei denen er eine intentionale Bezugnahme eines Nachahmers auf sein Modell im Sinne von imitatio bzw. aemulatio unterstellte.2
Dieser antike Zugang zum Text steht den modernen, von den methodischen Grundsätzen der strukturalistischen Intertextualitätstheorie mit ihrer Ausblendung der Autorinstanz geleiteten Annäherungen an Vergil natürlich grundsätzlich entgegen: Die antiken Philologen hatten, pointiert formuliert, keine Angst vor der intentional fallacy. Daraus ergibt sich die generelle Tendenz, bei entsprechenden Text-Text-Beziehungen immer von einer „bewussten“ Bezugnahme des jüngeren Autors auf den Text des älteren auszugehen und diese Bezugnahme entsprechend regelmäßig als imitatio bzw. aemulatio mit Wettkampfcharakter zu deuten. Deutlich kommt dies schon in der bekannten Formulierung des Servius am Beginn seines Vergilkommentars zum Ausdruck: intentio Vergilii haec est, Homerum imitari … (I 4, 10 Thilo-Hagen). – Zu den verwendeten Begriffen: Im Folgenden wird also in der Regel von „Modell“, „Vorbild“, „Muster“ bzw. „Nachahmung“, „Nachbildung“, „imitatio“ gesprochen, ohne dass in jedem Fall die – ohnehin nur schwer zu beantwortende – Frage diskutiert wird, ob tatsächlich eine intentionale Bezugnahme Vergils auf Homer vorliegt. Ausgegangen wird von der Feststellung eines derartigen Bezugs durch den antiken Literaturkritiker. Zur Bewertung seiner Einschätzung ist dann hingegen sehr wohl zu fragen, ob es nicht noch weitere Vorbilder gibt, zumal solche „Zwischenmodelle“ – z.B. ein nach Homer gestaltetes Gleichnis bei Apollonios, das wiederum Vergil zum Vorbild gedient hat – Aufschluss über die kritische Rezeptionsgeschichte der fraglichen Homerstelle geben können (s.u.).
Die Synkrisis, der Vergleich von Modell und Nachahmung, ist für den antiken Literaturkritiker also das Instrument, um Strategien einer intentional verstandenen imitatio und aemulatio zu verbalisieren und nach ihrem Erfolg zu beurteilen. Eine zusammenfassende Analyse synkritischer Urteile, wie sie in der vorliegenden Untersuchung für den Fall der vergilischen Homer-imitatio unternommen wird, ermöglicht somit Rückschlüsse auf den literaturkritischen Erwartungshorizont, der als Faktor literarischer Produktion auch für andere, zumal epische Texte von Relevanz ist.
Wenn man die von den antiken Philologen durch Textvergleich rekonstruierten und verbalisierten Strategien der Nachahmung analysieren und klassifizieren will, so sind grundsätzlich verschiedene Bezugsebenen zu unterscheiden. Literaturvergleiche beziehen sich auf zwei oder mehr Texte. Im Falle des Homer-Vergil-Vergleichs ergibt sich daraus z.B. das folgende Szenario: Der Kritiker bezieht sich auf zwei Stellen aus Aeneis und Odyssee. Die fragliche Odysseestelle hat ihrerseits eine bestimmte Rezeptionsgeschichte – etwa eine ästhetische Bewertung durch einen Grammatiker, die sich heute noch durch eine entsprechende Notiz in den Odysseescholien rekonstruieren lässt (= direkte Beurteilung der Modellstelle in ihrer Rezeption) –, die einerseits für Vergil, andererseits aber auch für die Beurteilung durch den vergleichenden Kritiker relevant ist bzw. sein kann. (Dass Vergil seine Modelltexte, zumal Homer, auch als Gegenstand philologischer und literaturkritischer Debatten wahrgenommen und herangezogen hat, wurde umfassend in den beiden Studien von Schlunk [1967 bzw. 1974] und dann insbesondere von Schmit-Neuerburg [1999] herausgearbeitet, letzterer mit dem Nachweis zahlreicher Einflüsse ethischer und kritischer Homerexegese auf Vergil.3) Zu dieser philologischen Rezeption ist wie bereits erwähnt auch die literarische Rezeption hinzuzunehmen, die für Vergil eine Rolle gespielt haben kann (= indirekte Beurteilung der Modellstelle in der Rezeption): Wenn Apollonios Rhodios etwa ein Gleichnis Homers aufgreift, so kann man in den Änderungen, die er vornimmt, einen Beitrag zur (kritischen) Homerrezeption sehen und für Vergil einen doppelten Bezug, nämlich auf Homer und Apollonios, annehmen. – Das Ergebnis der Synkrisis kann schließlich noch durch die besondere Rezeptionsgeschichte der Vergilstelle – ohne dass dabei Homer eine Rolle spielen muss – beeinflusst sein, die wiederum direkt (innerhalb von Vergilkommentaren etc.) oder indirekt (durch Vergilnachahmer) vonstatten gehen kann (= direkte bzw. indirekte Beurteilung der Nachahmung in der Rezeption).
