Kitabı oku: «Die Hochzeitskapelle»
Rachel
Hauck
Die
Hochzeits- kapelle
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Anja Lerz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86506-964-1
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Originaltitel: The Wedding Chapel
Erschienen im Mai 2014 bei Zondervan, Grand Rapids, Michigan 49530, USA
Copyright © 2014 by Rachel Hauck
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anja Lerz
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: fotolia Daniel Jędzura
Satz: Brendow Web & Print, Moers
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Kapitel Vierundzwanzig
Kapitel Fünfundzwanzig
Kapitel Sechsundzwanzig
Kapitel Siebenundzwanzig
Kapitel Achtundzwanzig
Kapitel Neunundzwanzig
Epilog
Kapitel Eins
JIMMY
Heart’s Bend, Tennessee
Juli 1948
Jimmys Reise begann mit einer Fotografie. Einer Fotografie, auf der eines von zwei Mädchen zu sehen war, das neben einer schlanken Braut stand und ein kleines Blumensträußchen in der Hand hielt. Der Schatten der Kirche lag auf ihrem Gesicht.
„Meine Kusinen.“ Clem seufzte tief und setzte sich auf das brandneue Sofa der Familie. „Aus Großbritannien.“
„Alle drei?“ Jimmy blieb wie angewurzelt in dem warmen Fleck aus Sonnenlicht stehen, der durch das Fenster fiel, als Clem ihm das Bild reichte.
„Neeein, um Himmels willen. Nur die beiden Blumenmädchen oder Brautjungfern oder wie man das nun nennt. Die kommen hierher, um bei uns zu leben.“ Clem pfiff leise und sackte in den Sofapolstern in sich zusammen. Sein dunkles Haar trug er in einem raspelkurzen Militärschnitt. „Wenn die alle drei hier wohnen sollten, müsste ich ausziehen. Und du weißt, dass Mama nicht mitspielen würde, wenn sie sich von ihrem kleinen Jungen trennen müsste.“
Jimmys Augen wurden feucht. Mist. Er war zu alt für Tränen. Er räusperte sich und sagte dann: „Sie würde dich aufspüren und holen kommen.“
„Was du nicht sagst.“ Clem machte ein ironisches Gesicht, aber Jimmy wusste, dass sich ihre Witzeleien haarscharf an der Wahrheit entlangtasteten. Clem war inzwischen Mamas einziger Sohn. Der große Bruder Ted war nur eine Woche nach seinem zwanzigsten Geburtstag auf Iwojima gestorben. Seitdem war die Familie nicht mehr dieselbe.
Obwohl seit der Ankunft des Telegramms über drei Jahre vergangen waren, spürte Jimmys Seele noch die Echos von Mrs. Clemsons Wehklagen, als ihr Mann ihr die Nachricht vorlas. Jeder in Heart’s Bend hatte Ted geliebt. Das war keine Übertreibung. Während seiner Trauerfeier kam die ganze Stadt zum Erliegen.
Jimmy fuhr herum und warf einen Blick auf die Treppe. Ganz kurz bildete er sich ein, die donnernden Schritte Teds gehört zu haben.
„Kommt schon, ihr Faulpelze, lasst uns ein Spiel spielen. Jim, bleibst du zum Essen? Mum, deck mal gleich für ihn mit …“
„… aber was soll man denn schon machen?“ Clems Frage holte Jimmy aus den Schatten zurück. „Sie haben ja alles verloren im Krieg. Ihre Leute, ihr Zuhause …“
Richtig. Die Kusinen. Jimmy betrachtete das Foto noch einmal. „Sie sind Waisen?“ Sein Herz zog sich verständnisvoll zusammen.
„Jaaaawollja, und sie kommen hierher, um hier zu leben.“ Clem beugte sich zum Radioapparat und drehte die Lautstärke höher. Doris Days samtweiche Stimme ließ das Sonnenlicht heller strahlen.
„Gonna make a sentimental journey to renew old memories“ … eine kleine Reise in die Vergangenheit, um alte Erinnerungen wieder aufzufrischen. Na, das passte ja.
