Kitabı oku: «Ihr mich auch», sayfa 2

Yazı tipi:

Rhys dagegen fand, wir sollten erst einmal die nächsten Tage abwarten und gucken, wie sich alles entwickelte. Vielleicht gab es für das Verhalten der Kunzendorffs eine ganz simple Erklärung. Ich zeigte ihm einen Vogel. Das glaubte er doch wohl selbst nicht!

„Hey, Pinky!“ Drei Jungs aus der Parallelklasse drängelten sich an uns vorbei. Einer der Spinner blieb stehen und zog an meinen Haaren.

„Geile Farbe, Alter!“, tönte er. Seine Kumpels lachten.

Ich fuhr herum und wäre ihm fast ins Gesicht gesprungen. Da schob Rhys sich vor mich und nahm den Idioten ins Visier. Seine Augen sprühten Funken. „Lass Lu in Ruhe!“

Mann, war ich in dem Moment stolz auf ihn!

Der Parallelo wich zurück. „Man wird doch wohl mal testen dürfen, ob die Löckchen echt sind.“

„Verpiss dich“, zischte ich und das tat er dann auch. Finster starrte ich ihm und seinen Kumpanen hinterher, während Rhys beschwichtigend den Arm um meine Schultern legte. Erst als sie verschwunden waren, hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich weitergehen konnte. Gemeinsam beschlossen wir, zu mir nach Hause zu fahren, um dort auf meine Mutter zu warten.

Diese kam bedeutend früher heim, als wir gedacht hätten. Rhys und ich saßen gerade rittlings auf dem Dachgiebel unseres Hauses und versuchten, mit den Vorjahreskastanien in den Schornstein des Nachbarhauses zu werfen. In dem Augenblick, als ich meinen dritten Treffer landete, sah Rhys sie auf ihrem Fahrrad um die Ecke biegen.

Meine Mutter wirkte aufgelöst. Siebzig Prozent der Haarsträhnen waren aus ihrem Zopf gerutscht. So wagte sie sich normalerweise nicht unter Leute. Irgendetwas musste passiert sein und ich ahnte, dass sich ihre Laune nicht bessern würde, wenn sie Rhys und mich auf dem Dach erwischte. In Windeseile rutschten wir runter und landeten in meinem Zimmer.

„Hier“, sagte Rhys und drückte mir eine krumpelige Kastanie in die Hand. Danach hauchte er mir ein Küsschen auf die Wange und verschwand in den Flur. Zuerst war ich wie vom Donner gerührt, aber dann lächelte ich und ließ die Kastanie in meine Hosentasche gleiten.

Im nächsten Moment erschien meine Mutter im Flur. Nicht nur ihre Frisur war wirr, sondern auch ihr Blick.

„Was ist los, Mama?“

Sie ignorierte mich, lief in die Küche und riss erst einmal alle Schränke auf. Verständnislos guckten Rhys und ich uns an.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

Daraufhin brach sie zusammen. Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken, verbarg das Gesicht in beiden Händen und fing an zu heulen. Dabei stammelte sie völlig unzusammenhängendes Zeug. „Polizei“, „blutüberströmt“ und „alles vermasselt“. Ihr Gestammel trug nicht dazu bei, dass ich ruhiger wurde. Im Gegenteil.

Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie. „Mama! Jetzt erzähl endlich, was passiert ist!“ Fast klang meine Stimme genauso hysterisch wie ihre.

Rhys legte mir seine Hand auf den Arm. „Bleib locker, Lu.“

Er hatte recht. Deshalb ließ ich mich ebenfalls auf einem Küchenstuhl nieder, atmete dreimal tief durch und zählte bis dreiundfünfzig. Danach erhob ich mich und setzte Wasser auf.

Viele Tassen Tee und einen Gang zum Klo später hatten wir sie endlich so weit, dass sie uns die ganze Geschichte erzählen konnte.

Viola Kunzendorff schien etwa in meinem Alter zu sein und hatte sich von Anfang an als Albtraum eines jeden Babysitters geoutet. Von der Kunzendorffschen Haushälterin, die sich klugerweise aus allen Erziehungsfragen raushielt, hatte meine Mutter erfahren, dass sie bereits die neunte Gouvernante im Hause Kunzendorff sei. Und zwar innerhalb der letzten vier Wochen.

„Krass. Das macht einen Verschleiß von gut einem Drittel Kindermädchen pro Tag“, rechnete Rhys aus. Kein Wunder, dass der Vater inzwischen verzweifelt genug war, eine Studentin anzuheuern und ihr auch noch 120 Euro am Tag für den Job zu bieten!