Die hier zu behandelnden Literaturvergleiche geben also einen Einblick in die Kriterien, die man bei der Beurteilung von Nachahmung und Modell(-en) – und allgemeiner: von zwei oder mehreren Texten – heranziehen konnte, um eine konkrete ästhetische Wertung zu rechtfertigen. Synkritisches Lesen war eine verbreitete kulturelle Praxis, die hier zur Anwendung kommenden Kriterien und Methoden waren demnach nicht das Spezialgebiet der professionellen Grammatiker, sondern steuerten allgemein ästhetische Wahrnehmungsprozesse in der Antike.4 Die Literaturvergleiche sind daher ein wesentlicher Schlüssel für das Verständnis sowohl der Rezeptions- als auch der Produktionsbedingungen innerhalb einer literarischen Kultur, die die einzelnen Werken der Dichter, aber auch der Geschichtsschreiber, Redner und Philosophen, als grundsätzlich aufeinander bezogen wahrnahm, ob sie nun tatsächlich in einem intentionalen imitatio-Verhältnis von Modell und Nachahmung standen oder ob sich die Bezüge loser – etwa durch einen gemeinsamen Gegenstand o.ä. – gestalteten.5
Das Vorgehen ist im Folgenden grundsätzlich chronologisch und autorengebunden, was sich aus der übergeordneten Frage nach der Einordnung in die Kanondiskussion ergibt: Ausgegangen wird dabei von der frühesten Phase der Vergilrezeption, aus der uns zwar keine Texte, aber immerhin Titel einschlägiger Schriften überliefert sind. Wie bereits erwähnt, lässt sich zeigen, dass Vergil im Verlauf dieser frühen Diskussion, in der die Frage nach der Bewertung homerischer Übernahmen z.T. mit dem Vorwurf des Plagiats beantwortet wurde, eine Schlüsselstellung zugewiesen wird und der Dichter der Aeneis nach und nach zum exemplarischen Modellfall für Dichtung „auf zweiter Stufe“ im positiven Sinne avancieren konnte (→ Kap. 2). Seneca d.Ä. steht mit seinen beiden Homer-Vergil-Vergleichen noch ganz im Kontext dieser Diskussion (→ Kap. 3), während für Gellius die kanonische Stellung Vergils als eines exemplarischen Homernachahmers bereits soweit gefestigt ist, dass er sich in seiner literaturhistorischen Einordnung ganz im Fahrwasser Quintilians bewegt (→ Kap. 4.2) und frühere Kritik an Vergils Homer-imitatio kommentarlos in ihrer Widersprüchlichkeit entlarven kann (→ Kap. 4.3). Macrobius steht mit seinen Saturnalia am Ende der hier behandelten Reihe: Bei ihm erlangt der Homer-Vergil-Vergleich systematische Geltung und wird konstitutiv für ein umfassendes Bildungsprogramm (→ Kap. 5.1.1 u. 3). Gleichzeitig ist der Vergleich mit Homer argumentativ eingebunden in einen symposialen Dialog, in dem die Diskussion über kanonischen Rang und Autorität (vgl. bes. Sat. 5, 11 und 13) eine neue Funktion erhält (→ Kap. 5.1.3). Die wertenden Vergleiche begründen nämlich zwar abwechselnd den Vorrang Vergils und Homers, zeigen aber vor allem stilistische Sachverhalte auf (→ Kap. 5.2.1). Dann wird in einem nach Kategorien geordneten Nachweis der Versuch unternommen, Vergils Dichtung als strukturelle Adaption ihres homerischen Vorbilds zu erweisen, womit sich eine bestimmte Absicht verbindet, nämlich der Entwurf einer Poetologie griechisch-römischer Hexameterdichtung in der Nachfolge Homers, wie er in vergleichbarer Geschlossenheit sonst bei keinem Autor der (Spät-)Antike vorliegt (→ Kap. 5.2.2). Ausgehend von den Ergebnissen dieser Untersuchungen soll dann abschließend auf die bereits aufgeworfene Frage nach der Stellung der Synkrisis zwischen Homer und Vergil in den antiken Kanondebatten6 eingegangen werden (→ Kap. 6).
