Kitabı oku: «Ich bin Virginia Woolf», sayfa 2

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3
Maman

In ihrer Erinnerung war das Leben mit Maman ein einziges Fest gewesen, das einem den Boden unter den Füßen rauben konnte. Mama wollte nicht mit Mama angesprochen werden, sondern mit Maman. Sie behauptete, in Paris aufgewachsen zu sein. Auch durften die Kinder Papa nur spanisch mit Papá ansprechen. Nachts malte Maman grellbunte Bilder, deren Motive sie auf ihren Reisen durch exotische Länder im Kopf gesammelt hatte. Urwaldbilder mit prächtigen Tieren, Südseepanoramen, Labyrinthen und Mandalas. Es waren Bilder untergegangener Kulturen, wie die der Mayas in Mexiko. Die ganze Villa hing voll mit diesen Bildern, und überall standen welche herum. „Bald können wir nicht mehr laufen“ sagte Papá und lachte dabei, denn er liebte Maman und hätte sie allein wegen ihres Spleens geheiratet. Er vernachlässigte die Firma, die Mamans Vater gegründet hatte, und schleppte Maman von einer Reise zur nächsten. Während dieser Zeit kochte Großmutter für die Kinder. Woher das Geld für all die Reisen kam, interessierte Maman herzlich wenig. Hauptsache, Papá war bei ihr. Manchmal fuhr Maman auch alleine nach Sylt. Wegen ihres Asthmas, wie sie sagte. Auch dann kam Großmutter und kochte.

Eines Nachts, Inka war ungefähr acht Jahre alt gewesen, war sie aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Sie kletterte in ihrem weißen Nachthemd, das mit schönster Stickerei versehen war, aus dem Kinderbett und stieg die lange Treppe hinab, um auf die Suche nach Maman zu gehen. Sie fand ihre Mutter im Wintergarten konzentriert vor einer Leinwand sitzend. Ihr rotes, volles Haar hatte sie wie immer mit einem grünen Samtband zu einem pompösen Turm aufgebunden. In ihrem blassen Gesicht leuchteten die Sommersprossen durch das hereinfallende Mondlicht wie winzige Diamanten. Madam la Souris, ein Mausmaki, den Maman in ihrer Handtasche illegal aus Madagaskar eingeschmuggelt hatte, saß ihr auf der Schulter.

Als Inka wie ein kleiner Geist in der Tür erschien, rollte Madame la Souris mit den Augen, während Maman nicht einmal aufsah. Sie war so sehr in das Bild vertieft, an dem sie arbeitete, dass sie nicht mehr von dieser Welt zu sein schien.

„Maman, ich kann nicht schlafen!“ rief Inka zaghaft.

Das Gesicht ihrer Mutter zeigte keinerlei Regung. Sie war offensichtlich in einer anderen Dimension gelandet. Nun, das hatte nichts geholfen, also ging Inka noch näher heran. Madame la Souris schaute sie mit großen Augen an. Inka hatte sie am Anfang nie streicheln können, da sie nur auf Maman fixiert war. Jetzt streckte sie die Hand nach dem Äffchen aus und strich ihm mit einer leichten Bewegung über den Kopf. Madame la Souris gab einen murmelnden Laut von sich, richtete ihre Riesenaugen auf Inka und schien zu grinsen.

„Maman, Madame la Souris hat mich angelacht!“ rief Inka.

Ihre Mutter lies den Pinsel sinken und drehte den Kopf herum: „Mein Schatz, was machst du denn hier? Es ist nach Mitternacht!“

„Ich kann nicht schlafen, Maman!“

„Sieh dir dieses Bild an. Ich male gerade, wie ich Papá auf der Insel Gili Montang vor einem Komodowaran gerettet habe. Er war drauf und dran, deinem Papá den Kopf abzubeißen. Weißt du, was ich gemacht habe? Ich habe ihn mit einem Brocken Fleisch geködert. So war er beschäftigt, und Papá und ich konnten fliehen. Ist das nicht wunderbar? Papá muss man ständig retten, er ist viel zu waghalsig.“