Viola habe sich von Anfang an allem verweigert, berichtete meine Mutter weiter. Das Mädchen wollte weder Frühstück noch Mittagessen und ließ sich auch nicht für Gesellschaftsspiele oder einen Spaziergang begeistern. Stattdessen habe sie sich im Badezimmer eingeschlossen. Als sie nach über einer Stunde noch immer da drin hockte, brachen meine Mutter und die Haushälterin die Tür auf. Weit und breit keine Viola. Dafür ein sperrangelweit offenes Fenster.

In Panik rannte meine Mutter einmal ums ganze Haus. Nichts. Von Viola fehlte jede Spur. Sie durchkämmten die nähere Umgebung, guckten unter jeden Busch – ohne Erfolg. In dem Augenblick, als meine Mutter sich völlig aufgelöst dazu durchgerungen hatte, Kunzendorff anzurufen, klingelte es am Tor. Draußen standen zwei Polizisten mit Viola am Schlafittchen. Violas Gesicht war blutüberströmt. Meine Mutter bekam fast einen Herzinfarkt.

Das Mädchen sei dabei aufgegriffen worden, auf dem Friedhof randaliert und einen Grabstein umgeworfen zu haben, erfuhr sie. Und im Übrigen sähe die Platzwunde an der Stirn, wo sie den Stein gerammt hatte, so aus, als müsse sie dringend genäht werden. Mit diesen Worten tippten die Polizisten sich an die Mütze und verschwanden.

Ich explodierte. „Mit dem Kopf einen Grabstein umgeworfen? Die hat doch ’ne Vollmeise!“

„Du musst sie verstehen. Sie hat einen schweren Unfall hinter sich.“

„Na, toll! Und da haben sie ihr gleich das Hirn amputiert oder was?“

„Nein, aber –“

„Du hast hoffentlich gleich gekündigt!“

Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Ich hab erst mal den Krankenwagen gerufen.“

Und der war auch sofort angerauscht. Ohne großes Tamtam hatten die Sanitäter die tobende Viola eingesammelt und abtransportiert.

Danach war meine Mutter geflohen.

3

Wie eine Raubkatze im Käfig tigerte ich durch unsere Küche. Diese blöde Zicke hatte das bestimmt mit Absicht gemacht, nur um meine Mutter gleich am ersten Tag wieder loszuwerden.

„Warum kümmert sich nicht ihre eigene Mutter um diese Tussi?“

„Weil sie bei dem Unfall ums Leben gekommen ist.“

Ich hielt inne.

„Autsch“, sagte Rhys. Er saß auf dem E-Herd und ließ die Beine baumeln.

„Aha“, war das Einzige, was mir dazu einfiel, doch es machte mich nachdenklich. Blöde Sache, wenn die eigene Mutter bei einem Unfall stirbt, den man selbst überlebt hat. Allerdings war das noch lange kein Grund, sich so aufzuführen.

„Ihr Vater hätte sie lieber zurück ins Internat schicken sollen“, knurrte ich.

„Geht nicht. Zuerst muss der Arzt das Okay für die Ersatzteile geben.“

Ich warf meine Stirn in Falten. „Ersatzteile?“

„Bei dem Autounfall hat Viola einen Arm und ein Auge verloren.“

Und das erzählte sie uns jetzt erst? Mit offenem Mund starrte ich meine Mutter an. Halbwaise und nur noch ein Arm und ein Auge – vorausgesetzt, dass Viola vorher von beidem zwei besessen hatte –, das war ganz sicher nicht lustig.

„Trotzdem“, knurrte ich, nachdem ich mich von dem Schock erholt hatte, „trotzdem rufst du Kunzendorff an und sagst ihm, dass er in Zukunft auf deine körperliche Anwesenheit verzichten muss.“

Sie tat es. Sogar, ohne dass ich danebenstand und ihr auf die Finger guckte. Das hatte zur Folge, dass der gute Mann zwanzig Minuten später mit einem riesigen Blumenstrauß in der Hand bei uns vor der Tür stand. Zufällig hatten Rhys und ich seinen Audi in unseren Hof einbiegen sehen und waren vorbereitet. Kaum klingelte er, riss ich die Tür auf. „Und tschüss!“

Ich wollte sie gleich wieder zuschmeißen, doch der Typ musste Vertreter sein oder so was. Schneller, als ich gucken konnte, schob er seinen Fuß in den Spalt. Mit aller Kraft stemmten Rhys und ich uns gegen die Tür, damit er nicht reinkam.