Methodisch ergibt sich in den Kapiteln zu Seneca d.Ä., Gellius und Macrobius jeweils folgender Doppelschritt: Auszugehen ist von den – etwa in den Vorreden formulierten – programmatischen Stellungnahmen, in denen sich die Autoren über die Voraussetzungen und Ziele ihrer Schriften äußern. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Rolle literarischer Texte, die jeweils artikulierte Bildungsidee, den methodischen Stellenwert des (Literatur-)Vergleichs im Allgemeinen sowie auf das grundsätzliche Verhältnis zur griechischen Vorbildkultur zu legen. – Im zweiten Schritt werden dann die einzelnen vergleichenden Urteile in Abgleich mit ihren philologisch-ästhetischen Bedingungsfaktoren gebracht und auf Divergenz oder Konvergenz mit den andernorts überlieferten Wertungen geprüft. Vor dieser rezeptionsgeschichtlichen Folie kann dann die Stoßrichtung des einzelnen Urteils näher bestimmt und die Frage seiner Berechtigung bzw. seiner spezifischen Tendenz genauer beantwortet werden.
1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick
1.3.1 Der Literaturvergleich als Methode und Gattung philologischer Spezialliteratur
Der zentrale Begriff, mit dem man in der Antike wertende Textvergleiche im oben erläuterten Sinne umschrieb, war derjenige der Synkrisis (σύγκρισις).1 In seiner Verwendung i.S. v. comparatio2 bezeichnet dieser Terminus zunächst allgemein die logische Operation des Vergleichs.3 Eine speziellere Verwendung ergibt sich im literaturkritischen Zusammenhang: Hier ist an die κρίσις ποιημάτων zu denken, die nach Dionysios Thrax als sechstes Aufgabenfeld des antiken Philologen zur γραμματικὴ τέχνη gehört und – neben Echtheitskritik – im Kern die ästhetische Würdigung umfasst.4 Die σύγκρισις ist folglich die wechselseitig aufeinander bezogene κρίσις mehrerer Schriftwerke – Dichtung, aber auch Reden und andere vom Grammatiker behandelte Texte. Die Synkrisis als Methodenbegriff lässt sich folglich näherhin als vergleichende ästhetische Würdigung von Texten definieren, und der Hinweis auf die disziplinäre Einbettung der κρίσις ποιημάτων legt bereits nahe, dass es sich hierbei in der Regel nicht um eine subjektive Einschätzung, sondern um einen methodisch geleiteten Vorgang, der bestimmten ästhetischen Prinzipien folgt, handelt. Die Zahl möglicher Vergleichsgegenstände ist mit diesem Begriff noch nicht näher bestimmt, mindestens zwei müssen es aber natürlich sein. Dazu kommt, dass die Vergleiche in der Regel auf einen abschließenden Rangentscheid (iudicium bzw. κρίσις) hin ausgerichtet sind, es also nicht allein darum geht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen, sondern die Parteinahme des κριτικός gefordert ist.5 – Der Terminus σύγκρισις kann neben der Methode des wertenden Vergleichens auch als Gattungsbegriff für eine literarische (Klein-)Form stehen, z.B. – aber nicht nur6 – im Gebiet der Literaturkritik. Diese beiden Bedeutungsvarianten zeigen eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Annäherung an das Phänomen des Literaturvergleichs in der Antike, da die Methode der Komparation sowohl in unselbstständiger wie auch in selbstständiger Form angewandt sein kann, wobei sie im letzteren Fall dann auch u.U. wiederkehrende Gattungsmerkmale – etwa einen symposialen Rahmen, die Form des Streitgesprächs o.Ä. – aufweist. Im Textkorpus der vorliegenden Untersuchung schlägt sich das insofern nieder, als in den Homer-Vergil-Vergleichen beide Möglichkeiten realisiert sind: Die exkursartigen Einlassungen Senecas rechnen zum ersten Typus, die eigenständigen Synkrisiskapitel bei Gellius, aber auch der in sich geschlossene wertende Vergleich in Sat. 5, 11–13 sind eher als συγκρίσεις bzw. diiudicationes im gattungsmäßigen Sinn anzusprechen.
