Kitabı oku: «Abengs Entscheidung», sayfa 2
Kontchupé
Abeng war ein neugieriges Mädchen, wollte alles von der Welt sehen und erfahren. Aber die Treue überwog die Neugier und das kleine Mädchen machte meistens nur das, was ihre katholische Erziehung gebot. Sie war ein gehorsames kleines Mädchen! Dies vor allem, weil sie ihren Vater sehr liebte und ihm oft gefallen wollte. Aber dann kamen die ersten Glaubenszweifel.
Abeng war damals elf Jahre alt. Sie ging in die Grundschule und besuchte die sechste Klasse. Von einem Schulkameraden bekam sie ein Buch über die Geschichte der katholischen Kirche ausgeliehen. Der Kamerad hatte das Buch aus der Bibliothek seiner Eltern unbemerkt geholt und es für Abeng in die Schule mitgebracht. Zu Hause las Abeng eine Seite nach der anderen. Als sie von der Schuld der römischen Päpste an den großen Kriegen erfuhr, fing sie an, ihrer Konfession zu mißtrauen. Wenn Luther nicht im Dunkeln getappt hätte, hätte sich Abeng spätestens mit fünfzehn, und trotz der starken Liebe zu ihrem Vater, in der evangelischen Kirche neu taufen lassen. Aber da nach Christus alle Christen im Dunkeln zu tappen schienen, fand Abeng einen Wechsel sinnlos. Abeng verstand nicht, warum seit der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts der Messias nicht mehr erschien. Sie vermutete dann zwei Gründe: entweder Christus war für ewig tot oder er spielte Versteck mit den Menschen, wie Gott es seit der Schöpfung tat. Mehrmals las Abeng das rätselhafteste Buch aller Zeiten. Mit elf kannte sie die vier Evangelien des Neuen Testaments auswendig. In der viel bewegten politischen Stadt lebte Abeng im Sinne Christi. Einmal hatte sie sogar von einem Klosterleben geträumt. Aber als sie Glaubenszweifel bekam, hielt sie das Versteckspiel mit dem Messias und Gott nicht mehr aus. Sie erklärte es ihrem Vater. Assam war enttäuscht, nahm aber die Entscheidung seiner Tochter hin. Er ließ sie frei.
Dann erfuhr Abeng eine Wandlung. Mit Nadine, die inzwischen ihre beste Freundin geworden war, entdeckte sie die andere Seite des Lebens. Beide besuchten regelmäßig Kinos und Tanzlokale der Hauptstadt. Sie probierten die stärksten Spirituosen. Abeng schmeckte der Gin. Einmal trank sie mehr als üblich. Sie saß mit Nadine in einem Nachtlokal. In dieser Nacht entdeckte Abeng den Himmel und die Hölle. Zuerst glaubte sie in einem Traumland zu sein, in dem alles sich drehte. Aber dann brach sie zusammen, sie erbrach sich, bis ein Mann, fast im mittleren Alter, ihr seine Hilfe anbot.
Auch der Mann war betrunken. Er nahm Abeng und Nadine in seinem Wagen mit und schlenderte durch dunkle Straßen, bis er seine große Wohnung erreichte. Dort gab er Abeng sein eigenes Schlafzimmer und zeigte Nadine ein anderes Schlafzimmer. Eine Stunde später schlüpfte der Mann in das eigene Schlafzimmer hinein. Dann quälte er die noch betrunkene junge Frau die ganze Nacht durch. Vom Wesen her war er sanft, aber er tat Abeng weh. Er hatte ihre bisher verschlossene Tür aufgemacht.
Nach der Quälerei träumte er von einer Hochzeit. Er wollte Abeng heiraten. ›Sie kennen mich gar nicht, ich meine, meinen Charakter. Ich kenne Sie auch nicht. Vielleicht sind Sie verheiratet. Wer ist die Frau da, auf dem Photo? Sie sind bestimmt Vater. Und Sie wollen mich heiraten? Vielleicht sind Sie verrückt!‹ sagte Abeng zu dem Fremden. Es war Nadine, die damals, in den ersten Morgenstunden, Abeng nach Hause brachte. An diesem Morgen entschied sich Abeng, vorsichtig zu leben. Und das bedeutete für sie: nie wieder Spirituosen.
Solche Erinnerungen hätte Abeng am liebsten nie gehabt, aber sie blieben in ihrem Kopf, Abengs Gedächtnis bewahrte sie, die schrecklichsten Erinnerungen. Es bewahrte auch zum Glück die schönsten.