„Warum zeigst du mir das eigentlich?“ Jimmy hielt das Bild hoch. Wollte Clem, dass er irgendetwas aus den schwarzweißen Schatten herauslas? „Könnte doch ganz nett sein, ein paar mehr Leute hier zu haben. Dann ist es im Haus nicht mehr so …“
Einsam. Das wollte er eigentlich sagen, aber es klang doch allzu traurig in seinen Ohren. Wenn Jimmy sich mit irgendetwas auskannte, dann war es Einsamkeit: die leeren Schatten eines dunklen Hauses, das Frösteln, wenn man in eine kalte Küche kam, der ohrenbetäubende Lärm der Stille.
„Einsam?“ Clem machte ein abwehrendes Geräusch und winkte ab. „Wovon redest du? Ich habe hier gerade alles so, wie ich es möchte. Das ganze Obergeschoss habe ich für mich.“ Er zeigte zur Treppe und mimte mehr Protest, als Jimmy ihm abkaufte. „Jetzt werde ich Mädchen dahaben, die ihre Strümpfe und sonst was im Bad aufhängen – in meinem Badezimmer – und ihren Puder und ihr Rougezeugs auf dem ganzen Waschbecken verteilen.“
„Mädchen verteilen Puder auf dem Waschbecken?“
Clem setzte sich aufrecht hin und wies mit dem Daumen über die Schulter grob in Richtung des Nachbarhauses. „Bradley hat mir alles darüber erzählt, wie es so ist, mit Schwestern.“ Clem schüttelte den Kopf. „Gerade, als wir dachten, der Krieg sei vorbei und alles würde langsam normal werden, müssen auch noch Mädchen bei mir einziehen.“
„Riesending, echt. Na und? Dann backen die vielleicht mal was. Ich wette, die machen den Abwasch und putzen und so.“ Jedenfalls hatte er gehört, dass Frauenzimmer so etwas in der Regel taten. Aber im Männerhaushalt der Westbrooks übernahm Jimmy die meisten der „Frauenarbeiten“.
„Ich würde von Herzen gern den Abwasch übernehmen, wenn ich dann weiter das Obergeschoss für mich haben dürfte.“ Clem schaute weg. Es glänzte verdächtig in seinen Augen.
„Ich würde auch nicht wollen, dass jemand Teds Platz einnimmt, wenn ich du wäre“, sagte Jimmy leise, sah sich ein letztes Mal die Kusinen an und gab das Foto zurück.
Clem nahm das Bild, fuhr sich mit dem Handballen über die Augen und warf den Abzug mit einem letzten Blick auf den Couchtisch.
„Ich kann einfach nicht damit aufhören, ihn zu vermissen.“
„Ja. Das geht mir auch so.“
Aber Jimmys Bauchgefühl sagte ihm, dass Albert „Clem“ Clemson, sein bester Freund seit der zweiten Klasse, falschlag, was diese beiden Mädchen anging. Sie waren etwas Besonderes. Er wusste nicht, wie oder warum, nur, dass sie mehr waren als Puder verstreuende Unannehmlichkeiten.
Außerdem waren sie hübsch. Vor allem die ganz rechts mit ihrem süßen herzförmigen Gesicht und der Lockenmähne.
Jimmy erkannte ihren Blick wieder, wie sie die Augen so zusammenkniff, um im Gegenlicht zur Kamera hinzuschauen. Es war der traurige Blick derer, die ein Elternteil verloren hatten. Und er wusste nur allzu gut, wie sich das anfühlte.
„Wenn die die Hausarbeit übernehmen, weißt du, was das dann heißt? Dad wird mich mehr Stunden im Laden schieben lassen.“ Clem hatte nicht vor, sich trösten zu lassen. Störrisch schob er das Kinn vor. „Habe ich dir erzählt, dass er kurz davor ist, in Ashland City eine dritte Filiale zu eröffnen?“
„Wie heißt sie?“ Die Worte sprudelten ohne Jimmys Einverständnis heraus, schlüpften ihm über die Lippen. Aber da waren sie, hingen in der Luft. Er ließ sich in Mr. Clemsons schwer benutzten Sessel fallen. Das Bild des Mädchens mit den Locken und dem sanften Blick brachte ihn dazu, dass er sich ganz heiß und flatterig fühlte.
„Die Filiale?“ Clem verzog den Mund.
„Nein …“ Jimmy schnitt eine Grimasse. „Die – die Kusine. Kusinen.“ Es war schwierig, sich beiläufig zu geben, wo doch sein Herz seine Stimme ganz zitterig werden ließ.