„Danke für die Geschichte, Maman. Darf ich jetzt Madame la Souris mit zu mir ins Bett nehmen? Damit ich schlafen kann?“ „Madame la Souris muss alleine schlafen. Ich bringe sie gleich in ihr Gehege. Aber, mein Schatz, du weißt, dass ich immer alle rette. Dich, Papá, Rolande, und alle, die mir lieb sind.“

Maman gab Inka einen Kuss auf die Stirn: „Geh jetzt ins Bett, Liebes, du musst keine Angst haben.“

Inka streichelte Madame la Souris noch einmal sanft über den Hinterkopf und ging wieder nach oben. Der Vollmond warf einen riesigen Schatten-Komodowaran auf ihre Bettdecke, aber Inka hatte keine Angst mehr. Maman war ja da, und Madame la Souris, die von Maman auch zärtlich „kleiner Schattengeist“ genannt wurde, schlief jetzt auch.

4
Esbit

Von einer ihrer vielen Reisen durch Mexiko hatten die Eltern einen Amazonenpapagei mit nach Hause gebracht. Maman kaufte ihm eine Stange, auf der er sitzen sollte, und brachte sie mitten im Wohnzimmer an. Die Flügel des Papageis waren bereits in Mexiko gestutzt worden, so dass er nicht davonfliegen konnte. Sein Gefieder war durchgehend knallgrün, nur auf der Stirn hatte er einen roten Fleck. Dieser schillernde Vogel war nun der Chef der Familie, was Rolande zur Weißglut brachte, denn das Tier forderte die volle Aufmerksamkeit aller Familienmitglieder ein. Blieb diese für eine Weile aus, konnte man sicher sein, dass er bald von einer Mauer fiel und sich ein Bein brach. Oder er landete mit dem Fuß auf einer Schraube und verletzte sich daran. Von allen Seiten kam dann Mitleid, so dass er wieder zufrieden war.

Als der Vogel einmal volle drei Wochen lang im Mittelpunkt stand, weil er wegen eines verstauchten Beines immer mit der Hand auf seine Stange gesetzt und wieder herabgenommen werden musste, setzte Rolande sich einen Tag lang vor ihn hin und sagte in halbminütigem Abstand „Arschloch“ zu ihm. Da diese Papageienart sehr gelehrig ist was das Sprechen betrifft, sagte der Vogel noch am selben Abend zum ersten Mal „Arschloch“. Maman war begeistert: „Jetzt haben wir endlich einen Namen für unseren Chef. Er soll Monsieur Connard heißen.“ Rolande bekam vor Wut einen roten Kopf. Das verdammte Viech war noch weiter ins Zentrum der Familie gerückt.

Monsieur Connard lernte schnell weitere Wörter und ahmte mit der Zeit sogar das Klingeln des Telefons nach. Einmal hatte Rolande deshalb sogar nach dem Hörer gegriffen. Wütend warf er einen der ebenfalls aus Mexiko importierten kleinen Dias de los Muertos-Totenköpfe nach dem Vogel. Der kreischte, plusterte sein Gefieder auf und sagte, diesmal besonders deutlich: „Arschloch“.

Maman tat es leid, wenn der Vogel an seiner Stange angebunden war, weshalb sie öfters die Kette von seinem Fuß löste. Dann flatterte er mit gestutzten Flügeln quer durch das Wohnzimmer. Zwar kam er nicht besonders weit, doch es reichte immerhin, um auf Rolandes Schultern zu landen und ihm kräftig ins Ohrläppchen zu hacken. Rolande war groß und kräftig gebaut, hatte braune Augen und blonde Haare. Ganz der Großvater mütterlicherseits. Papá sagte öfter, Rolande mache alles nur mit Kraft, was nicht viel nützen würde gegen einen Vogel. Besonders schlimm war es für Rolande, dass der Papagei keinerlei Respekt vor seinem Klavier zeigte. An der Stelle, wo das Pedal herausschaute, hatte er mit seinem harten Schnabel bereits eine tiefe Kerbe ins Holz geknabbert. Als würde es ihn stören, dass Rolande viel zu häufig das Pedal gebrauchte. Auch sonst schien der Vogel ein Gespür für Musik zu haben. Wenn Rolande das Ave Maria von Bach spielte, fiel Monsieur Connard jedes Mal in traurigem Singsang mit ein. Maman und Papá kümmerte die Sache mit dem Klavier wenig, doch Rolande, der auf alle seine Habseligkeiten sehr genau achtgab, war verzweifelt. Er hasste den Vogel wie die Pest, und Inka fragte sich oft, wann er ihm den Hals umdrehen würde.

