Kitabı oku: «Marthas Boot», sayfa 2
Als die Mädchen am nächsten Morgen aufwachten, hegte Fiona für einen Moment die Hoffnung, ihre Tante wäre in der Nacht zurückgekehrt. Als sie in den Flur schaute und die Zimmertür ihrer Tante weiterhin offenstand, beschloss sie, nachzusehen. Das Bett war unberührt und ein Rundgang durchs Haus bewies, dass die Tante nach wie vor nicht da war.
Fiona stellte erneut Müsli und Milch auf den Tisch. Obwohl sie sicher war, dass ihre Tante nichts dagegen haben würde, hatte sie ein komisches Gefühl, die Lebensmittel ohne ihre Erlaubnis zu verbrauchen. Nachdem die Schwestern heruntergekommen waren, machten sie es sich in den bequemen alten Stühlen auf der Veranda gemütlich. Es roch nach Kiefern, Erde und nach dem Meer. Sie waren noch nie an einem Ort gewesen, der so roch. Es war weder wie im Dschungel noch wie in der Wüste und auch nicht wie in der Stadt. Es roch nach Frühling, ein Prickeln lag in der Luft, als brächte der Wind frische Energie für neue Pläne – voller ungeahnter Möglichkeiten.
«Mom hat immer wieder gesagt, wie seltsam sie ist», meinte Marlin. «Vielleicht gehört es zu den seltsamen Dingen dazu, dass sie einfach ohne Vorwarnung verschwindet.»
«Wir könnten die Nachbarn fragen», schlug Natasha vor.
«Hat sie überhaupt welche?», fragte Charlie, denn vor ihren Augen erstreckten sich nur eine riesige eingezäunte Wiese sowie rundum Kiefernwald, während hinter dem Grundstück Berge aufragten.
«Sie muss doch irgendwelche Nachbarn haben», erwiderte Marlin. «Wir können sie nur von hier aus nicht sehen. Nach dem Frühstück sollten wir rübergehen und bei ihnen klopfen. Vielleicht hat sie jemandem gesagt, wohin sie gegangen ist.»
Die Mädchen räumten das Frühstück ab, kümmerten sich um das Geschirr, machten die Betten und zogen sich an. Dann gingen sie auf die Straße hinaus. Charlie hielt die ganze Zeit Fionas Hand, blickte unverwandt in den Wald und wartete auf Bären. Als Erstes stießen sie auf ein kleines freies Grundstück, auf dem ein Wohnwagen stand. Ein Fliegengitter hing halb losgelöst an einem Fenster, die Stufen, die zur Tür führten, waren kaputt, und auf der Wiese standen ein alter Kühlschrank und eine Badewanne.
«Vielleicht sollten wir nochmal weitergehen», schlug Natasha nervös vor, als ein großer Mann mit einem ungepflegten weißen Haarschopf, der ein schmutziges Unterhemd und eine zerrissene Hose trug, die Fliegengittertür aufriss und die Mädchen böse ansah.
«WAS?», schrie er. «Wer seid ihr?»
«Unsere Großtante wohnt nebenan», antwortete Fiona.
«Jetzt nicht mehr», sagte der Mann. «Hat sich vor zwei Tagen begraben.»
Fiona verließ der Mut. Obwohl sie sich die ganze Nacht die schlimmsten Dinge ausgemalt hatte, war sie auf diese allerschlimmste Möglichkeit nicht gekommen.
«Man kann sich nicht selbst begraben», sagte Marlin unfreundlich. Sie war die Einzige von den Vieren, die kratzbürstig wurde und sich streiten wollte, wenn ihr jemand quer kam. «Wie soll das gehen?»
«Meine Mutter hat gesagt, sie hat sich in den Wäldern versteckt», erklärte Natasha.
«Sie hat sich nicht in den Wäldern versteckt, sie war nur keine, die was auf Klatsch und Tratsch gab», erwiderte der Mann. «Sie hat mit keinem geredet. Ich war zwölf Jahre ihr Nachbar und wir haben kaum ein Wort gewechselt. Sie mag – mochte die Menschen nicht.»