„Hallo Luisa. Mein Name ist Kunzendorff. Ich würde gerne mit deiner Mutter sprechen. Darf ich …?“ Es klang nicht so, als wolle er ihr wegen unterlassener Hilfeleistung an den Kragen.

„Nein, die duscht grad“, behauptete Rhys.

„Was machst du denn da?!“ Das war meine Mutter, die ausgerechnet in diesem Moment nachgucken kam, was los war. Entschieden bestand sie darauf, dass ich Kunzendorff hereinließ.

Unter tausend hektischen Entschuldigungen, was zum einen mein Verhalten und zum andern die Unordnung betraf, bat sie ihn in die Küche. Die Tür drückte sie fest hinter sich zu. Keine Sekunde später klebten Rhys und ich unsere Ohren dran.

Drinnen überließ Kunzendorff nichts dem Zufall. Er fing sofort an zu reden. Für das Chaos, das seine Tochter angerichtet hatte, entschuldigte er sich mindestens ebenso wortreich wie meine Mutter zuvor für die unaufgeräumte Küche. Er erhöhte sein Angebot auf hundertfünfzig Euro am Tag. Selbstverständlich vergaß er auch nicht, den Blumenstrauß zu überreichen. Als kleine Versöhnung. Er wisse, dass nichts den Schock wiedergutmachen könne, den meine Mutter erlitten hatte. Bla, bla, bla.

Rhys und ich kriegten das Kotzen. Wenn das so weiterging, machte meine Mutter ihre Entscheidung womöglich wieder rückgängig. Das durfte nicht passieren. Schließlich hatte ich keine Lust, jeden Abend ein seelisches Wrack wieder aufzubauen!

Eine halbe Stunde später ging er. Voll des Triumphes. An der Wohnungstür verabschiedeten sie sich mit „Bis Freitag“ und meine Mutter stand, ein belämmertes Grinsen im Gesicht, so lange auf der Treppe und starrte ihm hinterher, bis der angeberische Audi vom Hof gefahren war.

Ich tobte. In der Küche riss ich die Blumen aus der Kaffeekanne und schleuderte sie auf den Boden. Dabei kippte die Kanne um und das Blumenwasser ergoss sich über den ganzen Tisch.

„Bist du jetzt verknallt oder bloß korrupt?!“

Die Gesichtszüge meiner Mutter verhärteten sich. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: „Pack deine Sachen, sonst kommst du zu spät zum Boxen.“

Ich fauchte nur und drängte mich an ihr vorbei in mein Zimmer. Dort suchte ich ein paar Klamotten zusammen, warf sie in meine Sporttasche und stürmte damit aus dem Haus.

Mit Willis Mutter war verabredet, dass sie mich zum Boxtraining mitnahm, aber nur wenn ich pünktlich an der Landstraße stand. Rhys und ich schafften es auf den letzten Drücker. Da Willi vorne saß, hatten wir hinten genug Platz.

Willi Lorenz war kein Boxer und würde nie einer werden. Er war ein Wiesel ohne Rückgrat, aber dafür mit einer Vorliebe für schmieriges Haargel. Aus verständlichen Gründen hielt seine Mutter es für nötig, dass er sich zu verteidigen lernte. Deshalb fuhr sie ihn unermüdlich an zwei Abenden in der Woche in die Stadt. Was sie während des Trainings tat, wusste niemand. Jedenfalls hatte sie es noch nie übers Herz gebracht, ihrem Sohn beim Boxen zuzugucken.

Überflüssig zu erwähnen, dass in der Halle heute eine brutale Hitze und eine Luft zum Schneiden herrschten. Der Trainer spürte meine schlechte Laune und nahm mich hart ran. Hinterher war ich klatschnass geschwitzt. Sowohl der Schweiß als auch meine neue Haarfarbe liefen mir in Strömen den Nacken runter. Zumindest fühlte es sich so an.

Rhys hatte in der Zwischenzeit Seilspringen geübt. Außerdem zählte er mit, wie oft Willi den Punchingball ins Gesicht bekam.

Als Rhys damals davon erfahren hatte, dass ich boxe, hatte er mir einen Vogel gezeigt. Und überall herumposaunt, dass er dann zum Ausgleich Ballettstunden nehmen wolle. Das zog er auch tatsächlich ein paar Wochen lang durch, bis er eines Tages mit verknoteten Beinen nach Hause kam und die ganze Sache hinschmiss. Da half selbst das pinke Tutu nichts mehr.