„Welche?“ Clem griff nach dem Foto auf dem Couchtisch und betrachtete Jimmy einen Moment lang.
Jimmy senkte den Kopf, hatte Angst, sich verraten zu haben. Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Wenn Clem den Jungs etwas erzählte …
„Ähm.“ Er räusperte sich und stand auf. „Na, beide, meine ich. Mann, ist das heiß hier drin.“ Jimmy sah zum Fenster, das vom Sommerlicht hell erleuchtet war.
„Spielt eh keine Rolle, weil ich die Namen gar nicht weiß.“ Clem sprang auf und griff nach dem Football, der zwischen Couch und Beistelltisch eingeklemmt war. „Lass uns mal ein Spiel zusammenkriegen. Wir brauchen Übung.“
„Du weißt nicht, wie deine Kusinen heißen?“
Jimmy hatte eine Kusine, April Raney. Die war zwar jetzt weg, auf dem College, aber wenn er sich so etwas wie ein Geschwisterkind vorstellte, kam sie der Sache am nächsten. Er mochte sie sehr und sparte jedes Jahr einen Teil seines Verdienstes, um ihr zum Geburtstag und zu Weihnachten ein Geschenk kaufen zu können.
„Warum sollte ich auch? Ich habe sie nie kennengelernt. Ihre Mutter ist … war … die Schwester meiner Mutter, aber die beiden haben sich in den letzten zwanzig Jahren nur ein einziges Mal gesehen. Als Mama nach Großbritannien gegangen ist.“ Clem warf den Football von einer Hand in die andere und tat dann so, als wollte er ihn Jimmy zuspielen. „Mama sagt, sie werden in unsere Klasse gehen.“
„Sind sie Zwillinge?“ Jimmy beugte sich vor, um das Bild mit zusammengekniffenen Augen zu studieren, wobei ihm mehr daran gelegen war, sich das Gesicht des lockigen Mädchens einzuprägen. Er nahm den Abzug und drehte ihn um. Vielleicht stand ihr Name ja auf der Rückseite. Aber der einzige Druck darauf war das Datum. „Mai 1948“.
„Nein, keine Zwillinge. So viel weiß ich. Nur in derselben Klasse. Das hat wohl mit dem Krieg und der Landverschickung zu tun. Danach sind sie verwaist.“ Clem warf den Ball zur Decke und sprang hoch, um ihn wieder zu fangen, während er langsam zur Tür ging. „Lass uns rausgehen, Westbrook. Ich hole Bradley. Spice können wir unterwegs mitnehmen.“
„Ich komme schon.“ Jimmy legte das Foto auf den Tisch, als eine Brise durch die Tür wehte und das Bild über die glatte Oberfläche pustete, bis es bei Mrs. Clemsons Zeitungsstapel liegen blieb.
Ich kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.
Draußen sprang Clem von der Veranda. Den Ball hatte er unter den einen Arm geklemmt, mit der anderen Hand klatschte er auf das Treppengeländer. „Braaaaadleeeey Green, wir starten ein Spiel. Wir müssen üben, wenn wir in die erste Mannschaft wollen. Lass uns anfangen. Heute Nachmittag muss ich arbeiten, also heißt es jetzt oder nie.“
Jimmy folgte ihm. Er sprang auf den Rasen hinunter und versuchte, die seltsamen Gefühle in seiner Brust loszuwerden. Nun komm schon klar. Es ist doch nur ein Foto. Aber verflixt nochmal, Clems dämliche Kusine brachte ihn dazu, dass er sie in den Arm nehmen, sie beschützen wollte. Er hatte sich immer versprochen, dass er sich nicht wegen eines Mädchens blamieren würde. Von Dad hatte er nur zu gut gelernt, dass Frauen die Mühe nicht wert waren.
Sein alter Pop drückte sich ziemlich deutlich darüber aus, dass es einem Mann eine Menge Sorgen bescheren konnte, eine Frau zu lieben. Und sein Vater war ein Pfundskerl, der die Wahrheit sagte.
Außerdem, was wusste Jimmy schon von Mädchen? Nichts. Von Nana und April abgesehen, hatte er mit Frauen absolut keine Erfahrung.