«Was meinten Sie damit, dass sie sich begraben hat?», fragte Fiona höflich.
«So wie ich es sage. Nicht körperlich natürlich, wenn du das meinst. Ihre Leiche hat sich keine Schaufel gegriffen oder den Sarg in der Erde versenkt, bevor sie reingesprungen ist.»
Angesichts dieser drastischen Beschreibung zuckten die Mädchen zusammen.
«Sie hat alles vorbereitet, das wollte ich damit sagen. Es gab niemanden, der sich gekümmert hat. Anscheinend hatte sie zu niemandem Vertrauen. Sie hat ein Grab auf dem Friedhof von St. Mary’s By the Sea gekauft. Der Grabstein wurde schon fünf Jahre vor ihrem Tod aufgestellt. Das ging einigen Leuten zu weit, sie fanden das krankhaft. Sie behaupteten, ihnen würde ein Schauer über den Rücken laufen, wenn sie jeden Tag auf dem Weg in die Stadt an ihrem wartenden Grabstein vorbeikämen. Aber eure Großtante hat sich der Wirklichkeit immer gestellt. Sie wusste, dass man in unserem Alter einfach so sterben kann.» Er schnippte mit den Fingern. «Und genauso war’s. Sie ist im Baumarkt tot umgefallen. Schwerer Herzinfarkt. Ist nur sechzig geworden, aber sie hat alles geregelt. Sie hatte einen Bestatter beauftragt, ihr Testament gemacht und ihre Papiere geordnet. Da sie wusste, dass nur wenige Leute zu ihrer Beerdigung kommen würden – Moment – seid ihr deshalb hier? Nein, ihr seid nicht zur Beerdigung gekommen. Wetten, dass ihr nicht einmal wusstet, dass sie tot ist? Ihr seid die vier, die sie erwartet hat.»
«Ich dachte, Sie hätten nie mit ihr geredet», entgegnete Marlin.
«Marlin …», sagte Fiona warnend.
«Tja, ihr seid zu spät gekommen.» Er überging Marlins Einwurf. «Wie gesagt, sie ist tot. Sie hat mir ihr altes Angelzeug und euch das Haus und alles andere hinterlassen. Vor zwei Wochen hat sie ihr Testament geändert. Wenn ihr nicht aufgetaucht wärt, hätte ich alles geerbt. Aber das ist mir egal. Hiram Pennypacker, ihr Möchtegern-Anwalt, hat mich gestern telefonisch informiert. Er wusste anscheinend nicht, dass ihr kommt. Er wollte nämlich herausfinden, wie er euch die Nachricht von eurem Erbe zukommen lassen kann. Ich hole das Angelzeug in den nächsten Tagen aus eurem Schuppen.»
«Wieso Sie?», fragte Marlin.
«Weil das Angelzeug jetzt mir gehört», antwortete er in Zeitlupe, als wäre Marlin ein bisschen beschränkt.
«Nein, ich meine, warum hat sie es Ihnen hinterlassen?»
«Marlin …», warnte Fiona erneut.
«Wieso, er hat gesagt, er kannte sie kaum», gab Marlin zu bedenken. «Deshalb ist die Frage berechtigt. Warum sollte man jemandem etwas vererben, den man nicht kennt? Und wenn es nur das Angelzeug ist? Wieso sollte man ihm überhaupt etwas vererben?»
«Niemand kannte sie. Und mich kennt auch keiner. Dafür habe ich keine Zeit. Ich habe sie gewarnt, vier Kinder aufzunehmen, aber sie ließ sich nichts sagen. Sie war …» Mit einem Mal war der Mann sprachlos – offenbar vor Rührung –, drehte sich um und knallte die Wohnwagentür zu.
«Nun ja», stammelte Fiona, während sie in einer Mischung aus Schock und der Erwartung, der Mann würde wieder hervorkommen und seinen Satz beenden, wie angewurzelt stehen blieben. Er kam aber nicht. «Ich würde sagen, der Zweck unseres Besuches hat sich erfüllt. Wir wissen jetzt, warum sie nicht zum Flughafen gekommen ist, um uns abzuholen.»