Kurz nach unserem Umzug aus Ghetto-Neustadt hatte mich meine Mutter auch mal zum Ballettunterricht geschleppt. Allerdings dauerte es nicht lange, bis sie einsah, dass Pirouetten und Pas-de-deux’ nicht ausreichten, um mich richtig auszupowern. Für sie lag der Sinn von Sport schließlich darin, dass ich meine überschüssige Energie loswurde, weshalb sie es auch so hasste, wenn ich mein Boxtraining verpasste.

Während wir draußen standen und darauf warteten, abgeholt zu werden, bemerkte ich, dass Willi sich bei seinem Tête-à-Tête mit dem Punchingball ein blaues Auge zugezogen hatte. Das brachte ihm vermutlich auf Wochen das Mitgefühl seiner Mutter ein, der er weismachen würde, dass er diese Verletzung im Ring errungen hatte. Ob die sich aber dadurch erweichen ließ, ihm in Zukunft das Boxtraining zu erlassen?

Ein Dröhnen näherte sich und wenig später rollte ein schweres Motorrad auf den Parkplatz. Der im Vergleich zu der Maschine eher schmächtige Fahrer bockte sie mit einiger Mühe auf, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in die Tasche seiner Jeans. Dann schob er sein Visier hoch. Als er mich sah, stutzte er. Langsam und vor Coolness strotzend kam er zu uns rüber.

Es war der Parallelo von heute Morgen. Unbewusst wich ich zurück, wo ich gegen Rhys prallte, der direkt hinter mir stand.

„War ja klar, dass du hier rumhängst“, spottete der Typ. Sein Lispeln irritierte mich.

„Ich kann rumhängen, wo ich will!“

Er lachte. „Chill, Baby!“

Das hätte er nicht sagen dürfen. Niemand nannte mich ungestraft Baby. Ich tickte aus und stürzte mich auf ihn, doch Rhys und Willi hielten mich zurück.

Der Parallelo pfiff durch die Zähne und wies mit dem Daumen auf Willi. „Ist das etwa dein Freund?“

Der ließ mich los, spuckte in den Dreck vor seinen Füßen und sagte: „Luisa hat keine Freunde.“

Dafür bekam er von Rhys eine Kopfnuss.

Trotzdem saß die Bemerkung. Ich knirschte mit den Zähnen. Schließlich war Willi auch kein Kandidat für den Titel des beliebtesten Knaben im Universum. Die Jungs mochten ihn nicht, weil er eine Petze war, und die Mädchen ignorierten ihn, weil er die glitschige Anziehungskraft eines Stücks Seife besaß.

Der Parallelo musterte Willi von oben bis unten und in seinem Blick konnte ich erkennen, dass das Bild, das er sich von ihm machte, den Nagel auf den Kopf traf. Anscheinend beschloss er, dass Willi es nicht wert sei, sich weiter mit ihm zu beschäftigen. Stattdessen widmete er sich wieder mir. „Boxt du hier?“

„Nein, ich lecke da unten nur den Schweiß von den Wänden.“

Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse und er machte ein angewidertes Geräusch. Dennoch hätte ich schwören können, dass er von meiner Schlagfertigkeit beeindruckt war.

„Mein großer Bruder trainiert hier“, informierte er mich.

War das ’ne Drohung oder ein Smalltalk-Versuch? Er erwartete doch nicht von mir, dass ich seinen Bruder kannte. Dachte er, ich hätte massenhaft Zeit, nach den Namen und Verwandtschaftsverhältnissen zu fragen, während ich die Angriffe meines Sparringpartners abwehrte?

Wie auf Kommando ging die Tür der Boxschule auf und drei ältere Typen kamen heraus. Wenn man von den kurzgeschorenen Haaren mal absah, bestanden sie nur aus Muskeln und Tattoos.

Die drei kannte ich tatsächlich. Wo deren Fäuste hinschlugen, sprudelten Blut und Tränen. Auf einmal fühlte ich mich merkwürdig unterwürfig.

Unter Gelächter verabschiedeten sich die Kerle voneinander. Der Größte von ihnen steuerte auf das Motorrad zu. Auf dem Weg dahin kam er an uns vorbei und schlug seinem kleinen Bruder mit der Pranke auf die Schulter, sodass der in die Knie ging und nach Luft schnappte.

„Hör auf zu flirten, Kleiner, und komm endlich.“

Flirten? Jeden anderen hätte ich für diesen Kommentar gekillt!

Der Parallelo trottete brav hinterher und gab seinem Bruder die Schlüssel.