Im Gegensatz zu Rolande, den er überhaupt nicht mochte, liebte der Papagei Papá ganz besonders. Jedes Mal, wenn dieser telefonierte, kam er angeflattert und hängte sich kopfüber an die Stange des Telefontischchens, den Bauch nach oben gedreht. In demutsvoller Haltung legte er sich dann auf den Rücken, und Papá musste ihm mit dem Zeigefinger den Bauch kraulen. Wenn Rolande diese Szene beobachtete, kam ein gefährliches Grollen in sein Gesicht. Maman hingegen brach in Lachtränen aus und presste unter Kichern hervor: „Da haben sie uns wohl in Mexiko ein Weibchen statt eines Männchens verkauft.“

Es war der 24. Dezember, Heiligabend. Wie immer hatte Maman die Osterdekoration herausgeholt, mit den Kindern Ostereier bemalt und den riesigen Stoffhasen dort platziert, wo an Ostern der Christbaum stand. Maman hielt nichts von Traditionen, weshalb sie einfach alles umdrehte: Weihnachten war Ostern, und Ostern war Weihnachten. Für die Kinder hatte sie bemalte Eier und Geschenke versteckt. Rolande hatte in einem Pflanzenkübel im Wintergarten eine Dampfmaschine gefunden, die er mit freudigem Grinsen ins Wohnzimmer trug. Papá half ihm, das Ding in Gang zu bringen. Im Grunde war Papá, ebenso wie Maman, noch ein kleines Kind. Er freute sich fast noch mehr als Rolande über die Dampfmaschine. Bald konnte man ein Zischen hören, und weißer Dampf entstieg der Maschine, nachdem Papá mit Esbit ein Feuer entfacht hatte. Das waren kleine, weiße Brennstoff-Tabletten, die Hexamethylentetramin enthielten. Monsieur Connard hüpfte aufgeregt um den Kessel herum, was ihm jedoch zum Verhängnis werden sollte. Als Inka am ersten Weihnachtsfeiertag morgens das Wohnzimmer betrat, lag Monsieur Connard reglos auf dem Rücken, die Beine weit gespreizt nach oben gereckt neben der Dampfmaschine. Er musste sich an den Dämpfen vergiftet haben. Die Dampfmaschine wurde daraufhin in den Keller verbannt. Für Rolande waren diese Weihnachten trotzdem die glücklichsten seiner Kindheit. Eine Riesenlast war von seinen Schultern gefallen.

5
Yr

Inka erwachte mit dem Gedanken, dass heute eine Mathearbeit anstand, und da sie nicht dafür gelernt hatte, drehte sie sich noch einmal in ihrem Bettchen um und lauschte dem Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte.

Die Vorhangschnur, die der Wind durch das gekippte Fenster bewegte, schliff geräuschvoll auf dem Sims hin und her. Sie konnte die Geräusche des erwachenden Hauses hören, denn im ganzen Haus gab es keine Türen. Maman hatte sie eines Tages alle aushängen lassen, damit, wie sie sagte, ewiger Friede in der Familie herrsche. Inka hörte, wie Rolande in der Küche die Kühlschranktür öffnete, um sich seine Milch über die Cornflakes zu gießen. Wie jeden Morgen bereitete er sich sein Frühstück alleine zu. Maman und Papá schliefen noch, da sie erst spät in der Nacht heimgekommen waren.