Sie gingen wieder nach Hause. Als wäre es ihr gerade eingefallen, meinte Marlin unten an der Einfahrt: «Damit sind wir genau so weit wie vorher. Beim Jugendamt.»
Charlie heulte los und bekam einen Schluckauf. «Dann bringen sie uns weg? Wir können nicht mehr zusammen bleiben?»
«Doch», sagte Fiona. «Sie bringen uns nicht weg. Wir besitzen jetzt ein eigenes Haus. Wir wohnen nicht nur zur Miete. Da Tante Martha uns alles vererbt hat, bedeutet das sicher auch, dass noch irgendwie Geld zu dem von Mommy und Daddy hinzukommt. Wir müssen rausfinden, wie das alles funktioniert. Dafür sollten wir uns wohl mit ihrem Anwalt Mr Pennypacker treffen. Das Geld muss auf ein Konto überwiesen werden, so wie damals, nachdem Mommy und Daddy gestorben sind. Mrs Weatherspoon hat mit Tante Martha darüber gesprochen, wie das alles angelegt ist, und ich habe es selbst auch irgendwo schriftlich. Unser Geld von Mommy und Daddy liegt auf der Canadian Imperial Bank of Commerce, die eine Filiale in St. Mary’s By the Sea betreibt. Im Moment können wir davon bestimmt ganz gut leben, vielleicht sogar recht lange, bis wir alt genug sind, um zu arbeiten.»
«Wie wär’s, wenn wir Mrs Weatherspoon anrufen und ihr berichten, wie es gelaufen ist?», schlug Natasha vor.
«Nein», entgegnete Fiona nachdenklich. «Obwohl ich glaube, dass sie ein schlechtes Gewissen hätte, würde sie dennoch das Jugendamt informieren.»
«Also haben wir keinen Erwachsenen», stellte Marlin fest. «Meinst du nicht, dass jemand was dagegen hat?»
Fiona dachte nach. Wer wäre in diesem Fall dieser Jemand? Beim letzten Mal war es die Kirche gewesen, doch die Kirche war nicht mehr für sie zuständig, oder? Diese Leute hatten sie sicher in einem neuen Heim bei einer Verwandten untergebracht und damit ihre Pflicht erfüllt. Wenn die Mädchen niemandem erzählten, dass kein Erwachsener bei ihnen wohnte, wer sollte dann davon erfahren? Wer sollte sich dafür interessieren, was von nun an aus ihnen wurde?
«Schreiben wir nochmal Briefe? An die Tanten und Onkel und flehen sie an, dass einer von ihnen uns aufnimmt? Vielleicht sollten wir ihnen Geld anbieten?», meinte Marlin halb im Scherz.
Fiona schwieg kurz. Etwas, das gerade gesagt wurde, hatte sie auf eine Idee gebracht, aber sie bekam sie nicht richtig zu fassen, so betäubt war sie von diesem neuerlichen Hindernis, das ihnen im Weg stand.
«Nicht weinen, Charlie. Ich glaube, ich habe eine Idee. Sie muss nur noch ein wenig reifen.»
«Was sollen wir bloß machen?», wimmerte Charlie, ohne auf Fionas Ermahnung, nicht zu weinen, einzugehen.
«Erstmal erkunden wir unseren neuen Besitz. Wir schauen nach, was es in den Schränken zu essen gibt, und wenn es Trockenhefe und Mehl gibt, backe ich ein Brot. Mom hat immer gesagt, die besten Ideen wären ihr beim Teigkneten gekommen. Wisst ihr nicht mehr, dass sie das immer als Erstes getan hat, wenn wir irgendwo neu eingezogen sind? Damit das Haus genauso roch wie all unsere anderen Häuser davor? Sie hat gesagt, Brotbacken riecht überall gleich, ganz egal, wo man landet.»
«Einverstanden!», rief Charlie.
Die nächste Stunde verbrachten sie damit, ihr Grundstück zu erforschen. Sie stießen auf einen Obstgarten in einer Ecke der eingezäunten Wiese, auf der noch weitere Bäume standen und auf mehrere große Unterstände.