Bradley kam aus seinem Haus herausgerannt und band sich noch schnell die Turnschuhe. „Ich habe Spice angerufen“, sagte er.
Tatsächlich kam auf der anderen Straßenseite drei Häuser weiter Spice Keating herausgeeilt. Sein Alter war ein Säufer, ein ziemlich grober sogar. Aber Spice selbst bestand nur aus Charme und Lächeln.
Jimmy wusste nicht, wie er das machte.
„Coach sagte, wir dürfen bei der Schule trainieren, wenn wir versprechen, den Boden nicht zu ruinieren“, sagte Clem, der rückwärtsging und Jimmy den Ball zuwarf.
Aber Jimmy verfehlte den Ball. Er verfehlte ihn. Der Ball glitt ihm durch die Hände und fiel zu Boden.
„So willst du also im Herbst spielen, Westbrook?“
„Halt die Klappe, Clem.“ Jimmy hob irritiert den Ball auf, rannte mitten auf der Fahrbahn die Straße hinunter und spielte ihn seinem Quarterback zurück. „Sieh zu, dass du ihn vernünftig zu mir wirfst, dann kriege ich den auch.“
Da konnte man sehen, was Mädchen anrichteten. Er war jetzt schon abgelenkt, und dabei hatte er sie noch nicht einmal getroffen. Das war das Ärgerliche mit Mädchen. Die konnten einen Mann in allerlei Hinsicht ruinieren, ihn demütigen.
„Hey, Kumpels“, sagte Jimmy mit einem spöttischen Unterton. „Bei Clem ziehen Mädchen ein.“
„Mädchen? Welche Sorte Mädchen?“
„Westbrook, du alter Schwätzer.“ Clem schoss Jimmy den Ball zu.
„Ach, was hast du denn? Früher oder später finden sie es sowieso heraus.“ Jimmy fing den Ball und rempelte Spice an. „Was meinst du mit ,welche Sorte‘? Gibt’s mehr als eine?“
„Ja, na klar. Hübsche und hässliche.“ Spice lachte, rangelte mit Jimmy, griff nach dem Ball. Er grinste frech, und sein dunkles Haar hing ihm in die Augen. „Also welche jetzt? Hübsch oder hässlich?“
„Ja, Jimmy“, stimmte Clem ein. „Welche denn jetzt?“
„Es sind doch deine Kusinen.“ Jimmy warf den Ball zu Bradley, der ihn fallen ließ.
„Na und?“ Clem sammelte den Ball auf, wirbelte herum und verfehlte knapp Mrs. Grove, die in ihrem großen neuen Cadillac um die Ecke bog. „Juckt mich nicht.“
„Schönes Auto, Mrs. Grove.“ Ob jung, ob alt, Spice versuchte immer, alle zu bezaubern. „Egal, wir könnten hier jedenfalls ganz gut ein paar neue Mädchen gebrauchen. Hübsche.“ Er sah zu Mrs. Groves Auffahrt. „Und junge auch.“
„Na ja, wenn du mal damit aufhören würdest, andauernd mit allen anzubandeln und sie dann sitzenzulassen, hättest du mehr Auswahl.“ Jimmy rannte ein längeres Stück, um Clems Pass zu erwischen, fing den Ball während des Rennens und spürte seinen permanenten Groll gegen Spice in sich. Sie waren zwar Freunde, aber letztes Jahr hatte Spice ganz genau gewusst, dass Jimmy ein Auge auf Rebekah Gunter geworfen hatte. Er drängte sich trotzdem dazwischen, obwohl er nicht vorhatte, je wirklich mit ihr zu gehen. Für ihn war die Liebe nur ein Spiel.
„Ach, jetzt sei nicht so sauer. Du weißt selbst, dass du nie die Eier gehabt hättest, um dich mit Bekah zu verabreden.“
„Nimm das zurück, Keating.“ Jimmy rempelte ihn an, hart.
„Da sieht man’s wieder, Mädchen machen nur Ärger.“ Clem ging dazwischen und schwenkte den Ball. „Konzentriert euch. Wir müssen eine Saison gewinnen. Wisst ihr noch: der Tailback aus Memphis, der letztes Jahr unsere D-Line durchbrochen hat? Ich habe gehört, der hat im Frühling dreihundert Pfund gestemmt.“
Bradley stöhnte. Er war Abwehrspieler, ein Defensive Lineman.