Berücksichtigt man außerdem das Verhältnis der analysierten Texte zueinander, so ist noch eine – zumal für den Bereich der römischen Literaturkritik relevante – begriffliche Unterscheidung zu treffen. In vielen Fällen lässt der Literaturkritiker nämlich erkennen, dass er einen direkten, vom jüngeren Autor intendierten Bezug auf den älteren Text annimmt. Relativ selten – zumindest im römischen Bereich – sind dagegen die Fälle, wo dies nicht der Fall ist, die Texte also etwa allein wegen ihres gemeinsamen Themas gewählt sind. Die Art dieses Bezugs kann bei den Vergleichstexten des ersten Typs in ganz unterschiedlicher Form – etwa als Übersetzung (interpretatio), Nachahmung (imitatio) oder literarischer Wettkampf (aemulatio), um eine der diskutierten Stufungen zu zitieren (s.u.) – realisiert und dann auch durch entsprechende Termini seitens des Kritikers markiert sein.
Die Kategorien interpretatio, imitatio und aemulatio wurden von Arno Reiff (1959) als fixes begriffliches System zur Beschreibung literarischer Abhängigkeit in der römischen Literatur vorgeschlagen. Dagegen hat man zurecht eingewandt, dass den verwendeten Termini keine feste Hierarchie entspricht, ihre Verwendung also gewissen kontextabhängigen Spielräumen folgt; vgl. Fuhrmann (1961), pass. – Die wesentlichen Aspekte der Konzepte von imitatio bzw. aemulatio fasst Bauer (1992), Sp. 144–150 zusammen. Sie wurden zunächst in der Rhetorik theoretisch entwickelt und sind nicht immer scharf voneinander zu trennen: Der Begriff der imitatio impliziert schon beim Auctor ad Herennium (1, 4: imitatio est qua impellimur, cum diligenti ratione, ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse) und bei Cicero das Ziel, das jeweilige Modell – in regelgeleiteter Weise (ratione) – zu übertreffen (Überbietungsabsicht). Aemulatio kann dann aber zur Bezeichnung der gelungenen Nachahmung auch als Gegensatzbegriff zu der entsprechend als pedantische Nachbildung verstandenen imitatio verwendet werden. Bei Dionysios von Halikarnassos können die sonst als Synonyma behandelten Begriffe μίμησις und ζῆλος an einer Stelle sogar in vergleichbarer Weise differenziert werden: ζῆλος setzt die psychologische Assimilation des Vorbilds voraus, während μίμησις nur die regelgeleitete Nachahmung bezeichnet, die ohne ein Eindringen in den „Geist“ des Vorbilds auskommt. Ps.-Longinos baut dieses ζῆλος-Konzept in seiner Abhandlung περὶ ὕψους zu einer regelrechten Inspirationstheorie aus, in der die kanonischen Vorbilder wie göttliche Mächte auf den Nachahmer einwirken, der dadurch nicht auf der Oberfläche lehr- und lernbarer Stilistika, sondern auch dem Wesen nach Teil an ihnen hat. Damit wird der im traditionellen imitatio-Konzept unvermeidliche Qualitätsabfall vom Modell zum Nachahmer in gewissem Sinne aufgehoben, weil das klassische Modell auf den Nachahmer nun in der Weise wirkt, dass es ihm zeigt, wie er als ein der Natur analoger Schöpfer selbst schöpferisch tätig werden kann: Der Nachahmer wird dadurch zum originalen Schöpfer und kann auf diese Weise selbst als Klassiker wirken. – Aus der Forderung nach einer Orientierung an vorbildlichen Mustern resultierten bei den griechischen Klassizisten die Bemühungen, einen festen Kanon an Modellautoren zu definieren – im Bereich der Rede waren dies hauptsächlich die attischen Redner des vierten Jhdt. v. Chr. Dies geht einher mit der Abwertung der nun als Verfallsperiode deklassierten Zwischenzeit, also der hellenistischen Periode. – In Rom war die Definition einer „klassischen“ Modellepoche aufgrund der literaturgeschichtlichen Situation ungleich schwieriger, was zu verschiedenen Versuchen einer Kanondefinition führte (Lit.: → Kap. 1.2). Quintilians Kanon in inst. 10, 1 ist der systematisch anspruchsvollste Versuch in dieser Richtung, der aus der Antike erhalten ist. – Vgl. neben dem bereits zitierten Überblick bei Bauer zum imitatio-Konzept noch Flashar (1979), pass. und Görler (1979), pass.; dazu Kroll (1924), S. 139–184 und Farrell (1991), S. 3–25.