«Die sehen aus wie Ställe. Anscheinend hatte sie irgendwann mal Pferde», meinte Natasha. «Schade, dass keine mehr da sind.»
«Pferde können wir uns nicht leisten», sagte Fiona. «Ich fürchte, wir müssen sehr sparsam mit dem Geld umgehen. Ich habe mich kaum damit befasst, wie viel Geld wir haben, weil Mrs Weatherspoon sich um alles gekümmert hat, und weil ich dachte, wenn wir hier sind, wäre Tante Martha dafür zuständig. Aber jetzt muss ich mir das alles genau ansehen. Deshalb, fürs Erste keine Pferde.»
Ein steiniger Weg führte hinunter an einen kleinen Strand. Gerade war Ebbe, das seichte Wasser reichte weit ins Meer und wurde von der Sonne gewärmt.
«Gehört der Strand uns?», fragte Charlie.
«Würde ich so sagen», antwortete Fiona.
«Also, so was hatten wir noch nie.» Charlie wurde allmählich munterer. «Und das kostet nichts.»
Sie wateten ins Wasser, steckten die Finger in Seeanemonen und schauten zu, wie ihre winzigen Fangarme sich um ihre Finger schlossen. Zwischen den Felsen entdeckten sie große purpurfarbene Seesterne mit vielen Armen, die Charlie zunächst für Tintenfische hielt. Natasha erklärte ihr, was es war und warnte davor, den durchsichtigen, schwer erkennbaren Quallen, die hier und da im Meer trieben, zu nahe zu kommen. «Das brennt.»
Als es Mittag wurde, hatten sie, windzerzaust, eine Salzkruste auf der Haut und eine gehörige Portion Sonne getankt. Sie gingen zum Haus zurück, wo Fiona aus dem großen Vorrat an Aufschnitt, den ihre Tante ganz eindeutig für sie gekauft hatte, ihr Mittagessen vorbereitete. Anschließend scheuchte sie ihre Schwestern aus der Küche, damit sie ihre Bücher lasen oder Ketten aus Wildblumen bastelten, während sie in den Schränken und Schubladen kramte und zu ihrer Freude feststellte, dass alle Zutaten zum Brotbacken vorhanden waren. Nachdem sie Hefe mit Wasser vermischt hatte, geschah zu ihrer Verwunderung nicht das Gleiche wie früher bei ihrer Mutter. Sie rief Marlin, die es sich ansah, das Rezept im Internet auf Tante Marthas MacBook Air durchlas, den Finger in das Hefewasser hielt und meinte: «Ich glaube, dein Wasser war zu kalt.» Sie schüttete es aus. «Lass mich mal.»
Fiona schaute zu, wie Marlin von vorne anfing und die Hefe diesmal wie gewünscht schäumte. Marlin gab die anderen Zutaten hinzu und knetete den Teig immer von Neuem auf dem kleinen Küchentisch durch. Als sie ihn endlich in eine Schüssel gelegt, mit einem Geschirrhandtuch zugedeckt und die Küche geputzt hatte, war Fiona in der Zwischenzeit ihrer Idee ein gutes Stückchen näher gekommen und rief die anderen auf die Veranda.
«Wie ich bereits gesagt habe, haben wir Geld, zumindest etwas», setzte sie an. «Und wir besitzen ein Haus. Morgen können wir uns in den jeweiligen Schulen anmelden. Mir gefällt es hier und ich bin sicher, dass es besser ist als in Lansing, Michigan oder in Kingsport, Tennessee. Außerdem sind wir zusammen. Das sind unbestreitbare Vorteile.»
«Ich finde es auch gut hier», bestätigte Marlin.
«Ja, ich auch», sagte Natasha.
«Ich will Mommy und Daddy», flüsterte Charlie.
Darauf gingen sie nicht ein. Sie wussten, dass Charlie irgendwie noch dem Gefühl nachhing, sie könnte ihre Eltern durch die schiere Kraft der Sehnsucht wiederbeleben, wenn sie den Wunsch nur oft genug wiederholte. Sie ermunterten sie nicht dazu, aber sie redeten es ihr auch nicht aus. Fiona fand es traurig, das mitansehen zu müssen, doch wenn Charlie damit aufhörte, wäre es noch schlimmer.
