Kitabı oku: «Die Hochzeitskapelle», sayfa 4
Er war auf seine mürrische Art zufrieden, er war eben der zähe, aber gewinnende Coach, der alte Junggeselle.
Dann war Peg Branson vor vier Monaten gestorben, was in Jimmy ein neues Interesse für Religion geweckt hatte. Ihm wurde klar, dass er ein alter Mann war, der hoffte, in den Himmel zu kommen, aber reichlich wenig dafür tat, sich tatsächlich Zugang zu verschaffen. Seitdem ging er regelmäßig zur Grace Church und hatte es sogar geschafft, einmal das ganze Neue Testament zu lesen. Jesus hatte eine ganze Menge über die Gefahren der Bitterkeit zu sagen.
Pegs Beerdigung hatte noch etwas anderes in Jimmy geweckt – eine Sehnsucht danach, mit ihrer Schwester Colette Frieden zu schließen. Er hatte die bis auf den letzten Platz besetzte Kirche nach einem Zeichen danach abgesucht, dass sie gekommen war, um sich von ihrer Schwester zu verabschieden, aber zu seiner Enttäuschung ließ sie sich durch ein Blumengesteck vertreten.
Zwischen den Schwestern hatte sich ein großer Graben voller Verletzungen aufgetan. Obwohl Jimmy nie ganz verstanden hatte, warum. Er hatte seinen eigenen Graben, um den er sich kümmern musste.
„Mr. Westbrook, Coach …“ Keith Niven kam winkend auf ihn zu. Eine junge afroamerikanische Frau begleitete ihn. Jimmy war so in seine Tagträume vertieft gewesen, dass er Keiths Auto gar nicht gehört hatte.
„Dieser Ort hier … wow!“ Keith schüttelte Jimmys Hand mit einer Kraft, die zeigte, dass mit ihm zu rechnen war. „Das hier ist Lisa Marie, meine Kollegin. Mann, Jimmy, wann haben Sie das hier denn gekauft? Ich wusste nicht einmal, dass es das hier gibt.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Jimmy ignorierte Keith und schüttelte Lisa Maries Hand. Sie war hübsch, mit einem scharfen Eifer und einem klugen Glitzern in den Augen.
„Mr. Westbrook“, sagte sie. „Diese Kapelle ist unglaublich.“
„Danke schön.“
„Haben Sie sie gebaut?“ Keith schob sein Jackett zurück und hakte die Daumen in seinem Gürtel ein. „Ich bin, ich meine, ich bin völlig von den Socken.“
„Das Fundament habe ich im Sommer 1949 ausgehoben, gleich nachdem ich mit der Highschool fertig war.“
Keith pfiff. Falls er Jimmy für sich gewinnen wollte, machte er das ganz gut. Er liebte jeden, der seine Kapelle liebte. „Was in aller Welt … Im Sommer ’49, ja? Was hat Sie dazu inspiriert?“
„Im Grunde ein Foto.“ Und ein Mädchen. Aber Jimmy würde sich mit der kurzen, einfachen Antwort begnügen. „Ich hatte eine Zeichenklasse in der Schule und machte das Zeichnen von Hochzeitskapellen zu meinem Projekt.“
„Also ist das eine Hochzeitskapelle?“, fragte Lisa Marie und gab Keith einen Klaps. „Hab ich dir doch gleich gesagt.“
Keith sah Jimmy direkt an. „Warum eine Hochzeitskapelle?“
„Weil …“
„Wie heißt sie denn?“, fragte Lisa Marie.
Jimmy räusperte sich. „Wie sie heißt?“
„Das Mädchen, das einen Highschooljungen dazu inspiriert hat, eine Hochzeitskapelle zu entwerfen.“ Er war ja gar nicht leicht zu durchschauen, nein.
„Was bedeutet das?“ Keith schob sich mit den Ellbogen zwischen Jimmy und Lisa Marie. „Es gab ein Mädchen?“
„Ich habe euch doch gesagt, dass mich ein Foto inspiriert hat.“ Jetzt war Jimmy damit an der Reihe, seine Hände in seinem Gürtel aufzustützen. Im selben Gürtel, den er seit sechsunddreißig Jahren durch die Gürtelschlaufen seiner Jeans fädelte. Der Gürtel war womöglich älter als dieser Jungspund Keith hier.