Abeng war sehr neugierig, sehr forsch, wollte von der Welt so viel wie möglich sehen. Ihre Neugier erinnerte oft an Gefangene, die jahrelang in der Dunkelheit waren und einmal draußen ihre Umwelt in wenigen Tagen erblicken wollten. Vielleicht war Abeng so, weil sie häufig in Berührung mit Gefangenen kam. Denn in Kondengui, im Viertel der Gefangenen, wurde Abeng groß. Wie kam Abeng zu den Gefangenen?
Abeng war sechs, als ihr Vater ihren Geburtsort im Osten verließ und ins Zentrum, ins Viertel der Gefangenen zog. Das Staatsgefängnis lag ein paar hundert Meter vom Elternhaus. Die Gefangenen hatten eine weiße Uniform mit roten oder schwarzen Streifen. Abeng fragte sich, ob die Streifenfarben eine Bedeutung hatten: die ewige Dunkelheit hinter Gittern? Die Vollstreckung eines Todesurteils in Tcholliré? Abeng wußte es nicht genau. Die Gefangenen taten ihr leid, unter ihnen waren Unschuldige, hatten nichts getan. Kinderschänder und Mörder liefen frei herum. Wie gern hätte Abeng jede schlechte Gerichtsverhandlung unterbrochen! Wer hätte ihr aber zugehört? Die Richter schlugen auf den Tisch und verkündeten ein Urteil. Ein Unschuldiger wurde eingesperrt. Später entdeckte man den Fehler. Das Fehlurteil wurde aufgehoben, Dreyfus begnadigt, Frankreich gespalten.
Eines Tages kaufte Abeng eine gestrickte Tasche, die ihr ein Gefangener gebracht hatte. Der Gefangene war eines der vielen Opfer eines Fehlurteils. Abeng kaufte seine Tasche, nicht weil sie eine gestrickte Tasche brauchte, sondern und vor allem weil sie dabei dachte, dem Gefangenen auf diese Weise zu zeigen, daß sie an seiner Seite war.
Die Gefangenen erhielten meist ihr Brot vom Staat. Manchmal gab ihnen der Staat die Möglichkeit, das Tageslicht zu sehen und Geld zu verdienen. Einige gingen dann von Haus zu Haus und verkauften Waren aus Monaten von Arbeit. Manche rodeten, fällten Bäume und gruben Stümpfe und Wurzeln aus, schlugen das Unkraut der Gebüsche mit Macheten, machten Waldflächen urbar, bekamen Geld von einem Waldbesitzer und rannten wieder ins Gefängnis. Die Frau des Waldbesitzers nahm die Machete, spaltete die nackte Erde entzwei und warf drei Maissaaten in die Tiefe. Nach drei Regentagen schossen Maisblätter wie Pilz aus der Erde. Die Farbe der Blätter leuchtete vielversprechend, das Dunkelgrün versprach eine gute Ernte, und im Dschungel waren die Ernten selten schlecht.
Die Frau des Gefangenen, an dessen Seite Abeng war, hatte eine gute Ernte gehabt. Sie brachte ihrem Mann einen Teller Maisbrei mit gekochten Maniokblättern ins kalte Gefängnis. Der Ehemann freute sich und sagte: ›Darling, I miss you‹. Darling hatte leider keine Wahl, sie mußte nach Buéa, zu den Kindern, denn zumindest sie hatten noch eine Zukunft: sie waren noch frei. Ihr Vater mußte warten, vor allem hoffte er auf eine Begnadigung, obwohl er keine brauchte.
Er hatte kein Verbrechen begangen. Er wurde in Kondengui gefangengehalten, aus der grundlosen Angst davor, daß Rio dos Cameroes wieder gespalten werden konnte. War die Wunde von Rio dos Cameroes nicht sichtbar genug? Wer wußte nicht, daß die alte Wunde mit einer rostigen Nadel und einem brüchigen Faden genäht worden war? Eine Narbe erschien an der Nahtstelle: die Wiedervereinigung. Wer sah nicht die Scheinnarbe? Sie verbarg eine tiefe Wunde, bereitete eine Überraschung. Rio dos Cameroes fürchtete eine neue Spaltung, obwohl es längst gespalten war.
Der Gefangene blieb hinter Gittern, strickte, schuf schöne Kunst, aber Tcholliré wartete auf ihn, die Schädelstätte von Rio dos Cameroes, ein Golgatha für die Einwohner, die man Krabben nannte, weil sie am Fluß der Krabben, am Rio dos Cameroes, lebten.
Abeng vergaß diesen Gefangenen nie, der ihr die Tasche verkaufte. Er war ein würdiger Mensch, arbeitete für sein Brot. Aber die Hinrichtung wartete auf ihn, obwohl er unschuldig war.