„Ja, wir haben noch einiges vor uns.“ Clem sprintete vorwärts, fuhr herum und schickte den Ball dann in einem hohen Bogen zu Jimmy. Mann, der konnte werfen. Jimmy fing und überrannte Bradleys weiche Blockade.
Wenn alles lief wie geplant, würde Clem als Quarterback anfangen und Jimmy als Halfback. Sie waren Nachwuchsspieler, aber immerhin die besten für die Aufgabe. Das hofften sie jedenfalls.
Die Sonne stand hoch am klaren blauen Himmel, als Jimmy mit dem Ball unterm Arm die Straße verließ und eine Abkürzung durch Mrs. Whitakers Hinterhof nahm, wo Spice die Katze der alten Dame einen Baum hinaufjagte.
Jimmy rannte vorweg, den Footballplatz schon im Blick. Clem war knapp hinter ihm, Spice und Bradley liefen am Ende.
Als er die Zielmarke überschritt, warf er den Ball mit Wucht auf den Boden.
Ja, genau das war es, was er brauchte, um den Kopf freizubekommen. Auf dem Platz sein. Sich auf die Saison freuen. Sich auf seine Ziele konzentrieren.
Dad freute sich schon auf den Saisonbeginn seines Jungen, und Jimmy wollte ihn nicht enttäuschen. Er gab vor seinen Arbeitskollegen gerne mit seinem talentierten Sohn an.
Jimmy würde seinen Vater stolz machen. Er würde nicht zulassen, dass ihn ein Mädchen davon abhielt.
Doch als er sich für ihren ersten Spielzug hinter Clem stellte, hörte er in seinen Ohren sein Herz schlagen. Und das kam nicht daher, dass er mit seinen Freunden ein Wettrennen gemacht hatte, sondern lag einzig und allein an dem Bild des Mädchens auf der Fotografie, das ihm immer noch vor Augen stand.
Kapitel Zwei
TAYLOR
Brooklyn Heights, New York
16. September 2015
Freudig blickte Taylor auf, als sie seinen Schlüssel in der Tür hörte. Jack war zu Hause.
Ihre bildschirmmüden Augen stellten sich auf die dunklen Schatten ein, die ihre Wohnung im dritten Stock füllten. Das gedämpfte Licht der Straßenlaternen Brooklyns fiel durch die Fenster.
„Schau, Hops, das ist eine Spitzenkampagne. Lass uns einfach die Präsentation machen und hören, was sie sagen.“ Jack bewegte sich mit dem Telefon am Ohr durch die Wohnung.
„Hallo“, sagte Taylor beim Aufstehen und strich sich das Haar glatt. Sie war ganz steif vom vielen Sitzen. Jetzt, wo ihr Mann zu Hause war, sehnte sie sich nach seiner Aufmerksamkeit.
Ihr Mann. Ehemann. Jetzt schon seit einem halben Jahr, und immer noch klang das Wort so fremd.
Aber Jack ging zum Schlafzimmer, ohne innezuhalten oder auch nur in ihre Richtung zu nicken. Seine Laptoptasche hing ihm über die Schulter, und mit seiner breitschultrigen, muskulösen Gegenwart und dem ausgeprägten Selbstbewusstsein strahlte er ein eigenes Licht aus, mit dem er die trübe Wohnung durchflutete.
Taylor sank zurück auf ihren Stuhl. Der Schmerz in ihren Muskeln kroch in ihr Herz. Wenn er sie gar nicht hierhaben wollte, warum hatte er ihr dann überhaupt einen Antrag gemacht?
Noch viel verwirrender war allerdings die Frage, warum um alles in der Welt sie Ja gesagt hatte?
Sie saß da, mit den Fingern auf der Tastatur im Anschlag. Das Licht ihrer Schreibtischlampe glitzerte auf ihrem Ehering, dem in Platin gefassten Symbol der Verpflichtung, die sie im Wohnwagenpark eingegangen waren.
Am Anfang war es ihr lieber gewesen, die Sache frei und unverbindlich zu halten. Der Wirbelsturm ihrer Romanze hatte sie in den siebten Himmel versetzt, einen Ort, von dem sie nie wieder wegwollte.