„Ey, warum ist denn der Motor so heiß? Bist du etwa damit gefahren, du Penner?“

„Was kann ich dafür, wenn du deine Kiste in der prallen Sonne abstellst?“

Sein Bruder knurrte nur unwillig und schwang sich in den Sattel, woraufhin der Parallelo sich hinter ihn klemmte. Der Motor heulte auf und die Maschine röhrte vom Parkplatz. Irgendwie kam sie mir jetzt lange nicht mehr so groß und schwer vor. Bestimmt hatte der Kerl sie bloß frisiert, um anzugeben.

„Flirten! Ausgerechnet mit dir!“ Wiesel Willi schlug sich auf die Schenkel und wollte sich totlachen, doch ich verhinderte das, indem ich ihm aus meinen Augen eine Reihe Giftpfeile in den Schädel schoss. Sein Lachen erstickte. Stattdessen machte er einen Schritt zurück, stolperte und landete rücklings auf der Erde.

Im nächsten Augenblick bremste der Wagen seiner Mutter vor uns. Entsetzt stürzte sie auf ihren Sohn zu und wollte wissen, was um Himmels willen passiert sei.

„Kreislaufschwäche“, sagte Rhys trocken.

Ich presste meine Faust in den Mund, um nicht laut loszulachen.

Das Ende vom Lied war, dass Willi die Rückbank für sich allein bekam und Rhys und ich uns auf den Beifahrersitz quetschen mussten.

4

Nach ihrem Ausflug auf den Friedhof verbrachte Viola Kunzendorff zwei volle Tage in der Klinik. Am Abend vor ihrer Entlassung verbannten ihr Vater und meine Mutter sämtliche Schlüssel aus dem Kunzendorffschen Haushalt und sperrten sie in den Tresor.

Freitagmorgen stürzte sich meine Mutter mit frischem Elan in die neue Aufgabe.

Ich erklärte sie für durchgeknallt. „Und zwar total.“

„Du willst ja bloß nicht, dass ich Geld verdiene, weil du Angst davor hast, die pinke Farbe in der Drogerie bezahlen zu gehen.“

Darauf fiel mir nichts mehr ein. Beim besten Willen nicht.

Den Nachmittag verbrachten Rhys und ich damit, im Schuppen einen Sandsack zu bauen. Ich ahnte, dass ich ihn brauchen würde. Insgeheim warteten wir auf meine Mutter, doch die gab sich diesmal nicht die Blöße, frühzeitig zu Hause aufzutauchen.

Der Schuppen war das baufälligste Gebäude im ganzen Dorf. Er hatte ein Tor, das nur noch zur Hälfte aufging. Drinnen verstaubten Tonnen von Sperrmüll, angefangen bei einem kaputten Puppenwagen bis zum ausrangierten Moped.

Ich hatte ein paar alte Plastiktüten organisiert, mit denen ich von einer zweihundert Meter entfernten Baustelle den Sand besorgte. Für solche Unternehmungen war es reichlich unpraktisch, einen unsichtbaren Freund zu haben. Ich musste den ganzen Sand selbst schleppen. Zuversichtlich redete ich mir ein, dass das ein super Training sei, doch mein Rücken und meine Arme waren ziemlich bald anderer Meinung.

Stöhnend ließ ich mich auf einer mottenzerfressenen Matratze nieder und beobachtete Rhys dabei, wie er einarmige Liegestütze trainierte. Währenddessen dachte er angestrengt darüber nach, wie wir den Sandsack an der Schuppendecke befestigen sollten. Keine einfache Aufgabe, denn das Ding wurde garantiert höllenschwer.

Mit zwei leeren Plastiktüten bewaffnet marschierte ich erneut los und überließ ihm die Denkarbeit. Als ich zurückkam, hatte er einen Flaschenzug in den Staub gezeichnet und als ich von der nächsten Tour wiederkam, war er bereits dabei, die Räder von dem alten Puppenwagen abzumontieren. Ich ließ ihn machen und schleppte.

Den Sand schaufelte ich später in einen großen Plastiksack. Als der voll war, war er so schwer, dass ich ihn nicht mehr hochheben konnte.

Rhys drückte mir eine Wäscheleine in die Hand, die er in dem Gerümpel gefunden hatte. Damit sollte ich den Sack zubinden. Dann mussten wir nur noch das andere Ende der Leine über den Querbalken unter der Decke werfen und den Flaschenzug einbauen.

Wer schon mal versucht hat, ein steifes Tauende über einen Balken in dreieinhalb Meter Höhe zu werfen, weiß, wie unmöglich das ist. Nach meinem dritten Fehlversuch, bei dem mir nur jede Menge Dreck und Staub auf den Kopf rieselten, griff Rhys sich die Leine und band das Ende um einen halben Ziegelstein. Damit zielten wir nun abwechselnd, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg – von der laut klirrenden Fensterscheibe abgesehen.