Abeng hatte Glück. Sie war frei, sie hatte einen freien Lebensraum, genauso wie die Politiker der Hauptstadt. Außerdem war sie immun gegen die gerechte Verhaftung, auch ohne diplomatische Immunität. Verbrecherische Versuchungen oder Taten wie Diebstahl, Mord, Abenteuer mit verheirateten Männern und ähnliche Verbrechen, die die Täter manchmal das Leben kosteten, mied Abeng. Sie wollte nicht am Leichtsinn sterben. Abeng wollte vor allem nicht ins Gefängnis, denn es war ein furchtbares Bild, das Bild eines Gefangenen. Er verlor das Wichtigste im Menschenleben: Er verlor seine Freiheit.
Abeng hatte auch einen freien Vater und fünf Geschwister, die noch eine Zukunft hatten: fünf freie Geschwister. Sie hatte leider auch eine freie Stiefmutter, eine bildhübsche Löwin mit Krallen. Und weil sie mit ihren Krallen Assam und seine Kinder drohte, mochte Abeng sie nicht. Wie gern hätte Abeng diese Löwin hinter Gittern gesehen! So war es für das junge Mädchen eine Erlösung, als ihr Vater nach zehn Jahren unglücklicher Ehe sich scheiden ließ. ›Papa, sei nicht traurig! Eigentlich solltest du dich freuen! In der letzten Zeit hat jeder gesehen, wie unglücklich du warst‹, sagte sie, um ihren Vater zu trösten, einen Menschen, den sie gern hatte.
Es vergingen zehn Jahre, bis Assam sich für ein neues Eheleben entschied. Er heiratete Nkolo, eine liebenswürdige Frau. Kurz nach der Hochzeit Assams lernte Abeng Manfred kennen.
Das Kind Manfred wuchs am Wasser auf, es spielte gern am Strand, es liebte den Sand. Es kannte Boote und Schiffe. Es mochte sie. Es kannte den Winter, die Kälte und den Schnee. Es mochte sie nicht. Es wanderte aus.
In der Zeit, in der Manfred Abeng kennengelernt hatte, arbeitete er dank einer Unterschrift von Seeman alias Siemens in der Stadt von Akwa. Akwa war der erste Mensch, den Manfred in dieser Stadt besuchte. Der Gastgeber hätte sich nicht über Manfred gefreut. Aber die Toten waren tot, von Akwa blieb nur Staub, Sand, Beton, Marmor, Gips. Manfred streichelte seinen steinernen Arm. Eine Statue, die an eine alte Zeit erinnerte, an die Zeit vor den zwei großen Kriegen. Manfred verließ seinen Gastgeber und fuhr am selben Tag zum Hafen. Die Meeresluft tat ihm gut, sie frischte alte Erinnerungen auf, machte die schlimmsten erträglich.
Manfred liebte Hafenstädte. Ihre Küsten hatten etwas Heilendes, auch wenn hier die Mücken Unheil brachten. ›Ich wohne in einer Küsten- und Mückenstadt‹, schrieb er seinen Eltern. Es war sein erster Brief an sie, seitdem er seine Heimat verlassen hatte.
Manfred war einer der wenigen begabten und vor allem glücklichen Männer, die einen unbefristeten Arbeitsvertrag von Seeman erhielten. Seeman träumte von einem internationalen Drahtwerk, das über den nächsten Krieg siegen würde. Seeman war voller Hoffnung, denn ohne Zuversicht, und das wußte Seeman am besten, erfolgte nichts. Als erstes prüfte er alle, die ihn um eine Beschäftigung in Rio dos Cameroes baten. Für den Bau des weltweiten Kabelnetzes war schon Begabung gefragt. Nach der Prüfung verteilte Seeman Verträge an wenige und schickte sie für sein erstes Experiment nach Afrika, zu jenem Land am Fluß der Krabben.
Leider blieben viele kluge Köpfe, die Seeman nicht beschäftigen konnte, da sie nur mit seiner Theorie, aber nicht mit seiner Praxis vertraut waren. Ihnen blieb dann nichts anderes übrig, als in die Kirche zu gehen. Dort trafen sie mit einem berühmten, sehr eifrigen Priester zusammen. Dieser Diener Gottes brauchte sie für seine Pläne in Afrika, für seine Entwicklungsprojekte. Ohne Zweifel: er hatte einen guten Willen, aber keinen starken, denn er sagte immer: ›Wir versuchen es, wir versuchen es weiter, mal sehen, was daraus wird, mal sehen, was aus Afrika wird.‹ Es war, als ob auch die Kirche keine Überzeugungen mehr hatte. Wozu dann der Glaube? Der gutwillige Priester verteilte Verträge und sagte zu seinen jungen Mitarbeitern: ›Viel Erfolg und viel Glück!‹ Manfred war froh, daß er mit der Kirche nichts zu tun hatte.