„Was macht sie denn zu einer Hochzeitskapelle?“, stellte Lisa Marie eine berechtigte und gute Frage. „Warum ist sie nicht einfach nur ‚eine Kapelle‘?“
„Weil ich gesagt habe, dass sie eine Hochzeitskapelle ist.“ Jimmy schob das Kinn vor. Ende der Diskussion. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich hier mit Keith zu treffen.
Als er diesen Ort entworfen hatte, hatte er mehr als nur einen Plan für das Gebäude gehabt. Er hatte einen Plan für sein Leben gehabt, einen, zu dem sie gehörte. Weil er Colette Greer mehr geliebt hatte als sich selbst.
Und sie ihn.
„Können wir uns drinnen einmal umsehen?“ Keith zeigte auf den Haupteingang.
Jimmy zog den einzelnen Schlüssel aus seiner Tasche und schloss auf. „Bitte schön.“ Er trat beiseite, um Keith und Lisa Marie den Vortritt zu lassen. Im Chor verliehen sie ihrem Staunen Ausdruck.
Jimmy blieb in der Tür stehen. Die Gefühle saßen ihm dick und rau in der Kehle. Es fühlte sich an, als sei es gestern gewesen, dass er sie hierhergebracht hatte. Es hatte geschneit, die ganze Welt war weiß und leise gewesen. Die Welt hatte sich nur für sie gedreht.
Lisa Marie sah zu Jimmy hin und hielt ihr Telefon hoch. „Stört es Sie, wenn ich ein paar Fotos mache?“
Er schüttelte den Kopf. Wenn er das hier verkaufen wollte, sollte er besser loslassen und sie ihren Job machen lassen.
„Die Handwerkskunst …“ Lisa Marie zielte auf die gewölbte, offene Balkendecke, die Steinwände und den Schieferboden und schoss ein Foto nach dem anderen. „Haben Sie die Steine selbst gehauen?“
Jimmy nickte in Richtung des Teils der Steinmauer, den er aus dem kleinen Vorraum sehen konnte. „Jeden einzelnen.“ Und jeden einzelnen hatte er auch an seinen Platz gesetzt. Mit Freuden.
„Das ist der Wahnsinn.“ Keith stand unter dem Buntglasfenster, das eine Szene mit Christus bei einer Hochzeit zeigte. „Wo haben Sie das her?“
„Aus einer alten Kirche im Zentrum von Nashville. Die wurde während der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissen.“
Keith pfiff leise und versuchte beinahe zu sehr, Jimmy zu beeindrucken. Jimmy setzte sich in die letzte Bank auf der rechten Seite, rubbelte den Schmerz aus seinem bösen Knie und atmete tief ein.
Das Licht des späten Morgens fiel durch die Kuppel auf den Boden der Kapelle, wo winzige Sonnenstrahlen sich zu breiten Lichtstreifen zusammentaten.
„Coach, was hatten Sie denn mit diesem Gebäude vor?“
Mein Mädchen heiraten. Der Gedanke hatte kaum seinen Verstand gestreift, als er es hörte. Das widerhallende Pochen eines Herzens. Bumbum-bum. So stark, so gründlich, dass Jimmy sich an der Bank festhalten musste und um Atem rang.
„Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Coach?“
Jimmy nickte, rutschte aus der Bank, stand auf und ging zur Tür. Das Pochen … dieses widerhallende Pochen …
Er musste hier raus. Fliehen. Wie war das möglich? Dieser Klang? Nach so vielen Jahren.
„Jimmy … Mr. Westbrook?“ Lisa Maries Ruf folgte ihm durch die Kapelle.
Das erste Mal, dass er das Pochen gehört hatte, war sechzig Jahre her gewesen. Es geschah an dem Tag, als Peg mit ihrem Jungen vorbeikam. Er hatte sich gefühlt, als wäre er in einer Episode von Geisterstunde gefangen. Oder als würde er einen verspäteten Anfall von Schützengrabenschock erleiden. Da war er erst zwei Jahre wieder aus Korea zurück.