Aber nachdem sie erst miteinander nach Martha’s Vineyard gefahren, spontan geheiratet hatten und dann wieder nach Hause gekommen waren, sank sie langsam wieder zur Erde hinab, ließ Sterne und Mond hinter sich. Die Jahreszeiten wechselten – aus Frühling wurde Sommer, der Sommer wich inzwischen langsam dem Herbst –, und Taylor spürte, wie ihre Liebe verblasste und welkte.
In letzter Zeit stritten sie häufig, oft wegen des Geldes. Sie behauptete, er gebe zu viel aus. Er bezeichnete sie als kleinlich. Aber er hatte mehr Schuhe als sie, und seine Kleider beanspruchten zwei Drittel des Kleiderschranks und eine ganze Kommode.
Mit einem Seufzer wandte sich Taylor wieder dem Foto zu, das sie auf dem Bildschirm bearbeitete. Ausgerechnet ein Hochzeitskleid, das sie für eine junge Designerin fotografiert hatte. Die Abzüge waren morgen fällig.
Das Retuschieren ging ihr in die Knochen. Sämtliche Kleider hatten Schmutz am Saum, weil sie draußen fotografiert hatten. Die letzten zehn Stunden hatte sie damit zugebracht, auf jedem Foto Licht und Schatten zu optimieren, die Szenerie, die Models, die Kleider – und zu guter Letzt damit, braune Flecken weiß zu machen.
Nach ein paar Sekunden verlor Taylor die Konzentration. Sie lehnte sich zurück und sah nach der Zeit. Zehn Uhr.
„Hast du Hunger, Jack?“, rief sie zum Schlafzimmer, wartete, lauschte.
Sie hatte ihren knurrenden Magen ignoriert und die Essenspausen übersprungen, war fest entschlossen, diesen Job zu erledigen.
Wenn sie ihren Ruf als Werbefotografin festigen wollte, musste sie ausgezeichnete Arbeit abliefern, und zwar pünktlich.
„Jack?“
Die Tür des begehbaren Kleiderschranks fiel ins Schloss, sonst kam keine Antwort. Na gut, dann wieder an die Arbeit. Noch drei Kleider und fertig.
Taylor atmete tief ein, kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen und zwang sich, weiterzumachen.
Gleich nach ihrer Spontanheirat mit Jack hatte sie ihren ersten Werbekunden an Land gezogen: Melinda House Weddings war eine europäische Designerin und berühmt dafür, die Großherzogin von Hessenberg, Prinzessin Regina, auszustatten.
Jack Forester und Melinda House in ein und demselben Monat für sich gewinnen zu können? Ein Glückstreffer. Traumhaft.
„Was machst du?“ Jack betrat das Zimmer und warf sich aufs Sofa, wo er nach der Fernbedienung griff. Er sah aus, als wollte er zum Sport, trug Basketballshorts und ein übergroßes T-Shirt von der Ohio State National Championship.
„Arbeiten …“ Kein Kuss. Kein zärtliches Hallo. Kein schmachtender Blick wie in den guten alten Zeiten – die Zeit von vor einem halben Jahr fühlte sich an wie „gute alte Zeiten“. „Hast du Hunger?“
„Nein, ich habe bei der Arbeit gegessen. Ist das der Auftrag für Melinda House?“
„Ja, die Säume sind dreckig. Ich habe ihr gleich gesagt, dass das passieren würde, aber sie hat darauf bestanden, draußen zu arbeiten.“ Was dazu geführt hatte, dass Taylor und ihre Assistentin Addison eine anstrengende, aber auch irgendwie berauschende Fahrt durch die ganze Stadt gemacht hatten.
„Übrigens hat mich Keri heute angeschrieben. Sie fragt sich, ob du bald mit ihrer Hochzeit fertig bist.“
„Warum schreibt sie denn dir? Sie hat meine Nummer …“ Taylor beugte sich über das Bild auf dem Monitor. Warum bestand Keri darauf, Jack unnötigerweise als Mittelsmann zu benutzen?
„Reg dich nicht auf, ich frage ja nur.“
„Ich habe ihr doch gesagt, Ende des Monats.“ Ende des Monats sind die Fotos so weit … hundert Mal hatte sie es gesagt.