Manfred kannte die Kirche so gut wie sein Elternhaus. Er stammte aus einer evangelischen Familie und wurde nach der Taufe Lutheraner. Als Kind hat er mit seinen Eltern die Kirche oft besucht. Er war ihnen bis zu seinem zehnten Lebensjahr gefolgt. Dann gab er es auf. Er hatte es aufgegeben, weil er, wie er seinen Eltern später erklärte, keinen Gott in der Kirche gesehen hatte. Manfred wollte mit keinem Unsichtbaren sprechen. So begnügte er sich mit dem einfachen Glauben. Seine ganze Zeit verbrachte er mit der Schule und den Spielen, später mit dem Beruf. Manfred freute sich, daß er im schwarzen Erdteil als Telefontechniker arbeitete. Er war besonders froh, daß er in einem Sonnenland lebte.
Noch als kleinem Jungen fiel Manfred das Fremde in sich auf. Seine schwarzen Haare und seine dunklen Augen unterschieden sich deutlich von seiner weißen Haut und trennten ihn von den wenigen Verwandten, Bekannten und Freunden, die er hatte. Später gebar das Dunkle in ihm die Liebe zu den Tropen. Er sehnte sich nach Wärme, er wollte mehr Sonne.
Jetzt hatte er sie, die Wärme und die Sonne. Er war inzwischen vom Sonnenbaden am Strand braun. Er lebte mit Abeng und den kleinen Benns in Akwa, gar nicht weit vom Meer. In Akwa lebte auch Abengs ältester Bruder, den sie oft in ihrer Freizeit besuchte. Abeng hatte nicht nur Verwandte dort, sondern auch Bekannte, mit denen sie gut befreundet war.
Das Viertel Akwas hatte vieles, was weißhäutige Menschen anlockte. Dort waren die berühmtesten Cafés, Nightclubs, Kinos und Tanzlokale. Wegen der Mücken verbrachten jedoch die meisten den Urlaub in Krankenhäusern. Das Fieber war zu hoch. Diejenigen, denen die Stiche erspart blieben, waren tagsüber in Cafés und nachts in Tanzlokalen. Sie tanzten gern im Kontchupé.
Tanzlokale waren seit Abengs innerer Umkehr ihre geliebten Gaststätten, und ein ungewöhnlicher Gast war Abeng. Sie war erst fünfzehn, noch eine Schülerin, aber saß nur dort, wo man selten Schüler fand. Es war, als ob sie jene Altersgefühle, die sie allzu früh an ältere Menschen banden, nie wieder loswerden würde. Die ›Oberweise‹, die ›Alte‹, die ›Oma‹ und ähnliches waren Abengs Spitznamen.
Die Malerei war für sie eine Freiheitsbeschäftigung, ein Hobby, wie man das nannte. Immer, wenn sie unterwegs war, hatte sie Papier und Bleistift dabei. Nur so, dachte Abeng, konnte sie jede Möglichkeit ergreifen, wahre Bilder aufs Blatt zu überführen. Erfundene oder erinnerte Bilder hielt sie für untreue Bilder. ›Die wahre Malerei ist die der Realität, und nicht die der Vorstellung‹, sagte sie immer.
Tanzszenen waren ihre Bilder. Es waren diese Bilder, die die Schülerin zu den vielen Discos der Küstenstadt führten. Sie fuhr oft dorthin, nicht um zu tanzen, sondern um Tanzszenen zu zeichnen.
Nach fünf Jahren reifte Abengs Kunst. Sie war nun in der Abiturklasse und lernte viel für die nächste Abschlußprüfung. Zugleich fuhr sie immer öfter zu ihrem Bruder in die touristische Stadt. Man sah sie dort nicht nur in den Ferien, sondern auch in der Schulzeit, meist an den Wochenenden.
Abeng wurde eine Stammkundin vom Kontchupé, hatte dort, wie sie sagte, ›die Quelle der Malerei‹ gefunden: die Farben der Tanzenden. Die Gäste und die Einheimischen spiegelten oft paarweise oder gruppenweise ein schwarz-weißes Bild, dessen Schönheit von ihrer bunten Kleidung betont wurde.
Abeng hatte einen festen Platz am Tisch auf dem Balkon der Gaststätte, von dem aus sie die ganze Tanzfläche vor Augen hatte. Mit der Erlaubnis des Hausbesitzers, den Abeng nie vergaß, betrieb sie ihre Tätigkeit. ›Ich lasse dich erst herein, wenn du achtzehn bist‹, erinnerte sie sich immer.
