Kitabı oku: «Im Schatten des Burn-outs»

Yazı tipi:

Pina Petersberg ist Psychiaterin und Psychotherapeutin mit langjähriger

klinischer Erfahrung. Fantasievoll angereichert schreibt sie in verfremdeter

Form und unter Pseudonym, inspiriert durch die unterschiedlichsten

biografische Erfahrungen. Alle Namen und Orte wurden geändert.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. Sie können sich

nicht wiedererkennen.

Pina Petersberg

IM SCHATTEN DES

BURN-OUTS

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Lektorat: Dr. Gregor Ohlerich

Titelfoto © Peter Atkins - Fotolia

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

ERDBEERE TRIFFT AUF BOMBENALARM

Eigentlich sollte es am Sonntag mit Freunden ein Spargelbuffet mit Erdbeeren zum Brunch geben, aber alles kam ganz anders.

Unser Büro im dreitausend Mitarbeiter starken Biokoka-Konzern erinnerte in seiner dreieckigen Konfiguration mit zwei aufeinandertreffenden großen Glasfronten an ein Schiffsbug, von uns auch entsprechend dekoriert. Ein holzgeschnitzter Fisch mit glänzenden Schuppen schwamm virtuell in der Fensterbank, als Segelmast diente der kahle, hoch aufgeschossene Stamm einer Yuccapalme in der Mitte und ein buntes Feng-Shui-Fähnchen wehte von der Decke und störte gelegentlich sehr große männliche Kunden, die dann irritiert nach oben schauten, obwohl sie sich schon selbst am Zenit der starren Hierarchie des Konzerns wähnten. An den Wänden auf ihrer Seite hatte meine freundliche und stets auf Harmonie bedachte lockenköpfige Kollegin Dina Postkarten mit Meeresblick in unterschiedlichen Stimmungen platziert, auf meiner Seite gab es ein Poster mit der Schiffsbibliothek in meinem Rücken. Adäquat für unser Ambiente erachtete ich den Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, sehr passend zu Licht und Schatten in unserem Konzern auch die Aufteilung in eine Kriegs- und eine Friedensseite. Als unser Firmament diente also die Verherrlichung Karls VI., dessen Fresko die Mittelkuppel zierte, das Bild gehalten von Herkules und Apoll. Ein weiteres Bild zeigte unsere Meerespferde, die nicht von Göttern gebändigt wurden, sondern ähnlich Lipizzanern bei der Morgenarbeit Kapriolen vollführten, Bocksprünge als Veredelung des Auskeilens aus dem natürlichen Kampfverhalten, wie schon zu Xenons Zeiten 400 v. Chr. im antiken Griechenland.

„Das schönste Büro”, lobte unser sonst etwas griesgrämiger, vom Frust der Jahre blass gewordener Seniorchef anerkennend wie Neptun auf dem Muschelwagen und wirkte einen flüchtigen Moment lang fast jugendlich.

Heute war die Stimmung düster, denn Regengüsse trommelten gegen die teilweise undichten, schon etwas blinden Fensterscheiben und formten unaufhörlich Rinnsale mit Überresten von unansehnlichen, schmutzigweißen Taubenexkrementen.

Es klopfte an der Bürotür und herein schoss unsere große, sommersprossige Nachbarin Roswitha mit der neumodischen Fliegenpilzkopf-Frisur, ebenfalls eine langjährige, liebgewonnene Kollegin.

„Hallo Pina, hallo Dina, ihr Lieben! Ich habe Erdbeeren für euch aus dem Garten geerntet, die kann ich unmöglich alle selbst essen.“

Sie platzierte stolz ihre Ausbeute auf unseren mit Akten überladenen Schreibtischen und wir tauschten kurz die wichtigsten Neuigkeiten vom Wochenende aus.

Plötzlich zerriss ein hoher, heulender Sirenenton die Idylle, noch ehe wir uns bedanken konnten. Ein Dauerton.

„Nanu, es war doch gar keine Übung geplant“, murmelte ich, während wir rasch unsere Aktentaschen, Autoschlüssel und Regenschirme ausgruben, um dem schwatzenden, durch die Korridore eilenden Pulk von Mitarbeitern zu folgen, durch das Treppenhaus bis zur Drehtür im Erdgeschoß, vor der sich eine gehorsame Schlange gebildet hatte.

„Ob es doch ernst ist?“, fragten wir uns.