Dass ein intentionaler Bezug angenommen wird und dieser Umstand bei ihrer ästhetischen Wertung eine Rolle spielt, lassen die Kritiker in der Regel durch die Verwendung von Termini wie sequi, aemulari etc. erkennen.7 Dem stehen, wie bereits erwähnt, die Vergleiche gegenüber, in denen eine derartige intendierte Abhängigkeit nicht explizit unterstellt wird. Die Möglichkeit einer relativen Bewertung der fraglichen Autoren bzw. Texte ist natürlich auch hier gegeben, sie muss aber von den besonderen Bedingungen einer bewussten Bezugnahme absehen, bei welcher der Vorlagentext selbst und die Art seiner Rezeption mehr oder minder verbindliche ästhetische Maßstäbe liefern, die der spätere Autor, aber auch der Kritiker in seinem Kalkül bzw. seiner Bewertung zu berücksichtigen hat.
Betrachtet man die überlieferten Literaturvergleiche in ihrer historischen Entwicklung, so lässt sich diese doppelte Dichotomie von Methoden- und Gattungsbegriff bzw. „neutralem“ Stellenvergleich und expliziter imitatio-Kritik auch diachron genauer verorten.8 – Eine Reihe von überlieferten Titeln zeigt, dass die gegenüberstellende Anlage in monographischen Abhandlungen zu bestimmten Dichtern (→ Synkrisis als eigenständige Gattung) schon in vorhellenistischer Zeit verbreitet war.
Monographische Gegenüberstellungen von Dichtern und Rednern sind seit dem vierten Jhdt. v. Chr. bezeugt, wiesen aber wohl eine erhebliche Divergenz in der Zielsetzung auf. Exemplarisch sei hier auf Herkleides Pontikos (ca. 390–320 v. Chr.) hingewiesen (alle Titel bezeugt bei Diog. Laert. 5, 86 = frg. 22 Wehrli): Die drei Bücher περὶ τῶν παρ’ Εὐριπίδῃ καὶ Σοφοκλεῖ behandelten wohl stofflich-sachliche Übereinstimmungen bei den beiden Tragikern (vgl. auch → Kap. 2.2.1).9 Ob die Schrift περὶ τῶν τριῶν τραγῳδοποιῶν im Umfang eines Buches in eine ähnliche Richtung ging, ist hingegen nicht mehr festzustellen. Die beiden Bücher περὶ Ἀρχιλόχου καὶ Ὁμήρου behandelten zwei Gattungsarchegeten; inwieweit hier tatsächlich ein Vergleich der beiden Autoren, etwa nach stilistischen Kriterien, stattgefunden hat, muss auch hier dahingestellt bleiben. Der Frage nach der relativen Datierung von Homer und Hesiod gingen schließlich die beiden Bücher Περὶ τῆς Ὁμήρου καὶ Ἡσιόδου ἡλικίας (vgl. Diog. Laert. 5, 86 = frg. 22 Wehrli) nach.10 – Eigenständige Schriften, die den Terminus σύγκρισις im Titel führten, sind dann erst aus späthellenistischer Zeit bezeugt: Kleochares von Myrlea stellte einen monographischen Vergleich zwischen Demosthenes und den Isokrateern an (Photios bibl. 176.121 B 9–15: … ἐν τῇ πρὸς τὸν Δημοσθένην συγκρίσει …)11, und von Poseidonios (135–51 v. Chr.) – nicht vom Astronomen Dionysios, wie Focke (1923), S. 343 vermutet – dürfte ein Schrift des Titels Περὶ συγκρίσεως Ἀράτου καὶ Ὁμήρου περὶ τῶν μαθηματικῶν stammen, in der die beiden Epiker nach ihren astronomischen Kenntnissen verglichen wurden.12