„Schön, dann schreib ihr doch eine SMS oder eine E-Mail. Sie kann es kaum erwarten, ihre Fotos zu bekommen. Das kann man ihr nicht verübeln.“
„Nein, das nicht. Jede Frau hat das Recht, in Erinnerungen an ihre Hochzeit zu schwelgen.“
Die einzigen Fotos, die sie von ihrer eigenen Hochzeit besaß, hatte der Standesbeamte mit ihrem iPhone gemacht. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, ihre Canon zu der Zeremonie mitzunehmen.
So verliebt war sie in Jack gewesen. Verrückt. Vergesslich. Spontan.
Keris Hochzeit hatte sie eigentlich gar nicht fotografieren wollen, weil der Auftrag nicht zu dem Portfolio beitragen würde, das Taylor aufbauen wollte. Aber Keri war eine Freundin von Jack, seine ehemalige Kundin und möglicherweise auch Ex-Freundin, obwohl Taylor sich nicht so sicher war, was den letzten Punkt anging. Egal, sie würde jedenfalls fast alles für Jack tun.
Sie hatte ihn sogar geheiratet, obwohl sie nichts vom Heiraten hielt.
Er war ihr Schwachpunkt. Er war ihr Schlussverkauf im Schuhgeschäft, ihre Schokoladentafel, ihr großes Eis (mit Sahne) an einem heißen Sommertag, ihr fleischgewordener Highschoolschwarm.
Sie hatte gar nicht gewusst, dass er in Manhattan war, bis sie an jenem kalten Januartag im wahrsten Sinn des Wortes in ihn hineingerannt war, als sie um die Ecke Madison/67. bog. Sie hatte gerade einen Auftrag abgeschlossen und fand, ein Besuch in Tory Burchs exklusiver Boutique wäre eine nette Belohnung.
Nicht, dass sie das Geld gehabt hätte, um bei Tory Burch einzukaufen, aber Bummeln und Träumen schadeten nie. Auf dem Nachhauseweg würde sie sich einen Caffé Latte gönnen, als echte Belohnung.
Stattdessen entdeckte sie Jack. So viel besser, als Kleider anzuschmachten, die sie sich sowieso nicht leisten konnte. Ja, das war’s. Einen Mann anzuschmachten, den sie sich genauso wenig leisten konnte, aber aus irgendeinem Grund war ihre Gefühlsbank bereit, eine Investition in Jack Forester zu riskieren.
Zuerst war da einfach nur ein großes Hallo gewesen. Zwei Freunde aus Heart’s Bend, Tennessee, im großen Big Apple.
Dann Abendessen, gefolgt von einem Mittagessen, dann wieder Abendessen. Acht Wochen später hatte er ihr am Strand von Martha’s Vineyard die zwei betörenden Worte ins Ort geflüstert: „Heirate mich.“ Kein Zögern. „Ja.“
Mit müden, brennenden Augen schloss Taylor den Laptop. Sie würde am Morgen fertigwerden und die Fotos immer noch pünktlich an Melinda schicken. „Ge-gehst du aus?“
Jack warf ihr einen Blick zu und schaute dann wieder zum Fernseher, wo er beim Sportkanal gelandet war. „Ja. Aaron hat angerufen, er wollte Basketball spielen.“
„Jetzt?“
„Es war ein langer Tag. Ich muss ein bisschen Energie abbauen. Hops ist ganz aufgeregt wegen der FRESH-Water-Geschichte.“
Jack war Aufsteiger in der Werbewelt New Yorks. Ad Age nannte ihn den „Betörer“. Seine Arbeit an einem Super Bowl-Werbespot hatte seiner Agentur den ersten CLIO Award eingebracht.
„Was ist denn da los mit FRESH Water?“
Sie hatte gewollt, dass Jack sie für eine FRESH-Kampagne empfahl. Aber sein Chef, Hops Williams, missbilligte Vetternwirtschaft. Da spielte es keine Rolle, wie gut Taylor war oder wie billig – zählte kostenlos überhaupt? Er ließ den Gedanken daran, dass die Frau seines besten Mannes für einen der Kunden arbeitete, nicht zu.
„Nichts, wir versuchen nur, alle Aspekte zu berücksichtigen.“
Nichts? Es fühlte sich nicht an wie nichts. „Hops regt sich auf wegen nichts?“
„Taylor –“ Jack stand auf und ging in die Küche. „Es ist nur die Arbeit.“ Er öffnete die Kühlschranktür.