Ich drückte die mittige Glastür zwischen den beiden Drehtüren auf, sodass sich die Schlange auflösen konnte und ins Freie kroch und die schnatternden Gespräche unweit vom Firmengebäude im Regen unter bunten, hastig aufgespannten Schirmen fortsetzte. Während ich nach vertrauten Gesichtern suchte, forderten die Notfallkoordinatoren durch Sprachrohre energisch auf: „Die Sammelstellen bitte umgehend in gebührendem Abstand vom Firmengebäude aufsuchen!“

Glücklicherweise stand mein Auto dort, sodass ich mich mit Kollegin Ilse zurückziehen konnte, schon deutlich durchnässt. Wir erfuhren, dass es sich wohl um eine Bombendrohung handelte. Polizisten mit Spürhunden suchten fieberhaft das Gebäude ab, während wir beschlossen, uns im benachbarten Teehaus aufzuwärmen. Während meine klammen Hände den Becher mit Chai-Latte umfassten, um die wohltuende Wärme aufzusaugen, sinnierten wir über Sinn und Zweck dieses plötzlichen Intermezzos.

„Da muss wohl jemand sehr ärgerlich auf unseren vorbildlichen, mehrfach preisgekrönten Konzern gewesen sein“, vermutete die mir gegenübersitzende Ilse stirnrunzelnd, die selbst sehr ehrgeizig war und entsprechende Karrierepläne verfolgte, aber noch nicht so recht zum Zuge gekommen war.

„Wundert dich das?“, hub ich an, um aufgestautem Ärger Luft zu machen, jäh meine Tirade abbrechend, als ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, dass wir uns keinesfalls unter uns befanden, sondern in höchst wichtiger Gesellschaft mit der obersten Konzernleitung am Nachbartisch. Wir waren immerhin marktführend im Bereich biologischer Softdrinks und diverser Leckereien.

„Achtung“, zischte ich und schlürfte hastig die Reste des Milchschaumes in meinen knurrenden Magen, bevor wir bezahlten und höflich grüßend das Feld räumten. Als angestellte Psychiaterin gehörte ich schon seit fast zwei Jahrzehnten zum Inventar des Konzerns und war stets bemüht, die Etikette zu wahren und nicht aufzufallen. So kleidete ich mich eher schlicht und sportlich.

Nach unserer Rückkehr zur Sammelstelle erfuhren wir, dass die Geschäftsführung uns für heute freigab, da die Suche nach Sprengstoff zwar bisher nicht erfolgreich verlaufen wäre, aber uns aufgeweichten Pudeln andere gesundheitliche Gefahren wie eine erneute Epidemie der Schweinegrippe drohen könnten. Bereits im letzten Jahr hatte diese das Unternehmen durch eine Verdoppelung der Arbeitsunfähigkeitszeiten, darunter sogar von drei wichtigen Führungspersönlichkeiten, erheblich geschwächt. Tatsächlich klebten mir die vor Feuchtigkeit klammen Jeans samt T-Shirt auf der Haut und meine Pumps quietschten vor Nässe bei jedem Schritt. Eilig versteckte ich beides unter einem grau-violetten Blazer, der einzig trocken geblieben war, da er im Auto zurückgeblieben war.

Am nächsten Morgen war es zunächst ein beklemmendes Gefühl, in das verlassene Gebäude zurückzukehren, aber rasch vertrieb die gewohnte alltägliche Routine sorgenvolle Befürchtungen. Die Erdbeeren waren allerdings teilweise verschimmelt und mussten entsorgt werden, sodass die Spargelvariationen am Wochenende nicht mit frischer, sonnengereifter Ernte garniert werden konnten, sondern wir mit wässrigen Treibhausfrüchten vorliebnehmen mussten.