Plötzlich flitzte Madame la Souris in Inkas Bettchen. Ihr war offenbar langweilig, da Maman noch nicht wach war. Seit einiger Zeit musste sie nachts nicht mehr in ihr Gehege und durfte sich frei im Haus bewegen. Für die Zeit, in der Maman nicht da war, hatte sich Madame la Souris Inka als Ersatz auserkoren. Das Äffchen patschte ihr mit der Pfote ins Gesicht, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Inka setzte sich im Bett auf, und Madame la Souris kletterte ihr auf die Schulter. Sie angelte nach ihren neuen, pinkfarbenen Leggings mit Totenkopfmuster, die Maman ihr aus Mexiko mitgebracht hatte. Dazu den giftgrünen Wollrock, der so gut zu ihren roten Haaren passte und ihre grünen Augen widerspiegelte. Schließlich noch den schwarzen Pulli, auf dem in weißen Lettern stand: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“ Sie hörte, wie unten die Haustür zuschnappte. Rolande war auf dem Weg zur Schule. Er war der einzige in der Familie, der Disziplin hatte. Obwohl Maman immer zu ihm sagte, er könne ruhig zu Hause bleiben, wenn es ihm nicht gut ging, schleppte er sich auch mit einer schweren Erkältung in die Schule. Inka hingegen hatte sich entschieden, heute zu Hause zu bleiben, denn wenn sie diese Mathearbeit vergeigte, würde sie am Ende des Schuljahres durchfallen.

In der Küche durchforstete sie den Kühlschrank nach etwas Essbarem. Im oberen Regal standen fünf kleine, weiße Doggybags vom gestrigen Abendessen der Eltern. Offenbar waren sie beim besten Chinesen der Stadt gewesen. Inka freute sich. Ihr Mittagessen war gesichert, selbst wenn Maman wieder erst nach ein Uhr aufstehen würde. Rolande hatte auf der Küchenplatte geschnittenes Obst hinterlassen. Inka füllte es in zwei Schälchen und setzte sich an den Tisch. Madame la Souris sprang hinzu und begann ebenfalls genüsslich zu fressen. Nach dem Fressen war sie wie immer müde und verschwand in ihrer Baumhöhle, um dort den ganzen Tag zu schlafen. Maman hatte für sie einen Baum aus einer Gärtnerei bringen lassen, der in einem riesigen Topf stand und bis unter die Zimmerdecke reichte. Damit Madame la Souris kein Heimweh nach Madagaskar bekommt, hatte sie gesagt. Der Baum stand mitten im Wohnzimmer, genau an der Stelle, wo früher der Papagei gesessen hatte.

Papá war um elf in die Firma verschwunden. Gegen eins kam Maman in ihrem grünen Bademantel ins Wohnzimmer, wo Inka in einem Buch las, das sie sich aus Mamans Bücherecke genommen hatte. Es trug den nicht gerade viel versprechenden Titel „Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen“, doch es erzählte von einem Mädchen namens Deborah, die ihrer Wirklichkeit entfliehen konnte, indem sie sich eine Phantasiewelt mit Namen „Yr“ erschuf.

Inka war so fasziniert von der Geschichte, dass sie kaum wahrnahm, wie sehr Maman sich freute, sie hier vorzufinden. Wie schön, dass sie heute Gesellschaft hätte! Endlich mal einer da. Kein Wort darüber, dass Inka offensichtlich die Schule schwänzte. Sie machte sich eine Kanne Kaffee und zündete sich ihre Morgenzigarette an.

„Sag mal, was liest du denn da? Das ist noch nichts für dich, Inka. In diesem Buch geht es um Schizophrenie.“

„Was heißt das, Schizophrenie?“

„Eine Geisteskrankheit. Das ist nicht lustig, und du solltest so etwas nicht lesen. Bring mir lieber mein Tagebuch und meine Brille. Dann lese ich dir eine unserer Reisegeschichten vor.“

Inka war gerade an einer spannenden Stelle und hatte keine Lust, das Buch wegzulegen. Doch Mamas Geschichten waren nicht weniger phantastisch als das, was Deborah in Yr erlebte. Also gab sie das Buch zurück und ging eine von Mamans vielen Brillen suchen, die überall im Haus herumlagen. Sie schnappte sich eine, holte das Tagebuch und brachte beides Maman. Die setzte sich die Brille auf und wollte gerade anfangen zu lesen, als sie die verschwommenen Buchstaben bemerkte. „Inka, das ist die falsche Brille. Such mal die mit dem grünen Rand.“