Jetzt war Abeng zwanzig und sein willkommenster Gast. Und der Besitzer sorgte immer dafür, daß Abeng keine Schwierigkeiten mit den Gästen bekam. Er beauftragte seine Kellner damit, alle Ankömmlinge über Abengs Tätigkeit zu unterrichten. Nur ein paar gesuchte Verbrecher verließen sofort das Lokal. Sie vermuteten, daß die Malende im Auftrag des Geheimdienstes von Rio dos Cameroes arbeitete.
Abeng fiel in ihrer dunklen Ecke kaum auf. Für die ersten Entwürfe brauchte sie viel Abstand. Es war nicht einfach, Menschen in oft blitzschnellen Bewegungen wie die Tanzenden zu malen. Abeng hatte deshalb für jede Tanzbewegung ein Zeichen erfunden, das sie später in aller Ruhe malend zum Ausdruck brachte. Sie hatte ein ganzes Zeichensystem, eine Körpersprache, erfunden.
Einige Gäste, meistens waren es Franzosen, kamen in Berührung mit Abeng durch ihre Entwürfe. Sie waren überrascht über den ungewöhnlichen Einfall, in einem Tanzlokal zu malen. Abeng erklärte ihnen, daß sie auf diese Weise Geld verdiente. Danach versuchten die Gäste, sich in den noch halbfertigen Zeichnungen zu erkennen. Aber dies gelang nur wenigen. Es war schwer, sich in Abengs Entwürfen wieder zu finden. Denn sie betonten mehr die Bewegungen der Tanzenden, ihre Hautfarbe und die Farbe ihrer Kleidung als ihre Formen und Gesichter. Aber den Gästen gefielen die Bilder. Viele kauften sie, andere machten eine Bestellung und bekamen zwei Tage später ein fertiges Bild zugeschickt. Sie freuten sich über die Erinnerung an Afrika. Einige wollten mehr, sie wollten nicht nur die Gemälde, sondern auch die Malende: ›Black is beautiful. I love you.‹
Abeng mochte diese Art Anmache nicht. Sie war für ein bißchen Zurückhaltung, gab deshalb oft flüchtige Antworten oder verlangte Abstand von ihrem Arbeitsplatz: ›In dieser Stimmung kann ich nicht weiter malen‹, sagte sie. Dann wurde es still.
Einige waren zurückhaltend. Abeng unterhielt sich gern mit ihnen. Mit der Zeit gewann sie sogar ihr Vertrauen.
Sechs Monate vor der Abiturprüfung, in der ersten Ferienzeit des Schuljahres, in den Weihnachtsferien, war Abeng lange zu Besuch bei ihrem Bruder in der Küstenstadt. Sie erschien an dem ersten Tag des Wochenendes im Kontchupé mit ihrem jüngeren Bruder Abessolo und guten Bekannten aus der Stadt. In dieser Weihnachtszeit verkauften sich ihre Bilder gut. Wie gewöhnlich saß Abeng auf ihrem geliebten Platz auf dem Balkon und malte. Inmitten ihrer Beschäftigung fiel ihr jemand auf, der wie von dem Kreis der Tanzenden ausgeschlossen schien. Es war ein Mann, der vielleicht zu zurückhaltend war, um die Tanzfläche zu betreten und der statt dessen immer wieder Abeng anstarrte. Es war Manfred.
Manfred erschien oft im Kontchupé. Es war die erste Gaststätte, die er in der Mückenstadt besuchte. An dem ersten Samstag, den er am Fluß der Krabben verbrachte, zeigten ihm seine Arbeitskollegen das Nachtlokal. In dieser Nacht fiel es Manfred schwer zu glauben, daß so viele Weiße im Dschungel waren und sogar den Eindruck von angepaßten Bürgern machten. Die meisten hatten neben sich eine junge Einheimische, mit der sie tanzten oder in einer dunklen Ecke verschwanden.
Manfred war mißtrauisch. Auch er sehnte sich nach einer Einheimischen, auch er wollte eine schwarze Lebensgefährtin, aber er wollte eine anständige Frau. Da das Kontchupé für ihn kein Ort für anständige Mädchen war, ging Manfred in andere Gaststätten. Dann kamen die Bittbriefe, die ihn noch mehr enttäuschten. Manfred wurde zum Adressaten von einheimischen Mädchen. Es waren Mädchen, die er nicht kannte. Wie sie zu seiner Anschrift kamen, wußte er am Anfang nicht. Später erfuhr er, daß es in der Küstenstadt einen Vermittlungsdienst gab. Geheimagenten erschienen oft in Gaststätten und erkundigten sich nach jedem neuen weißen Gast. Sie bekamen die Adresse dann durch einen guten Bekannten des Gastes und verkauften sie in derselben Nacht. Das Kontchupé war inzwischen zu einer Art Sitz der Geheimbeamten geworden.