GENERALVERSAMMLUNG MIT PANTHER

Pünktlich um 9 Uhr 30 schlug Yolanthe, die elegante Chefsekretärin, leicht wankend auf hochhackigen, schwarzen Lackschuhen den gewohnten Gong. „Biing“ hallte es sekundenlang durch die grauen, trostlosen Flure und mahnte uns zur Versammlung im Saal Alpha. Auch dieser Saal zeichnete sich durch eine beklemmende Atmosphäre aus, nur elektrisch durch Halogenleuchten notdürftig illuminiert, fensterlos. Auf dem Rednerpodium thronte nicht der Chef der Illuminati, sondern der Geschäftsführer, ebenfalls ein Perfektibilist, der sich die Verbesserung und Vervollkommnung des Betriebes zum Ziel gesetzt hatte. „Panther nannten wir ihn, weil er – einmal in Rage versetzt – brüllen konnte wie ein flammenspeiendes Wappentier. Eigentlich hieß er Herr Dr. Pantwitz. Er konnte dem Gegner sowohl heimlich auflauern, als auch sich der Anschleichjagd bedienen, um ihm so nahe wie möglich zu kommen. Die reflektierende Schicht seiner grünlich schimmernden Netzhaut spiegelte uns das fahle, künstliche Licht zurück. Der Vorhang seiner Pupille schob sich nur manchmal auf und ein Bild berührte sein Herz, aber meist erstarb es schnell in all dieser emotionalen Leere. Niemanden ließ er in seine Seele blicken. Er verharrte regungslos, für uns ein Monument von Stärke, Gerissenheit, aber auch kriegerischem Mut – und doch ein bisschen gefangen wie hinter Gitterstäben inmitten gesellschaftlicher und selbst auferlegter Zwänge.

Wir verteilten uns im Halbkreis, ehrfürchtig und gespannt. Zur Rechten die Juristen, die Elite des Hauses, deren Kopf Panther bildete, links das Fußvolk, die Mediziner, mittig die Ingenieure und Chemiker. Es war mucksmäuschenstill, ein beklommenes Schweigen, das nichts Gutes zu verheißen schien. Ich versuchte, hinter der barock proportionierten, durchsetzungsstarken Kollegin Mopsie dezent in Deckung zu gehen.

Panther hob seine in relaxtem Zustand sonore Stimme: „Guten Morgen. Ich begrüße Sie zu unserer heutigen außerordentlichen Generalversammlung.“ Die Mediziner würdigte er nur kurz mit einem prüfenden, abschätzenden Blick, der mich erschaudern ließ. „Wie Sie aus unserem letzten Rundbrief erfahren haben, ist wichtige Vorarbeit auf der Führrungsebene bereits am letzten Wochenende in einer sehr errgiebigen Sondersitzung geleistet worden, in welcher innovative Führrungsstrategien auf den Prrüfstand gestellt und zielführend adaptiert worden sind“. Wie um seiner Rede Nachdruck zu verleihen, rrollte er das „r“, sodass es zunächst gräulich, fast grollend klang, bis dieser Grauschleier wich und bei dem Wort „Führung“ einem selbstzufriedenen Schnurren glich. Ein stolzes, kaltes Lächeln huschte über sein sonst so bewegloses Gesicht.

Alsbald berichtete er ausführlich über die jüngste wirtschaftliche Strategie des Konzerns, seine Konsolidierungspläne für die gespannte Marktsituation und die jüngsten Absatzeinbrüche bei der Vermarktung unseres innovativen Fitnessdrinks „Biokoka“. Neue Forschungsinitiativen der Mediziner und Chemiker gemeinsam seien erforderlich, um den Geschmack noch unwiderstehlicher zu gestalten und vor allem, das Versprechen maximaler Leistungsfähigkeit und bio-psycho-physischer Resilienz bei sozial- und umweltbedingten unvorteilhaften Genexpressionen nach dem Genuss einzulösen. Die Ingenieure schließlich sollten dringlich alle technischen Geräte für die Produktion des Lebenselixiers einer eingehenden Prüfung und Rationalisierung unterziehen. Eine noch wirksamere Werbekampagne müsse ins Leben gerufen werden, da Kunden offensichtlich auf preisgünstigere, wenn natürlich auch weniger effektive Konkurrenzpräparate ausgewichen wären.

„Neptun“, schloss er mit Nachdruck, „nun bitte eine Analyse der Sicherheitsvorkehrungen während des Bombenalarmes.“

Neptun fuhr zusammen und war sichtlich schlecht vorbereitet. „Äh“, setzte er zögerlich an, nach den passenden Worten ringend. „Zunächst: Die Alarmierung und Evakuation aller Beteiligten klappte ja reibungslos.