Neben etlichen Lesebrillen hatte Maman auch ein paar Weitsichtbrillen für die Ferne. Inka hatte wohl eine von denen erwischt. Zwischen den Buchseiten des Bestsellers „Sorge dich nicht, lebe!“ von Dale Carnegie, der im Klo auf dem Fensterbrett lag, fand Inka schließlich eine Lesebrille, und Maman konnte mit ihrer Geschichte beginnen.

Einmal waren Papá und ich auf der Südseeinsel Nuku Hiva in Französisch-Polynesien. Dort verliefen wir uns im Urwald. Es wurde immer dunkler und dunkler, bis schließlich die Nacht über uns hereinbrach. Wir liefen weiter und stolperten über Wurzelwerk, während aus dem Dickicht unheimliche Tierschreie klangen. Papá presste seinen Tropenhelm mit beiden Händen auf den Kopf, als ob er Angst hätte ..... Der Schein unserer Taschenlampen wurde immer schwächer. Plötzlich war lautes Rascheln zu hören. Wie versteinert blieben wir stehen, die Äste bogen sich auseinander, und im Schein unserer Lampen standen drei Männer mit brauner Haut, schwarzen Haaren und weißen Streifen im Gesicht. Völlig nackt! Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, dann gingen sie auf uns los. Sie fesselten uns die Hände auf dem Rücken und banden uns an zwei Bäumen fest. Nachdem sie unter lautem Geschrei mehrmals im Kreis um uns herumgetanzt waren, verschwanden sie so plötzlich wie sie gekommen waren zwischen den Bäumen.

Ich flüsterte Papá zu, dass ich in einem Buch über Menschenfresser gelesen hätte. Die drei, die uns gefangen hielten, sähen genauso aus wie die. Sie würden uns wie Hühnchen grillen und dann verschmausen. Papá bekam es mit der Angst und fing an zu jammern. Das könne ja nicht sein, so etwas dürften sie nicht tun. Ich dagegen, was machte ich? Meine Finger konnte ich noch frei bewegen, sie reichten bis in meine Hosentasche. Dort hatte ich vorsorglich ein Nageletui mit einer kleinen Schere eingesteckt. Jetzt fingerte ich fieberhaft in der Hosentasche herum, bis es mir gelang, das Necessaire zu öffnen. Ich bekam die Schere zwischen die Finger und sägte so lange an meinem Seil, bis es riss. Als ich frei war, band ich auch Papá los, und wir rannten was das Zeug hielt in die andere Richtung durch den Urwald. Erst im Morgengrauen erreichten wir den Strand mit unserer Unterkunft. Beinahe hätten wir nicht wieder zurückgefunden. Aber Papá sagt immer, mit mir als Beistand könne ihm nichts passieren.

„Und? Hat dir die Geschichte gefallen, Inka?“

„Ja, sehr.“

Während Maman zufrieden ins Bad verschwand, suchte Inka fieberhaft nach dem Buch, das sie vorhin gelesen hatte. Es war nicht mehr zu finden. Maman musste es irgendwo versteckt haben.

Die Haustür ging auf, und Rolande kam völlig durchnässt vom Regen herein. Er ließ Jacke und Tasche im Flur fallen, eilte sofort zum Kühlschrank und krallte sich die Doggybags mit Shrimps, die Inka am liebsten mochte. „Deine Klassenlehrerin ist mir heute auf dem Flur begegnet. Sie hat gesagt, du musst die Mathearbeit nächste Woche nachschreiben.“

Grinsend wischte er sich die nassen Haare aus dem Gesicht und stopfte sich alle Garnelen auf einmal in den Mund.