Die Bittbriefe verbitterten Manfred. Die Mädchen sprachen von Liebe. Sie wollten mit ihm schlafen, sie wollten sein Geld. Warum nicht die Straßen fegen? Warum nicht Erdnüsse verkaufen? Oder warum nicht malen und den Gästen die schwarze Kunst verkaufen, anstatt ihnen billige Briefe zu schreiben? Die Mädchen wollten nichts tun, vergaßen aber, daß es keine niedrige Arbeit gab, sondern nur eine niedrige Einstellung zur Arbeit, die zur Selbsterniedrigung führte.
In diesen schwierigen Zeiten, in denen Manfred erlebte, wie skrupellos schwarze Mädchen sein konnten, erinnerte er sich an seine Mutter. Er erinnerte sich an die Worte, mit denen er seine Mutter unterbrach, als sie ihm eines Abends Schneewittchen vorzulesen versuchte. Er hatte sie an diesem Abend mit einer Reihe von dem ihn langweilenden Märchen ablenkenden Fragen beschäftigt, wie er es seit seinem ersten Lebensjahren gern tat:
›Mama, auch in Afrika sind die Mädchen schön, ne?‹
›Ja, mein Schatz.‹
›Sie sind schöner als Schneewittchen, ne?‹
›Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Mädchen, die du wunderschön findest, können einem anderen nicht gefallen. Deswegen ist es schwer, solche Fragen zu beantworten. Es ist aber wahr, daß Mädchen in Afrika, in Schwarzafrika eine dunkle Haut und gelockte Haare haben. Sie haben aber dieselbe Haarfarbe wie Schneewittchen.‹
›Mama, sag nicht Schwarzafrika.‹
›Entschuldige! Aber wie soll ich dann den Unterschied machen?‹
›Es gibt kein Schwarzafrika, Mama. Unser Lehrer sagt immer: Afrika ist gemischt.‹
›Das ist richtig, und vielleicht meint dein Lehrer Südafrika, er meint, daß es dort Schwarze und Weiße gibt.‹
›Unser Lehrer sagt aber, daß wir nicht Schwarze sagen dürfen. Er sagt, daß wir Farbige sagen sollen. Seine Tochter ist farbig. Auch seine Frau ist farbig.‹ – ›Sie sind bestimmt nicht aus Amerika. In Amerika läßt sich kein Schwarzer farbig nennen. Sie sind sicherlich aus Afrika, bestimmt aus Südafrika‹, dachte Tania.
›Seine Tochter und seine Frau kommen aus Südafrika‹, sagte Manfred.
›Das habe ich mir schon gedacht. Seine Tochter ist bestimmt wunderschön. Oder?‹
›Ja, sie ist das schönste Mädchen in unserer Klasse. Sie ist sooooo lieb! Sie mag mich aber nicht. Sie mag nur den blöden Andreas. Andreas ist so dooooof!‹
›Übertreibe nun nicht, Kind! Und sei nicht eifersüchtig!‹
›Bin ich nicht. Mama, in Afrika sind die Mädchen sooooo lieb, ne?‹
›Ja, Schätzchen.‹
›Und artig, ne?‹
›Das weiß ich nicht genau.‹
›Ja, sie sind artig. Sie sind nicht blöd wie Eva. Eva schimpft immer mit den Jungs und weint in der Schule, wenn ihr Vater ihr kein Taschengeld gibt. Sie ist nicht artig. Sie ist blöd. Mama, in Afrika sind die Mädchen artig, sie mögen kein Geld, sie haben ein gutes Herz. Das sagt immer unser Lehrer.‹ Dann lächelte Manfred die Mutter an und fügte hinzu: ›Mama, wenn ich groß bin, werde ich nach Afrika fliiiiegen und eine Farbige heiraten.‹
Manfred war sechs und wuchs mit diesen Überzeugungen auf. Mit siebzehn erlitt er in der Liebe eine schwere Enttäuschung, die seine Überzeugungen noch stärkte. Er hatte sich damals in ein bildhübsches Mädchen verliebt, das ihn zwei Monate später verlassen hatte, weil er nicht studieren konnte.
Jetzt war Manfred zweiundzwanzig und doppelt enttäuscht. Er ging nicht mehr in Gaststätten. Es vergingen Wochen. Dann kam die Langeweile. Manfred wollte nicht nur für Seeman arbeiten und am Wochenende zu Hause sitzen, während seine Kollegen sich vergnügten.