„Fehlermeldung“, meldete sich ein älterer, hagerer Jurist unter den grauen Eminenzen mit schriller, aufgeregter Stimme zu Wort und bekam einen Flush, sodass er Sekunden lang aussah wie eine überreife Tomate, die zu platzen drohte, ehe er sich wieder mausgrau entfärbte. „Ich habe Pina beobachtet, wie sie die mittige Glastür zwischen den Drehtüren aufstieß, nachdem sich trotz der Notfallsituation bereits Mitarbeitertrauben aufgereiht hatten.“

„Hört, hört“, ging ein Raunen durch die Menge, und „Unerhört“, schrie Panther erbost. „Die Drehtüren sind in Notfällen bei sofortiger Dispensation strengstens untersagt!“ Sein strenger Blick schweifte erneut sorgsam prüfend in die Runde. Es gab kein Entrinnen.

„Pina!“

Leider hatte er mich hinter der barocken Kollegin entdeckt, die sich nun müde in ihrem Stuhl zurücklehnte und so den Blick auf mich freigab. Ich drehte mich etwas seitlich, um mich weniger zu exponieren, nichts Günstiges ahnend.

„Pina!“, wiederholte Panther mit Nachdruck und einer Nuance Ironie, indem er plötzlich den zuvor aufgebrachten Tonfall wechselte. „Das war Spitze. Ich erwarte von Ihnen, das Sie von nun an alle Qualitätsmanagementmaßnahmen für die Werbekampagne in Ihre zarte Hand nehmen, damit sich auch bei den Kunden und Kundinnen in Zukunft Tür und Tor öffnen.“

Alle Augen richteten sich fragend auf mich. Da mir die von meinem Mandelkern signalisierte Flucht aus diesem düsteren Innenraum unmöglich war, blieb nur die sekundenlange Erstarrung als Relikt eines Totstellreflexes.

Nach wiedergewonnenem Erwachsenenmodus antwortete ich gehorsam und fast unterwürfig mit „Ja, Herr Dr. Pantwitz“.

Durch dieses Intermezzo hatte Neptun merklich an Zeit und Sicherheit gewonnen. Die meist freundliche, attraktive, brünette Juniorchefin Edeltännchen, kürzlich frisch gekürt, schob ihm rasch den jüngsten Notfallplan unter, den er mit monotoner Stimme rezitierte, bis Panther barsch unterbrach.

„Papperlapapp, alles irrelevant!“ Und: „Fahren Sie bitte fort, Edeltännchen“. Diese ließ sich nicht lange bitten. Nicht umsonst hatte sie das strenge Assessment bestanden, während ich im Stressinterview von einer ebenfalls anwesenden, mehr farblosen als grauen Eminenz namens Fade aufgrund mangelnder affektiver Schwingungsfähigkeit aussortiert worden war. (Unmöglich hatte ich affektiv differenziert auf diesen Langweiler reagieren können.) Edeltännchen war Ökonomin und schwang optimal mit allen Alphatieren. Selbst Panther zeigte sich beeindruckt von ihrem Know-how, ihrer Wortgewandtheit und ihrem frischen Auftreten. Nur initial zitterte sie bei ihrer PowerPoint-Präsentation etwas vor Anstrengung, fing sich aber zunehmend.

„Macht PowerPoint nicht dumm?“, zischelte Trixi mir zu, eine hoch aufgeschossene, staksige Kollegin, die trotz guten Appetits magersüchtig wirkte und stets auf Krawall gebürstet war. Insgeheim vermutete ich bei ihr eine Schilddrüsenüberfunktion und beschloss, sie bei der nächsten Gelegenheit dezent an eine diesbezügliche Laborkontrolle zu erinnern. Panther jedoch war durch Edeltännchens Vortrag sichtlich besänftigt und erinnerte mich an eine große, satte Katze, die sich nach dem Verzehr eines besonderen Leckerbissens zufrieden die Lefzen leckte.

Aber es gab noch einen weiteren kleineren Zwischenfall. Unter „Sand im Getriebe“ meldete sich die energische Betriebsärztin Gesine mit ihrem strengen, grau melierten Knoten am Hinterkopf zu Wort. Sie hatte herausgefunden, dass zur Personalgewinnung inzwischen eine Zulage gewährt wurde.

„Ich erwarte von Ihnen eine Anpassung unserer Gehälter und zwar nach Alter und Erfahrung gestaffelt.“

Der Haarknoten vibrierte aufgrund ihrer Anspannung. Nun, sie hatte die satte Raubkatze unmittelbar nach ihrer Siesta erwischt. So nahm Panther diese Forderung ruhig, scheinbar gelassen zur Kenntnis.