Also musste ich hochklettern und die Wäscheleine per Hand über den Balken fädeln. Dazu stapelten Rhys und ich Schrott an der Wand auf. Zuunterst einen kaputten Röhrenfernseher, dann einen Stuhl, dem ein Bein fehlte, und oben drauf eine Schublade, hochkant, die wir aus einer kotzbraun gestrichenen Kommode zerrten. Obwohl die ganze Angelegenheit ziemlich wackelig war, schaffte ich es, bis oben auf die Schublade zu steigen. Von dort konnte ich nun die Schnur über den Balken schieben. Ich schob so viel nach, bis Rhys unten das Ende greifen konnte, wobei ich mich zum Glück an dem Balken festhielt.

Ich sage zum Glück, weil im nächsten Moment der Schrottstapel unter mir zusammenbrach und ich in der Luft hing. Wenn ich jetzt losließ, würde ich nicht nur nicht auf dem Boden des Schuppens landen, sondern auch noch auf einem Fernseher, einem Stuhl und einer kotzbraunen Schublade. Das versprach Schmerzen, die ich ernsthaft gewillt war zu umgehen.

„Hangele dich rüber“, schlug Rhys vor, der selbst zu substanzlos war, um mich aufzufangen. Er zeigte auf die andere Seite des Schuppens, wo die mottenzerfressene Matratze lag.

„Können vor Lachen.“ Mit zusammengebissenen Zähnen begann ich zu hangeln. Meine Arme, die heute schon mehrere Tonnen Sand durch die Gegend geschleppt hatten, protestierten. Mein Kopf und vor allem mein Hintern, der bei einem Sturz die Hauptlast würde tragen müssen, befahlen ihnen, die Klappe zu halten.

Meine Hände fingen an zu schwitzen. In dem Holzbalken steckten tausend rostige Nägel und ich betete, dass mein Tetanusschutz noch hielt. Mehr mit Willens- als mit Muskelkraft hangelte ich mich quer durch den Schuppen. Am anderen Ende des Balkens ließ ich mich fix und fertig auf die Matratze fallen.

Rhys war sofort bei mir und tastete mich von oben bis unten ab, um festzustellen, ob womöglich irgendwelche Knochen gebrochen waren. Wenn ich ehrlich sein soll, tat mir alles weh, doch das sagte ich ihm nicht. Stattdessen lehnte ich mich auf der Matratze zurück und behauptete, ich würde ihm von hier mit Genuss beim Bauen des Flaschenzugs zusehen.

Ich musste eingenickt sein, denn als ich das nächste Mal hochsah, war der Flaschenzug fertig.

„Tä-däää!“

Ich sprang auf und betrachtete das Kunstwerk. Zugegeben, es sah ziemlich instabil aus, aber Hauptsache, es funktionierte. Rhys und ich packten das lose Ende der Wäscheleine und zogen probehalber. Mit dem Erfolg, dass die Leine vom zugebundenen Ende des Plastiksackes abrutschte und in die Höhe schnellte.

Wir fingen sie wieder ein und befestigten sie mit allen Seemannsknoten, die unsere Fantasie hergab.

Erneut begannen wir zu ziehen. Diesmal hielt die Leine. Langsam richtete sich der Sandsack aus seiner liegenden Position auf, mit jedem Ruck ein bisschen mehr. Von der Anstrengung brannten meine Arme wie Desinfektionsmittel auf einer Schürfwunde. Ich presste die Lippen fest aufeinander und atmete nur noch stoßweise.

„Hau-ruck! Hau-ruck!“, trieb Rhys uns an.

Ich zog. Und er zog. Inzwischen stand der Sack aufrecht. Ich schwitzte am ganzen Körper. Die Wäscheleine schnitt in meine Finger. Ich schlang sie mir einmal um die Hand, damit ich nicht abrutschten konnte. Nachdem ich meine Kraft gesammelt hatte, zogen wir weiter.

Der Sandsack hob sich vom Boden. Die Leine hielt. Wie im Rausch packten wir erneut zu. Doch im nächsten Moment platzte der Plastiksack von dem Gewicht seines Inhalts und der ganze Sand klatschte auf den Boden. Gleichzeitig landeten Rhys und ich auf unseren vier Buchstaben, von wo wir einen erstklassigen Ausblick auf die Bescherung hatten.