Er erschien wieder im Kontchupé, einen Monat später. Es war, wie er selbst erzählte, ein glücklicher Zufall, der ihn damals dorthin führte. Er war zusammen mit seinen Kollegen. Da er ungern tanzte, nahm er den beliebten Platz vor der Theke ein. Dann fiel ihm die Malende vom Balkon auf. Zuerst fragte er sich, was eine Malerin in einem Tanzlokal suchte. Er erkundigte sich bei seinen Kollegen, die Abeng mittlerweile schon kannten. Sie sagten zu ihm, daß sie die Sache als Hobby machte und dabei ab und zu Geld verdiente. »Sie heißt Abeng und ist, wie sie uns erzählte, Gymnasiastin in Lycée Bilingue in Jaunde. Sie malt hier die Leute, die tanzen, meistens schwarz-weiße Paare. Ich habe viele Bilder bei ihr gekauft. Sie hat mich und Ngono gemalt. Wir sind mit ihr gut befreundet. Ich könnte dir die Bilder zeigen. Das Mädchen ist begabt. Versuche aber nicht, sie anzumachen. Sie ist in der letzten Zeit sehr zurückhaltend. Früher war sie anders. Manchmal hat sie mit ihren Kunden einen Drink geteilt. Aber seit ungefähr zwei Monaten macht sie nur ihren Job. Manchmal gibt es Streit da oben mit den Franzosen, die sie unbedingt haben wollen. Sie ist ja sehr schön! Unheimlich schlank und fein. Der Junge neben ihr ist ihr Bruder«, erklärte Uwe.
Als Manfred dies hörte, wurde er neugierig. Es gab endlich im Kontchupé ein Mädchen, das in seinen Denkrahmen paßte. Er wollte Abeng kennenlernen. Aber da jene gerade Brücke, die zu ihr führte, für ihn, wie Uwe sagte, gesperrt war, suchte er andere Möglichkeiten. Einmal begegnete er Abengs Blick. Aber die Augen der Malenden fielen wieder aufs Papier. Dann versuchte es Manfred noch einmal mit einem Kollegen. Da Uwe nicht mitmachen wollte, schickte er Paul, der Abeng ebenso gut kannte, zu ihr. Paul versuchte zu vermitteln.
Abeng sah Manfred wieder an. Sie hatte ihn schon mehrmals beobachtet. Sie hatte auch gesehen, wie er sie immer wieder anstarrte. Nun wußte sie nicht, was sie Paul antworten sollte.
Es war Abengs Wunsch, sich mit einem Ausländer zu befreunden. Aber sie wollte es erst nach dem Abitur versuchen. Denn es fiel ihr schwer, zur Schule zu gehen und sich nebenbei mit der Liebe auseinanderzusetzen. Abeng wollte sich nach dem Abitur mit der binationalen Liebe beschäftigen. Bedingung war, daß sie das Abitur bestand. Aber dann kam diese Familientragödie, die Abeng von ihrem Wunsch ablenkte. Akono Assam starb, Abengs Großvater wurde beerdigt. Das Schlimme war, daß Abeng Schuldgefühle hatte.
Akono Assam hatte auf seine Art Abeng einen Mann versprochen. Abeng wollte den Mann nicht sehen, sie haßte den Unbekannten. Seitdem ging sie ihrem Großvater aus dem Weg. Sie wollte ihn, den Dieb ihrer Freiheit, nicht mehr sehen. Aber dann kam der Menschenfeind, der Tod, der Akono Assam besiegte. Abeng befielen Schuldgefühle, sie glaubte, ihr Widerstand hätte ihren Großvater so geschwächt, daß sein Herz verzagte.
Abeng wollte alles wiedergutmachen, wollte den Unbekannten kennenlernen. Sie sagte es ihrem Vater. Wie glücklich war Assam, als er dies hörte! Assam hatte ihre plötzliche Entscheidung begrüßt. Seitdem war Abeng zurückhaltend, wenn alte Bekannte und neue Gäste ihr Liebeserklärungen machten. Sie sagte zu Paul, daß sie nicht in Stimmung war und Zeit brauchte, um wieder einen klaren Kopf zu haben. »Un peu de Discretion là!« rief ein Betrunkener, der neben Manfred stand. Der Betrunkene verlangte ›Diskretion‹, er wollte freien Raum haben, denn auch er wollte Abeng haben.
Manfred wollte sich nicht einmischen. Er wartete ab. Wenn Abeng, wie man ihm erzählt hatte, in den Schulferien hier gern freiwillig malte, dann hatte er noch mehr als eine Gelegenheit, Abeng zu begegnen.