„Wir werden sehen“, äußerte er fast verbindlich und forderte mit bewährter, hoheitsvoller Handgestik die Mannschaft auf, sich wieder dem laufenden Tagesgeschäft zu widmen. Die Mediziner zogen gehorsam die Köpfe ein. Als ich verstohlen hinter mich blickte, entdeckte ich nur noch die stumme Masse der Arbeitnehmerüberlassenen, auch „Anüs“ genannt, in sackförmigen, wahlweise beigefarbenen oder grauen Kitteln, die uns an Resignation bei Weitem übertraf.

HELENAS ABSCHIED

Bezeichnenderweise schrieben wir Freitag, den 13., zweieinhalb Jahre in der Zukunft. Sollte das ein böses Omen sein? Nur eine Stunde bekam ich in der Mittagspause vom Ersthelferkurs frei, um die Abschiedsfeier einer langjährigen befreundeten Kollegin zu besuchen. Sie war nur zwei Jahre älter als ich und verabschiedete sich wie die meisten der erfahrenen Kollegen in Altersteilzeit. Danach war Schnitt und nichts ging mehr in Bezug auf Frühpensionierung. Aufgrund des Spezialistenmangels war diese Regelung zwar für ihre Günstlinge ideal, die „Hinterbliebenen“ ließ sie allerdings mit Bergen von zu erledigender Arbeit zurück, die neben der Schulung jüngerer Kollegen wartete. Insgesamt so sinnvoll wie eine Drohne, die nicht starten konnte, auf einem Flugplatz, auf dem man nicht landen konnte. Verantwortlich fühlte sich niemand.

Wir feierten also mit einer gebührenden Portion Galgenhumor.

„Abschied ist ein scharfes Schwert. Es kann alles nur besser werden“, witzelte Trixi und lächelte ironisch tänzelnd, als wolle sie nicht wahrhaben, was für eine schmerzliche Lücke jeder weitere Abschied reißen würde. Betroffen sah ich sie an. Bekanntlich konnten Ironie und Zynismus Symptome der Überforderung und des beginnenden Burn-outs sein. Tatsächlich erschien sie mir heute besonders ausgemergelt, hohlwangig und zerbrechlich, aber ich wagte es nicht, sie darauf anzusprechen. Sie konnte zickige Hiebe austeilen, wenn man ihrem verletzlichen „inneren Kind“ zu nahekam.

Helenas fürsorglicher Mann Peter, ebenfalls Mediziner und ehemaliger, schon pensionierter Kollege, hatte durchblicken lassen, dass demnächst gemeinsame Spanienreisen geplant seien. So hatten die Sekretärinnen ein wunderschönes spanisches Ambiente dekoriert mit entsprechenden Fotos und Postern aus den weißen Dörfern in Andalusien an der strahlenden Costa de la Luz, das königliche Granada vor den schneebedeckten Gipfeln der Sierra Nevada an den Wänden, Deko in andalusischer Folklore. Helena wirkte feurig mit ihrer roten Rose im dauergewellten, schwarzen Haar und trug ein knallrotes, eng tailliertes Chiffonkleid, mit dem sie den Hauch von Trauer abzuwehren schien, der in ihren dunklen Augen schimmerte. Im Hintergrund erklang Salsa-Musik und unser Tanzlehrer Semino mit den elastischen Beinen und dem mexikanischen Hut, der seine kleine, ovale Glatze am Hinterkopf geschickt kaschierte, und seine rassige Begleiterin mit dem verführerischen Lächeln gaben uns einen Einführungskurs zu fröhlichen lateinamerikanischen Klängen. Ein Fotoalbum aus unserem gemeinsamen Arbeitsleben lag auf dem Gabentisch, auf den ersten Seiten Helena im blühenden Alter von fünfundzwanzig Jahren zu Beginn ihrer Karriere. An der Eingangstür prangte ihr Bild als süßes, glatzköpfiges Baby, nur ein schwacher, dunkler Flaum ließ ihre spätere Lockenpracht erahnen. Es gab Tapas und Sangria, spanische, apart gewürzte Köstlichkeiten mit reichlich „Ajo“ für ein langes, gesundes Leben.

Schließlich läutete die leitende kräftige Sekretärin mit dem Spitznamen „Mutter“ mit Nachdruck ein bronzenes Glöckchen, das Signal für die Redner. Zunächst trat Neptun ans Podium.