Der kaputte Müllsack und die Wäscheleine lagen auf einem Sandhaufen mitten im Schuppen. Die Kinderwagenräder rollten in alle Himmelsrichtungen davon.

„Scheiße!“

Rhys legte mir seinen Arm um die Schulter. „Mach dir nichts draus, Lu.“

Ich schüttelte ihn ab. Fast hätte ich geheult.

Nur weil er dabei war, riss ich mich zusammen.

Stattdessen rappelte ich mich auf, griff nach der geplatzten Plastiktüte, wickelte die Wäscheleine drum und stürmte aus dem Schuppen.

Draußen pfefferte ich die unzuverlässigen Utensilien in eine Mülltonne. Der Sandhügel konnte bleiben. Im Laufe der Zeit würde er sich platttreten. Ich hatte jedenfalls keine Lust, ihn wegzuräumen.

Jetzt gab es nur eine Sache, die ich tun wollte, die ich immer tat, wenn ich mit meinen Gedanken allein sein musste. Ich kletterte auf den Kastanienbaum. Obwohl meine Arme sich beschwerten, kletterte ich so hoch ich konnte und setzte mich oben in eine Astgabel. Zuerst zögerte Rhys, doch dann folgte er mir und hockte sich irgendwo gegenüber hin. Durch das dichte Blätterwerk konnte ich ihn kaum sehen, was ganz gut war. Wir schwiegen lange.

Mir kam etwas in den Sinn. Ein Zitat von Henry Ford, einem Amerikaner, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt und eine Fabrik gegründet hatte, in der die ersten Autos am Fließband hergestellt wurden. Der Mann hatte einmal gesagt, es gäbe mehr Leute, die aufgaben, als solche, die scheiterten.

Gerade hatten wir, Rhys und ich, in der Sandsack-Sache aufgegeben und das ärgerte mich maßlos. Ich nahm mir vor, nie mehr so leicht zu kapitulieren. Nie mehr.

„Aber wo hört aufgeben auf?“, gab Rhys zu bedenken.

Manchmal ließ ich ihn meine Gedanken erraten. Das war das Privileg eines unsichtbaren Freundes. Dennoch runzelte ich die Stirn. Was meinte er?

„Naja, wo hört aufgeben auf und wo fängt scheitern an? Bei zehn Fehlversuchen? Bei hundert? Bei tausend?“

Hm. Berechtigte Frage: Wie oft musste man etwas versuchen, bis man definitiv gescheitert war?

Ich fand keine Antwort darauf und Rhys auch nicht. Außer der Erkenntnis, dass Lebensweisheiten, die auf den ersten Blick wirklich clever klangen, einer näheren Betrachtung nicht unbedingt standhielten.

Wir blieben so lange da oben, bis in den meisten Wohnzimmern die Fernseher angingen. Als Rhys und ich die Treppe ins Dachgeschoss hochtrampelten, war meine Mutter längst zu Hause. Ich fragte sie nicht, wie es heute mit Prinzessin Viola gelaufen war. Ihrem Gesicht konnte ich ansehen, dass sie mich sowieso nur anlügen würde. Das – plus meine noch immer schwelende Sandsack-Frustration – und ich beschloss, heute lieber ohne Abendbrot ins Bett zu gehen.

5

Das Erste, was meine Mutter mir am nächsten Morgen an den Kopf knallte, war, dass wir zum Abendessen bei Kunzendorffs eingeladen waren.

Ich flippte aus. „Wenn du dich unbedingt mit diesen Geisteskranken verbrüdern willst, meinetwegen. Aber lass mich dabei gefälligst aus dem Spiel!“

Nach diesem Statement stürmte ich aus der Wohnung. Das war voreilig, zugegeben. Zu kein Abendbrot gesellte sich jetzt nämlich auch noch kein Frühstück. Spätestens gegen Mittag würde ich meine übereilte Flucht bereuen.

Rastlos irrte ich durch die Gegend. Bald konnte ich nur noch an eins denken: Hunger. Aus einem Garten ergatterte ich heimlich eine Handvoll Erdbeeren. Aber nachdem ich sie verschlungen hatte, war ich hungriger als vorher.

Ich rannte los, querfeldein. Marathonläufer trainierten auch auf nüchternen Magen. Doch der Hunger verfolgte mich. Und er war schneller als ich. Es hatte keinen Zweck. Ich wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Mitten auf einem Acker.

Hoffnungsvoll durchwühlte ich sämtliche meiner Cargohosentaschen nach vergessenen Geldstücken. Alles, was ich fand, war die krumpelige Kastanie, die Rhys mir geschenkt hatte. Perplex starrte ich sie an.