Erst in hellenistischer bzw. nachhellenistischer Zeit wurde der Terminus σύγκρισις nach unseren Zeugnissen also für literaturvergleichende Monographien verwendet, wobei auch dann noch eine gewisse thematische Varianz – rhetorische Stilkritik im Falle des Kleochares vs. Realienkritik bei Poseidonios – für die so bezeichnete Textsorte charakteristisch bleibt. – Einen Vorläufer hatten derartige literaturvergleichende Schriften – ob sie nun den Terminus σύγκρισις im Titel trugen oder nicht – in der sog. Agonliteratur, in der der Agon als institutionalisierte Form der Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Dichtern literarisiert wird – am prominentesten vertreten im sog. Certamen Homeri et Hesiodi sowie in den Fröschen des Aristophanes.
Einen wirklichen Aufschwung nahm die Synkrisis zumal als Methode literaturkritischer Bewertungsprozesse in den Stildebatten des ersten Jhdt. v. Chr. (vgl. auch → Kap. 2.2.2). Autoren wie Dionysios von Halikarnassos formulierten ein theoretisch anspruchsvolles Programm literarischer und kultureller Erneuerung, das sich in einem klassizistischen Rückgriff auf die „goldene Zeit“ des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. vollzog. Ihr Bildungs- und Literaturverständnis war stark auf der Geltung anerkannter Autoritäten aus dieser „klassischen Zeit“ gegründet. Die Methode der Synkrisis war dabei ein Weg, eben diese Autorität und kanonische Stellung auszuhandeln und auf diese Weise brauchbare Muster überhaupt erst zu legitimieren. Neben zahlreichen Stilvergleichen zwischen den verschiedenen attischen Rednern liefert Dionysios von Halikarnassos in seinem Brief an Cn. Pompeius auch einen theoretischen Versuch, die Synkrisis methodisch zu rechtfertigen (→ Kap. 1.3.2):13 Das unausgesetzte Vergleichen der Besten mit den Besten setze die Unterlegenen nicht herab, sondern finde seine teleologische Begründung in einem nicht abschließbaren Prozess der Optimierung, in dem es darum geht, sich beständig der stilistischen Qualitäten der kanonischen Muster im Modus des Vergleichs zu versichern. Von dieser Lust am ständigen Vergleich, wie sie die Attizisten wohl schon vor Dionysios ausgeprägt hatten, zeugen auch zahlreiche Stellen in Ciceros Brutus.14
In späteren Epochen, zumal im Umfeld der zweiten Sophistik, finden sich dann viele Beispiele für synkritische Bewertungen von Autoren und konkreten Texten.15 Zwei Vergleiche griechischer Dramatiker sind aus der kaiserzeitlichen Literatur überliefert, an denen die Charakteristika rein griechischer Literaturvergleiche – von Griechisch schreibenden Autoren und nur über griechische Texte – besonders klar hervortreten. – Ein kurzes Stück, das im Korpus der Schriften Plutarchs überliefert ist, in der überlieferten Form aber nicht von diesem Autor stammt, trägt traditionell den Titel Συγκρίσεως Ἀριστοφάνους καὶ Μενάνδρου ἐπιτομή.16 Der Text gibt sich als eine Zusammenfassung von Plutarchs Einschätzung über die beiden Hauptvertreter der Alten und der Neuen Komödie, Aristophanes und Menander. Es handelt sich dabei um einen generellen Autorenvergleich – es steht also keine spezielle Komödie im Zentrum –, der aber doch konkrete Textstellen zur Stützung des Arguments heranzieht. Die Gegenüberstellung geht zunächst von der Sprache der beiden Dichter aus und stellt hier entsprechende Qualitätsunterschiede heraus (Kap. 1–2). Sein Erfolg beim Publikum bestätigt die Qualitäten Menanders (Kap. 3). Abschließend wird der urbane Witz Menanders dem bissigen Spott des Aristophanes gegenübergestellt (Kap. 4). Es handelt sich hier also um einen nach formalen – Sprache und Witz – und biographisch-literaturgeschichtlichen – Erfolg bei den Zeitgenossen – Kategorien geordneten Vergleich. Texte kommen nur insofern in Betracht, als sie eine vorab festgestellte allgemeine Differenz belegen können.