Aber der Klang war … echt. Viel zu echt. Zu nah. Er hallte in seiner Brust wider. In seinen Ohren. Und auf eine Weise, die Jimmy nicht erklären konnte, fühlte er sich lebensspendend an.
Der Klang, woher er auch kommen mochte, gab ihm Hoffnung. Aber diese Hoffnung brachte nichts zustande, außer eben, dass er sich fragte, ob er den Verstand verloren hatte.
Und er war ja in Korea gewesen. Hatte sich den Waffen des Feindes gegenübergesehen. Aber nichts machte ihm solche Angst wie der Klang eines pochenden menschlichen Herzen.
Soweit er sich erinnern konnte, hatte er den Klang seit jenem Tag mit Peg nie wieder gehört. Jetzt, nach sechzig Jahren, war er wieder da?
Draußen schluckte er Luft. Er war einfach zu alt für solche Mätzchen.
Auf dem Hof schlossen Keith und Lisa Marie zu ihm auf. „Coach?“
„Ihr könnt sie haben, wenn ihr sie kaufen wollt.“ Es war Zeit. Mit dreiundachtzig musste er sich von hartnäckigen, dummen Jungsträumen lösen, musste diesen Klang loswerden. Er wäre das beste Beispiel für einen verrückten alten Mann, wenn er nicht losließe.
„Ja, wir wollen sie kaufen.“
Ein bleischweres Gefühl durchströmte seine Brust. „Wie – wie sehen denn eure Pläne aus?“
Lisa Marie sah zurück. „Ich habe keine Elektrizität gesehen …“
„Gibt keine. Man muss Kerzen und Laternen nehmen.“
„Ach du meine Güte“, seufzte sie und lächelte erst Keith und dann Jimmy an. „Das ist der romantischste Ort, den ich je gesehen habe. Keith, wir können das hier verkaufen.“
„Coach, wir können das Objekt bis nächste Woche im Portfolio aufgelistet haben.“ Keith beugte sich zu ihm, rückte eine Spur zu nahe an ihn heran. Jimmy brachte ihn vorsichtig auf Abstand.
„Jetzt mal ganz langsam, lasst mich darüber nachdenken.“ Vielleicht war ein Verkauf doch nicht so vielversprechend, wie er sich das vorgestellt hatte.
„Reden Sie mit mir. Was wäre denn nötig, damit Sie verkaufen würden?“ Keith verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und wartete.
Jimmy schob die Hände in die Hosentaschen, ging um die beiden dynamischen Makler herum und sah sein altes Mädchen, seine Kapelle, an. Sie war mal ein heiliger Ort gewesen, ein Ort der Versprechen und des Glaubens.
Und doch stand sie nun hier. Still. Abgewiesen. Eine Hochzeitskapelle, in der nie eine Hochzeit stattgefunden hatte. Keine echte jedenfalls. Da war diese eine Nacht mit Colette, bevor er einschiffte …
Jimmy grunzte und bezwang die Erinnerung. War das bei genauerer Betrachtung nicht alles ziemlich erbärmlich?
Die Stunden, die er damit verbracht hatte, auf die Steine einzuschlagen. Die rotgoldenen Morgendämmerungen der Sommertage, an denen er mit einer Thermosflasche Kaffee und einer Tüte Donuts diesen Boden betreten hatte, das Herz voller Träume.
Zwischen den Bäumen, in den Schatten versteckt, lauerten die Erinnerungen an die Stimmen, an den tiefen Bass und das Lachen seines Vaters, an das quirlige Geplapper von Clem – einem der besten Freunde, die ein Mann jemals hätte haben können.
Erbarmen, jetzt traten ihm auch noch Tränen in die Augen, weil er den alten Knaben vermisste. Clem Clemson …
Aber es war alles umsonst gewesen. Alles eitel und ein Haschen nach dem Wind …
Er drehte sich um und sah sich Keith gegenüber. „Ja, okay, lasst sie uns an den Markt bringen.“ Da. Er hatte es gesagt. Laut gesagt. Was ihn anging, war das ein mündlicher Vertrag.
Lisa Marie reckte die Faust in die Luft, und Keiths breites Grinsen sprach Bände.