«Wir haben alles, was wir brauchen. Das Einzige, was andere zusätzlich für nötig befinden werden, ist eine erwachsene Person. Ich bin aber der Meinung, dass ich für uns sorgen kann. Wir brauchen keine Erwachsenen.»
«Was du denkst, spielt keine Rolle», entgegnete Marlin rundheraus. «Sobald jemand rausfindet, was wir hier machen, lassen sie uns nicht mehr allein leben.»
«Genau darüber wollte ich mit euch reden», fuhr Fiona fort. «Wir können allein hier wohnen, vorausgesetzt, niemand weiß es. Tante Martha hat anscheinend mit niemandem geredet, außer mit ihrem Nachbarn und ihrem Anwalt, und der wusste nicht einmal, dass wir nach hierher unterwegs waren, bis der Nachbar ihn informiert hat. Also hat vielleicht, ganz vielleicht, sonst niemand etwas von uns gehört.»
«Sie werden merken, dass es uns gibt, sobald wir in der Schule auftauchen», wand Natasha ein.
«Dann gehen wir eben einfach nicht zur Schule», schlug Charlie vor.
«Wir müssen zur Schule gehen», entschied Fiona. «Mom und Dad wollten, dass wir alle eine Collegeausbildung bekommen.»
«Und wie sollen wir das bezahlen?», fragte Marlin.
«Keine Ahnung. Ich hoffe, das kriegen wir irgendwie hin. Aber bis dahin werden wir nicht schwänzen.»
«Dann werden sie in der Schule auf uns aufmerksam», wiederholte Natasha.
«Stimmt, aber sie werden nicht erfahren, dass wir allein leben, wenn wir es ihnen nicht verraten», fuhr Fiona fort. «Und das ist der schwierige Teil. Wir dürfen es, und damit meine ich uns alle, Charlie, mit keinem Wort erwähnen. Das wird sehr schwer. Es darf uns nicht zufällig rausrutschen, bei niemandem, weder bei unseren zukünftigen Freunden, gegenüber dem Anwalt, mit dem wir einen Termin vereinbaren müssen, noch bei unseren Lehrern oder irgendwem sonst. Schaffen wir das?»
«Ja, klar», erklärte Natasha.
«Also, ich schon», bestätigte Marlin. «Ich mache mir nur Sorgen wegen Charlie.»
«Ich werde nichts verraten», versprach Charlie feierlich. «Geheimnisse sind bei mir sicher.»
«Das ist das wichtigste Geheimnis, das du jemals für dich behalten musstest, Charlie», beschwor Fiona. «Davon hängt alles ab, wirklich alles.»
«Wie verhalten wir uns, wenn jemand nach unseren Eltern fragt?», gab Natasha zu bedenken.
«Keine Ahnung. Was das angeht, bin ich noch nicht so weit. Weicht am besten erstmal aus, bloß keine komplizierten Lügengeschichten. Versucht, das Thema zu wechseln oder sagt etwas über sie, das der Wahrheit entspricht, ohne zu erwähnen, dass sie tot sind.»
«Klar, als ob das funktionieren könnte», schnaubte Marlin. «Diesem Plan gebe ich höchstens eine Woche.»
Charlie fing wieder an zu weinen.
«Weinen nützt dir auch nichts», sagte Marlin. «Du musst dich hier echt zusammenreißen. Du musst stark sein.»
«Ich kann stark sein», erklärte Charlie und wischte sich die Augen trocken.
«Gut», sagte Fiona. «Jetzt genießt erstmal den Rest des Tages. Morgen gehe ich mit euch in die Schule, melde euch an und dann sehen wir, ob ihr direkt anfangen könnt. Danach gehe ich in meine Schule und mache das Gleiche. Ich habe auf Tante Marthas Computer nachgeschaut. Ihr drei geht in die Greenwillow-Schule, und ich gehe auf die weiterführende Schule von St. Mary’s By the Sea. Die beiden Schulen liegen einander direkt gegenüber. Vermutlich haben wir sie gesehen, als wir durch den Ort gefahren sind, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Wir waren alle zu k.o.»