Das zweite Beispiel, Dions berühmte 52. Rede (περὶ Αἰσχύλου καὶ Σοφοκλέους καὶ Εὐριπίδου ἢ περὶ τῶν Φιλοκτήτου τόξων), stellt stattdessen durchaus konkrete Texte in den Mittelpunkt, nämlich die Philoktetdramen der drei attischen Tragiker, von denen bekanntlich nur das Stück des Sophokles erhalten ist.17 Bemerkenswert ist hier der imaginäre Agon, den Dion als Rahmen für seinen Textvergleich entwirft (Kap. 3–4); es handelt sich dabei um eine bewusste Stilisierung eines kritischen Entscheids nach den alten attischen Theatersitten. Nacheinander werden dann die drei Stücke besprochen, wobei erst die beiden schließlich abgewerteten Versionen des Aischylos und Euripides, als Abschluss dann die gelungene Bearbeitung des Stoffes durch Sophokles analysiert wird. Ohne auf die angewendeten Kriterien hier im Einzelnen einzugehen, ist allgemein darauf hinzuweisen, dass sich Dion fast ausschließlich auf die Konstatierung von Unterschieden beschränkt. Literarische Abhängigkeit kommt nur an einer Stelle ins Spiel, wobei die Bemerkung hier gerade von der Tragikertrias wegführt (vgl. Kap. 5: καθάπερ Ὅμηρος κἀκείνῳ δὴ ἑπόμενος Εὐριπίδης).
Vergleicht man diese beiden Beispiele etwa mit dem Übersetzungsvergleich, den Gellius in 2, 23 ebenfalls mit zwei dramatischen Texten – Menander und Caecilius Statius – anstellt, so wird die besondere Aufmerksamkeit kenntlich, die die römischen Philologen den Aspekten der literarischen Abhängigkeit – hier der Übersetzung – gewidmet haben.18 Dabei sind die Unterschiede in der Textgrundlage gar nicht so entscheidend: Wie die Beispiele aus dem Plocium des Caecilius Statius zeigen, war der römische Begriff der „Übersetzung“ ein sehr weiter. Man hätte in ähnlicher Weise wohl auch in den Philoktetdramen Stellen finden können, die sich inhaltlich direkt vergleichen lassen. Dion tut das nicht; er behandelt jedes Drama für sich, ohne einzelne Textstellen unmittelbar gegeneinander zu halten. Das deutet schon darauf hin, dass die in Rom über die Epochen hinweg so wichtigen Konzepte von imitatio und aemulatio in der Technik des Einzelstellenvergleichs auch methodische Auswirkungen hatten. Die Frage nach Grad und Art der Intentionalität stellte sich in Rom offensichtlich drängender als in Griechenland, auch weil sich die römische Literatur in ihrer ersten Phase als Übersetzungsliteratur verstanden hatte. Vergleichende Literaturkritik ist hier in der Regel auch imitatio-Kritik, und das Beispiel des prototypischen Homernachfolgers Vergil – das Provozierende seiner programmatischen Orientierung an Homer war bekanntlich schon den ersten Rezipienten bewusst19 – musste demnach besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.