„Aber keine voreiligen Versprechen“, sagte Jimmy, der mit großen Schritten zur Tür ging, um sie abzuschließen, und nur den tröstlichen Schlag seines eigenen Herzens hörte. Nicht den, der hier herumspukte. Was war das nur? „Ich behalte mir das Recht vor, jeden Käufer abzulehnen. Und der Preis muss stimmen.“
„Natürlich, natürlich. Das können wir machen, Jimmy. Wir werden diesen Ort hier behandeln, als hätten wir die Kapelle selbst gebaut.“
Das war also erledigt. Keith redete über Papiere und Auflistungen, während Jimmy zum Auto ging und sich hinters Steuer setzte.
„Ich melde mich“, sagte Keith.
„Schön, schön, ihr wisst ja offenbar, wo ihr mich findet.“ Jimmy fuhr rückwärts den Weg hinunter, auf die Hauptstraße hinaus, und sein alter Rückenschmerz flammte wieder auf.
Er versuchte mit aller Kraft, an nichts zu denken, als er zu Hause ankam, aber das Lachen und Spielen der Nachbarskinder fielen ihm ins Auge und weckten sein Herz.
Er sah ihnen zu, wiegte den Schlüssel in der Hand, während er langsam zur Küchentür ging.
Zu spät … Die Wahrheit prägte sich in sein Gehirn ein. Das Ziehen in seinem Rücken wurde stärker.
Natürlich war es zu spät. Er war ein alter Mann. Zu spät, um etwas wegen unerfüllter Träume zu unternehmen. Zu spät, um eine Liebe wiederzugewinnen, die längst verloren war. Zu spät für alles, das die Kapelle repräsentierte.
Er, der Footballcoach, der es in die Hall of Fame gebracht hatte, hatte das Spiel des Lebens auf der Ersatzbank verbracht und darauf gewartet, in eine Partie eingewechselt zu werden, die nie begonnen hatte.
Kapitel Sechs
JIMMY
September 1948
Freitagabend unter dem Flutlicht
Mit langen Schritten sprintete er auf die Endzone zu. Heißer Atem wirbelte unter seinem Helm hervor. Den Football hielt er fest gegen seine Rippen gepresst, seine Brust weitete sich mit jedem tiefen Atemzug.
Er linste unter dem Helm zur Seite und sah das Publikum auf den Beinen, die Hände erhoben, der Jubel jedoch unhörbar, sein Puls übertönte alles. Noch zwei Schritte weiter, und er riskierte einen Blick nach hinten, wo er einen Verteidiger aus Bolton vermutete.
Aber er stürmte allein über das Mittelfeld, kein Abwehrspieler in Sicht.
Haha. Jimmy nahm Fahrt auf, verlängerte seine Schritte und … Touchdown!
Das Brüllen der Menge ging ihm durch und durch. Zweihundert Volt menschliche Elektrizität. Er liebte jedes einzelne Kitzeln und Britzeln davon. Er donnerte den Ball auf den Boden, riss die Arme hoch und ließ den tiefsten, wahrsten, herzzerreißendsten Urschrei fahren.
„Go, Rockets!“
Von hinten traf ihn etwas Schweres, das ihn zu Boden warf. Jimmy hörte gerade noch Clems Stimme, bevor er unter einem Haufen Mannschaftskameraden begraben wurde, die ihm auf Helm und Schulterpolster klopften, durcheinanderschrien und lachten.
Er hatte es geschafft. Den Siegtouchdown erzielt. Auf der Uhr waren nur noch zehn Sekunden übrig. Das hier, genau jetzt, war der Zauber eines Freitagabends unter dem Flutlicht. Möge er niemals enden.
Die Pfeife des Schiedsrichters bereitete dem Freudentaumel ein Ende, und Jimmy kroch unter dem Stapel hervor. Er rannte zur Bank, während die Spieler des Special Teams sich für einen Zusatzpunkt aufstellten. Die Zuschauer jubelten, als der Ball zwischen den Pfosten hindurchsegelte.