«Und wie kommen wir dahin?», wollte Natasha wissen.
«Morgen früh müssen wir laufen. Dann melde ich uns für den Schulbus an, der uns hoffentlich – falls es einen gibt – nicht allzu weit weg von Tante Marthas Haus abholt. Eins nach dem anderen.»
Der Rest des Tages verging damit, dass Marlin das Brot fertig backte, Natasha und Charlie die Heuböden über den Ställen erkundeten und alle vier unten am Strand das frische Brot mit Butter zum Abendessen aßen, während sie auf einem angeschwemmten Baumstamm saßen und zuschauten, wie die Flut kam.
«Seht mal», Natasha zeigte auf ein paar linkische weiße Vögel.
«Möwen», sagte Charlie.
«Nein, Küstenseeschwalben, Zugvögel, die zurück nach Norden fliegen», widersprach Natasha, die bereits alle hiesigen Vogelarten nachgeschlagen hatte. Küstenseeschwalben hatte sie allerdings nicht erwartet, obwohl sie die Art kannte und auch wusste, dass es sich um Zugvögel handelte. Sie hatte nur nicht gewusst, dass sie auf Pine Island Station machten.
Als die Vögel sich von einer Seite zur anderen neigten, sahen sie wie kleine Papierflugzeuge aus und durchschnitten die Luft in einer klaren Linie, während sich das Licht in ihren glänzenden Flügeln fing, als wären sie aus Glas.
«Küstenseeschwalben!», wiederholte Natasha und hob voller Ehrfurcht die Magie, die in ihrem Namen lag hervor, weil sie einen Vogel zu sehen bekam, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
An diesem Abend räumten sie zwei Betten in Tante Marthas Zimmer, sodass Marlin und Fiona, die gerne länger wachblieben, lasen und noch redeten, Charlie und Natasha nicht störten, wenn diese eingeschlafen waren. Als sie im Bett lagen, legte Marlin plötzlich ihr Buch weg: «Das klappt nie. Dafür kann echt zu viel schiefgehen.»
«Es muss klappen», erwiderte Fiona. «Wir haben keine andere Wahl.»
«Muss und wird sind zwei verschiedene Dinge», sagte Marlin praktisch wie immer.
«Du musst dran glauben, Marl. Nur mit meiner eigenen Hoffnung kann ich uns nicht weiterbringen.»
«Okay», versprach Marlin – gerührt von dem Vertrauen ihrer Schwester. Insgeheim dachte sie jedoch: Ich behaupte, dass ich daran glaube, aber das heißt nicht, dass ich wirklich daran glaube, genauso wenig wie daran, muss klappen und wird klappen wären dasselbe.
Fiona plagte derweil der Gedanke, dass sie eine Trennung von ihren Schwestern nicht ertragen würde. Jede von ihnen hatte ihre Eigenarten und Eigenschaften, die miteinander verschmolzen waren, als bildeten sie gemeinsam eine Einheit. Ein Wesen. Fiona glaubte seit jeher, dass sie mit der Macht ihrer Entschlossenheit die retten konnte, die sie liebte, während Charlie wie der Wachhund der Familie stets auf drohende Gefahren achtete. Natasha schwebte wie eine Dichterin durchs Leben, beobachtete Vögel, sah die Dinge stets in einem anderen Licht, und lebte im Hier und Jetzt, ohne darüber nachzudenken, was als Nächstes geschah. Marlin dagegen stand mit beiden Beinen hartnäckig auf dem Boden der Tatsachen. Es war, als ob sie jene Eigenschaften miteinander teilten, die die jeweils anderen nicht hatten. Und alle hatten ihre guten und ihre schlechten Seiten. Doch Fiona würde keine von ihnen ändern wollen. Fiona wollte um nichts in der Welt von ihnen getrennt sein. Sie fürchtete die Einsamkeit für sich selbst, aber noch mehr für ihre Schwestern. Es war furchtbar, sich den Schmerz, den sie deswegen empfinden würde, überhaupt nur vorzustellen, doch der Schmerz, den die anderen erleiden würden, war noch undenkbarer.