„Ich lasse Sie ungern gehen, nach so vielen Jahren des fleißigen, unermüdlichen Einsatzes. Es hatte immer Hand und Fuß, was Sie entschieden“, hub er pathetisch seine Lobeshymne an und schaute Beifall heischend in die Runde. Es folgte ein höfliches Klatschen. Dann schilderte er und lobte Helenas von Erfolg gekrönten Werdegang, bedauerte ihr Ausscheiden und bedankte sich in feierlichen Worten, um ihr alles Gute zu wünschen. „Ich möchte Sie nicht gehen lassen“, beharrte er und wirkte hilflos wie ein verlassenes Kind, das sich zurück an die nährende Mutterbrust wünschte.

Da ich mir ebenfalls die Erlaubnis für einen Beitrag geholt hatte, las ich „Die spanische Tänzerin“ von Rainer Maria Rilke. Die Gelegenheit am Ende nutzte ich gern, mit „kleinem Fuß“ aufzustampfen und Helena und uns Hinterbliebenen auch weiterhin eine glückliche innere und äußere Balance zu wünschen – trotz Helenas Rollenwechsel zur Rentnerin und drohender personeller Engpässe hier im Konzern. Ein wenig eng ums Herz wurde mir bei diesen Worten und dem bevorstehenden beruflichen Abschied schon. Etwas beneidete ich sie auch darum, in Zukunft sich ganz ihren interessanten Hobbys widmen zu dürfen. Tröstlich, dass wir uns schon am Wochenende zum Brunch wiederträfen.

Semino wirbelte mit seiner zierlichen Begleiterin ein akrobatisch anmutendes Solo mit schwindelerregenden Spins, ein Crescendo und Decrescendo und schließlich ein letztes she goes. „Der Generationenwechsel“, wie Panther es beschrieb, nahm seinen Lauf. Nur wuchs nichts Neues nach.

Jäh erstarben die fröhlich ausgelassenen Klänge, als ein lautes, dumpfes Klopfen an der Tür die mediterranen Träume durchbrach. Liliane, die zweite Geschäftsführerin stöckelte auf modischen Pumps, natürlich im Tiger-Design, auf die Bühne, dazu passend ihr förmliches schwarzes Chanel-Kostüm und ein gesprenkeltes Seidentuch auf braunem Untergrund um den welken, leicht faltigen Hals geschlungen, das ihr eine geschmeidige Eleganz – wie auf Samtpfoten – verlieh. Der Dresscode stimmte exakt. Ihre blondgefärbten, dünnen Haare waren sorgsam gestriegelt. Ein biederer Seitenscheitel ließ die blasse Kopfhaut durchscheinen und kontrastierte mit ihrem gelblich-braunen, dick aufgetragenen Make-up. Ihre etwas wulstigen, zu stark geschminkten, weinroten Lippen erinnerten an einen Schmollmund, der bessere Zeiten erlebt hatte, doch die schlaffen, nach unten gerichteten Winkel ließen Bitterkeit, Enttäuschung und Härte vermuten. Ihre kalten, wässrig blauen Augen verrieten keinerlei menschliche Regung. Insgeheim taufte ich sie Tiger-Lilly, und tatsächlich, die Dressurnummer ließ nicht auf sich warten.

„Panther wünscht hier keine Fiesta“, äußerte sie in bestimmten Ton, der keine Widerrede duldete, und schüttelte ihre strähnige Haarmähne zur Verstärkung, was wenig überzeugend wirkte und ihre emotionale Kargheit noch unterstrich. „Die Stempeluhren sind entsprechend zurückgestellt, sodass Sie Gelegenheit haben, die ausgefallene Produktion bis heute Abend nachzuarbeiten.“ Prüfend schaute sie in die Runde, jeden von uns taxierend, und blieb schließlich an Helena hängen. „Ihre Karte wurde bereits deaktiviert. Ich begleite Sie gern durch das Check-out. Alle Lücken werden von unseren Headhuntern gefüllt.“

Rasch umarmte ich Helena. „Wir sehen uns“, raunte ich ihr zu. Wir rückten unsere Masken ins rechte Licht und innerhalb von Sekunden löste sich die Versammlung auf. Der Catwalk war vorerst beendet.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
270 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783961450411
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