6
Im Urwald

Inka warf sich in ihrem Bettchen von einer Seite auf die andere und konnte nicht einschlafen. Aus dem Wintergarten dröhnte laute Musik herauf, dazu mischten sich die grellen Schreie von Madame la Souris. Normalerweise war Maman am Vorabend ihrer Sylt-Reise besonders ruhig und ausgeglichen, und Inka hatte erwartet, zum Abschied noch eine ihrer schaurigen Gute-Nacht-Geschichten mit Happy End zu hören. Doch heute Abend war alles anders. Maman war nicht nach oben gekommen. Sie schien sich auch nicht im Mindesten um den Lärm zu kümmern, den sie machte. Die Boxen waren voll aufgedreht, und Maman sang laut zu Me and Ms. Jones von Billy Paul mit. Inka war beunruhigt, traute sich jedoch nicht aufzustehen und nach ihr zu sehen. Also blieb sie liegen. Gegen Mitternacht hörten die Geräusche auf, und Inka fiel in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen war Maman wieder ganz die Alte. Sie packte, die Melodie von Me and Ms. Jones pfeifend, ihre Koffer und setzte sich dann gut gelaunt an den Frühstückstisch. Inka bemerkte, dass Mamans Stimme heiser war. Deswegen fahre sie ja immer nach Sylt, entgegnete Maman. Wegen ihres Asthmas. An der Nordsee herrsche ein wohltuendes Reizklima für ihre kranken Bronchien. Während Maman dies sagte, schnitt Rolande Grimassen, als ob er ihr kein Wort glaube. Papá wies ihn zurecht und bat ihn, damit aufhören. Er duldete niemals ein schlechtes Benehmen gegen Maman und nahm sie bei jeder Gelegenheit in Schutz. Maman selbst kümmerte es wenig, ob Rolande sie ernst nahm oder nicht. Sie war in Erzähllaune, und so kam Inka doch noch zu ihrer Abschiedsgeschichte.

In Nordindien gab es um das 19. Jahrhundert herum eine Tigerin mit Namen Champawat. Sie hatte nicht weniger als vierhundertsechsunddreißig Menschen getötet und es damit ins Guiness-Buch der Rekord geschafft. Im Jahr 1907 wurde sie von Jim Corbett erschossen. Vor fünf Jahren waren Papá und ich in Nordindien unterwegs, und zwar in Rajasthan, das ist an der Grenze zu Pakistan. Wir reisten mit einem kleinen Zweimann-Zelt, was nicht gerade komfortabel war. Als wir unser Lager eines Tages in Jodhpur aufschlugen, erzählten uns andere Touristen, dass sich ein menschenfressender Tiger in der Gegend aufhielt. Er hätte bereits zehn Menschen getötet. Papá glaubte die Geschichte nicht und ging wie jeden Abend ruhig schlafen. Ich dagegen erinnerte mich an Champawat und hob vor unserem Zelt eine fünf Meter tiefe Grube aus. Auf ihren Boden legte ich eine Brocken blutiges Fleisch und deckte die Grube mit Ästen zu. Dann ging ich zu Papá ins Zelt und wartete. Gegen Morgen wurde ich belohnt. Zuerst hörte ich ein lautes Fauchen, dann ein tierisches Gebrüll. Papá richtete sich erschrocken im Bett auf: „Der Menschenfresser!“ Ich sagte nur: „Du wolltest es ja nicht glauben.“ Ich öffnete das Zelt und trat in den grauen Morgen hinaus. Die Äste über der Grube waren durchbrochen. Ich schaute in das Loch. Da hatte ich doch tatsächlich den Tiger gefangen! Wütend fauchte er mich aus seiner Falle an, aber er hatte keine Chance, herauszukommen. So hoch kann kein Tiger springen. Nach Tagesanbruch kam die indische Polizei. Der Menschenfresser wurde erschossen, ich aber wurde am Abend bei einem riesigen Fest, das die Inder mir zu Ehren gaben, als Heldin von Jodhpur gefeiert.

Maman reiste ab, und Großmutter kam, um zu kochen. Wenn sie da war, gab es geregelte Mahlzeiten: Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. Als Maman drei Wochen später von ihrem Aufenthalt auf Sylt zurückkam, war ihre Stimme noch heiserer als bei ihre Abreise. Sie wirkte erschöpft und erschien noch versunkener in sich selbst als sonst.

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