Aber dann schloss ich meine Hand und meine Augen. Obwohl sie verschrumpelt war, fühlte die Kastanie sich glatt an. Und warm.

Ich wünsche mir, dachte ich, ich wünsche mir, dass gleich eine dick belegte Salamipizza vor mir auftaucht.

Zuerst traute ich mich kaum zu blinzeln und schnupperte nur. War das nicht tatsächlich der Geruch von geschmolzenem Käse? Und von kross gebackenem Teig? Mir lief das Wasser im Mund zusammen und ich riss die Augen auf.

Fehlanzeige. Das Einzige, was vor mir auftauchte, war Rhys. Ihm war anzusehen, dass er genauso schlecht gelaunt war wie ich.

„Mann, Lu“, spottete er kopfschüttelnd. „Du hast doch nicht im Ernst gedacht, dass das eine magische Kastanie ist? Eine, die Wünsche erfüllt?“ Er legte seine flache Hand auf meine Stirn, als wolle er testen, ob ich Fieber hatte. Gleich darauf zog er sie wieder zurück und wedelte damit durch die Luft.

„Ich hab halt Hunger“, murmelte ich, als sei das eine zufriedenstellende Erklärung für mein kindisches Verhalten.

Verlegen stopfte ich die krumpelige Kastanie zurück in meine Hosentasche und meine Hände gleich hinterher. Dann setzte ich mich wieder in Bewegung, quer über den Acker. Rhys folgte mir. Klar, dass er schlechte Laune hatte. Schließlich war er mein Spiegelbild. Meine einzige Hoffnung bestand darin, dass ihm etwas einfiel, das mich auf andere Gedanken brachte. Und dieser Einfall ließ glücklicherweise nicht lange auf sich warten.

Hinter dem Acker kam eine Weide. Um die Weide herum befand sich ein Graben. Rhys nahm Anlauf und sprang drüber.

„Nachmachen“, forderte er mich von der anderen Seite auf. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Der Graben war ziemlich breit, doch das war mir egal. Ich nahm Maß und sprang. Es reichte nicht. Ich landete schräg und rutschte ab. PLATSCH.

Rhys zog mich aus der Brühe. Mist, verdammter! Doch ich hatte mir schließlich gestern geschworen, nicht mehr so leicht die Flinte ins Korn zu werfen.

Also probierte ich so lange, bis ich es endlich schaffte. Dafür brauchte ich siebzehn Versuche. Meine Füße und Schuhe waren hinterher klatschnass, meine Knie aufgeschürft und verdreckt, aber ich hatte nicht aufgegeben. So komisch das klingt – danach ging es mir besser.

Zum Trocknen legte ich mich auf die nächste Wiese. Dort schlief ich ein, und das war dumm, weil mein Magen so nicht merkte, dass wir das Mittagessen jetzt ebenfalls verpassten.

Gegen Abend kamen Rhys und ich wieder nach Hause. Von Kratzern übersät, mit schlammverkrusteten Beinen und mörderisch hungrig. Meine Mutter schien nicht da zu sein. Wahrscheinlich war sie ohne mich zu Kunzendorffs gefahren. Umso besser.

Wir durchwühlten die Küche nach etwas Essbarem. Doch die Regale waren so leer wie ein Supermarktparkplatz am Sonntag. Nur mein Bauch war leerer.

Das änderte sich allerdings schnell. Er füllte sich mit Wut. Wut auf meine Mutter. Und es hatte nichts mit Nachgeben oder Schwäche zu tun, wenn ich ihr jetzt folgte, sondern ausschließlich mit Überlebenswillen. Deshalb stürzte ich aus der Wohnung und schwang mich auf die ratternde Rostlaube. Rhys joggte nebenher und hatte Mühe, mit mir Schritt zu halten.

Meine Mutter und Kunzendorff erwarteten mich schon. Damit, dass ich an ihnen vorbei ins Haus stürmte, schienen sie jedoch nicht gerechnet zu haben. Die Entsetzensschreie meiner Mutter wegen der Schlammspritzer in meinen pinken Haaren ignorierte ich großzügig.

Vor dem gedeckten Tisch blieb ich stehen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Am liebsten hätte ich mich gleich auf die Köstlichkeiten gestürzt, doch Rhys wies mich darauf hin, dass Viola fehlte.

Im nächsten Moment hörten wir ein Klirren aus dem Nachbarzimmer. An Kunzendorffs gequältem Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass dort niemand anders als Prinzessin Viola ihr Unwesen trieb.

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