Sie spürte all das sehr deutlich, empfand es als Zeichen dafür, dass ihre Beziehung im Sterben lag. Am Anfang hatten sie zusammen mit verschlungenen Armen und Beinen im Bett gelegen, während sie über ihre Arbeit sprachen, über ihre Träume, über die witzigen Stellen bei Jimmy Fallon. Dann waren sie Arm in Arm eingeschlafen. Aber jetzt gingen sie zu unterschiedlichen Zeiten zu Bett. Jack mauerte, was seine Arbeit anging, und wenn Taylor sich nicht verrechnet hatte, war es schon eine ganze Weile her, dass sie … nun ja … sich ineinander verschlungen hatten.
„Wie geht es Aarons Neugeborenem?“
Jack drehte den Deckel von einer Flasche Wasser, während er ins Wohnzimmer zurückkam, und lachte leise. „Was glaubst du, warum er mitten in der Nacht Basketball spielen will? Der muss Stress abbauen. Ich nehme an, das Ding hat Koliken oder zahnt oder was weiß ich.“
Das Ding? Eine der Grundsatzdiskussionen, die sie im Wirbel ihrer Gefühle ausgelassen hatten, war die Frage, wie viele Kinder sie haben wollten oder ob sie überhaupt welche wollten. Von seiner Standardantwort „Jetzt nicht“ einmal abgesehen, wusste Taylor nicht, was Jack von Familie hielt.
Und davon abgesehen, dass er seine eigene Familie verabscheute.
Taylor musterte ihn. Sie spürte ihr Herz in der Brust rasen. Sosehr sie es auch versuchte, sie schaffte es einfach nicht, ihre Ehe mit einem realistischen Blick zu betrachten. Jack zog sie immer noch in seinen Bann. Der bekümmerte, nachdenkliche, umwerfend gutaussehende Junge von der Highschool, der mit den verletzten, vernachlässigten Jugendlichen unterwegs war und trotzdem in allen Punkten herausragende Leistungen zeigte. Aus irgendeinem unbekannten, verstörenden Grund hatte sie den Wunsch, nein, das tiefe Bedürfnis, seine Aufmerksamkeit zu erhaschen und zu halten. Sie wollte ihn dazu bringen, sie anzulächeln, wegen ihr zu lächeln, für sie zu lächeln. Sie wünschte sich, in seinen Augen zu sehen, dass sie ihm etwas bedeutete, sein Leben vollständig machte.
„Warum musst du?“, fragte sie ohne Vorwarnung.
Jack schaute kurz zu ihr. „Was muss ich?“
„So … perfekt sein.“
„Perfekt?“ Er zog eine Grimasse und nahm einen Schluck Wasser. „Abgesehen davon, dass ich zu viel Geld ausgebe, meinst du?“
„Jack …“
„Ich bin entschlossen, zielstrebig, genau, vielleicht ein Perfektionist, aber wohl kaum perfekt.“ Noch ein Schluck Wasser. „Perfektion habe ich erst im Kalender stehen, wenn ich fünfundvierzig bin oder so.“ Er grinste und zwinkerte, und eine Hitzewelle überflutete Taylor. „Also entspann dich.“
Hinter seiner Stärke und seinem Selbstbewusstsein erhaschte Taylor einen Blick auf den Jungen aus Heart’s Bend, der mit Dämonen kämpfte, die nur er allein sehen konnte. Er hatte all seine Gaben und einzigartigen Talente darauf verwendet, sich selbst zu heilen; Taylor musste erst noch entscheiden, ob ihm seine Versuche tatsächlich dabei halfen, wieder heil zu werden, oder ob sie ihn nicht sogar noch mehr verwundeten.
War sein spontaner Heiratsantrag nur ein weiteres Heftpflaster für seine Wunden gewesen? Ein weiterer Versuch, seinen Schmerz zu vergessen? Waren sie zu ungestüm gewesen? Zu wollüstig? Von Sinnen?
Ganz zu schweigen davon, dass Jack jede Frau haben konnte, die er wollte. Betonung auf jede. Models. Schauspielerinnen. Schönheitsköniginnen. Sie hatte sich mal seine Freundesliste bei Facebook angeschaut.