Die Ferienzeit ging vorbei und Abeng kehrte in die Stadt der Politik zurück. Manfred nahm sich Zeit. Drei Monate vergingen. Die nächsten Ferien kamen. Wie enttäuscht war Manfred, als er an dem ersten Freitag der Ferienzeit im Kontchupé erschien und Abengs geliebten Platz auf dem Balkon leer fand! Aber dann sah er sie wieder. Es war an dem folgenden Abend. Manfred nahm sich vor, zu Abeng zu gehen und sie unter vier Augen anzusprechen. Zuerst bestellte er ein Bier, das er in einer beleuchteten Ecke der Gaststätte trank.
Abeng erkannte Manfred. Eine ungewöhnliche Schönheit! Sie sah einen schönen Mann, männlich und schön. Die Schönheit war nicht nur weiblich, sie war auch männlich. Es gab wunderschöne Männer! So war es ein Irrsinn, schöne Männer Frauen zu nennen! Für eine Weile vergaß Abeng die Tanzenden. Sie konnte es kaum begreifen. Sie konnte nicht fassen, daß sie letztes Mal Manfreds außergewöhnliche Schönheit übersehen hatte. Manfred war ein schönes Geschöpf, das selbst die Nacht nicht verbergen konnte.
Abeng fing an, Manfred zu zeichnen. Der erste Entwurf zeigte einen Mann mit ausgeprägten Zügen. Er war wie eine Traumgestalt, ein Märchenprinz, der Weiße aus abendländischen Märchen, der gleich einem Trugbild Abeng zu verwirren begann. Sie starrte den Entwurf lange an und schüttelte den Kopf. Dann versank sie in Gedanken. Sie erinnerte sich an ihren Großvater, sie wollte alles wiedergutmachen. Sie dachte an ihren Vater, sie wollte ihn nicht verletzen. Erneut starrte sie Manfred an. Ihre Blicke kreuzten sich. Wie konnte Abeng ihrem Vater das erklären? Konnte sie mit Assam darüber reden? Abeng fand keine Antwort. Völlig verwirrt steckte sie alle Stifte in die Tasche, lief die Treppe hinunter und nahm Abschied von ihrem Bekanntenkreis. Einige fragten sie, warum sie so früh ging. »Ich bin sehr müde«, antwortete sie. Bevor sie den Saal verließ, warf sie noch einen schnellen Blick auf Manfred, dessen Augen, weit offen, auf sie gerichtet waren.
Manfred war überrascht. Er verstand nicht, warum Abeng so früh wegging. Ihm schien, als ob die Malende Kontchupé für immer verließ. Manfred folgte ihr. Er wollte eine Erklärung für das ganze Theater. Er ahnte, daß er Abeng gefiel.
Draußen war die Luft kühl und der Mond nicht zu sehen. Eine Laterne beleuchtete den schmalen Weg, der zu einer dunklen Hauptstraße führte. Von fern sah Abeng die Nacht wie eine lange, feste schwarze Mauer, die sie daran hinderte zu flüchten. Abeng warf sich vor, gewagt zu haben, die Gaststätte allein zu verlassen. Bisher war sie immer in Begleitung gewesen. Wenn Abessolo den Body Guard nicht spielte, waren die vielen guten Freunde und Bekannten aus dem Viertel neben ihr. Nur so gelang es ihr, den Schatten zu entkommen, die oft ab Mitternacht draußen auf die vorübergehenden einsamen Mädchen warteten. Als Abeng die letzten Treppenstufen, die zum Hof führten, hinunter lief, war sie sehr froh, keinen zu sehen.
Es war noch zu früh. Aber kurz danach dachte sie, daß wahre Schatten ihr folgten. Denn hinter ihr kamen vier Männer, die sie in der Dunkelheit nicht gut sehen konnte. Was wollten sie? Die einmalige Gelegenheit ausnutzen? Wollten sie die Künstlerin endlich in ihrem Netz fangen? Für eine Weile hatte Abeng das Empfinden, wie in einem Traum verfolgt zu werden. Der einzige Unterschied war, daß sie ihre Füße schnell nach vorne bewegen konnte. Als sie die dunkle Hauptstraße erreichte, wurde ihr übel. ›Akono Assam!‹ rief Abeng ihren Opa innerlich. Er war weit weg, Akono Assam war im Reich der Toten. Aber eine Stimme sprach wie ein kleiner Richter in Abeng: ›Enkelin, ich habe schon jemanden für dich. Es gibt in Sangmelima jemanden namens Meva’a, der auf dich wartet.‹