Coach Wilmer klopfte Jimmy im Vorbeigehen auf den Helm. „Gute Arbeit, mein Junge. Los geht’s, Defense. Haltet sie noch für zehn kümmerliche Sekunden auf. Meint ihr, ihr schafft das?“
Jimmy nahm den Helm ab und sah nach, ob er auf den Zuschauerrängen seinen Vater finden konnte. Ein weiterer Grund, warum er die Footballsaison liebte, war, dass er die Beziehung zu seinem Vater vertiefen konnte. Der machte nicht viele Worte, weshalb die Tatsache, dass er kein Spiel verpasste, Bände sprach.
Jimmy entdeckte ihn auf halber Höhe in der Mitte. Mit den Händen in den Taschen stand er da. Zigarettenrauch kräuselte unter der Hutkrempe hervor.
Er erwiderte Jimmys Blick mit einem einzigen Nicken. Das war dann auch das Äußerste der Gefühle – Grunzen und Nicken. Dad behauptete, die Weibsbilder seien für den Weicheierkram zuständig, zum Beispiel dafür, die Väter anzustupsen, damit die ihre Söhne in den Arm nahmen und so was sagten wie: „Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.“ Aber seitdem Mama abgehauen war, hatten sie keine Weibsbilder mehr zu Hause – außer Nana, die sonntags kam, um das Essen zu machen –, also packte Dad die Liebe in das Nicken und die Handschläge.
Obwohl es da mal diesen unangenehmen Moment gegeben hatte, als Jimmy dreizehn war und Dad ihn dazu brachte, sich zu einem Gespräch mit ihm hinzusetzen. Jimmy wand sich, weil er dachte, Dad würde gleich mit den Bienen und den Blümchen anfangen.
Stattdessen räusperte er sich und …
„Ich werde dir das jetzt sagen, weil deine Nana mir deswegen in den Ohren gelegen hat. Also … ich liebe dich, du bist mein Sohn … und ich bin stolz auf dich. Das ist mir ernst, jetzt und für immer. Egal, was kommt.“
Jimmy stürzte einen Becher Wasser hinunter und setzte sich ans Ende der Bank. Irre, welche Gedanken einem nach einem Touchdown durch den Kopf gingen. Da hatte die ganze Rennerei anscheinend sein Gehirn ein bisschen zu sehr aufgeschüttelt, sodass die Erinnerungen durchsickerten.
Er trank sein Wasser aus, warf den Pappbecher in den Müll und feuerte die Abwehr an, als Bradley den Quarterback erwischte. Die Wildcats hatten keine Chance. Nicht, wo nur noch fünf Sekunden übrig waren und die Defense der Rockets unter Strom stand.
„Westbrook, hier rüber.“ Clem winkte ihn zu sich und dem Rest der Mannschaft an die Nulllinie herüber.
Auf dem Weg dorthin warf Jimmy noch einen Blick auf die Zuschauerränge und blieb abrupt stehen, als er sie sah. Sie ging gleich auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns vorbei. Sie lachte, und ihr Haar glänzte im Licht des Stadions.
Clems Cousine. Das Mädchen von dem Foto. Er hatte sie am Tag ihrer Ankunft gesehen, als sie mit ihrer Schwester ins Haus der Clemsons eingezogen war. Aber Dad hatte ihn zur Arbeit verdonnert, daher hatte Jimmy keine Zeit gehabt, anzuhalten und sie richtig in Heart’s Bend zu begrüßen.
In der Schule erfuhr er ihren Namen. Colette. Der schönste Name, den er je gehört hatte. Und in den letzten drei Wochen war er immer wieder an ihr vorbeigelaufen, in den Fluren, nach dem Essen, auf seinem Weg zum Matheunterricht. Er sagte Hi, aber sie hielt ihren Blick gesenkt und ihre Bücher fest im Arm.
Clem sagte, sie seien so still wie kleine Mäuschen, Peg und Colette, und doppelt so traurig.
„Die Armen, die haben im Krieg alles verloren. Erst ihre Mutter in der Luftschlacht um England. Dann ihren Vater in der Luftschlacht um Berlin. Der wurde abgeschossen.“
Kurz bevor sie die Treppe zur Tribüne hinaufging, drehte sie sich um und sah ihn direkt an. Als wären sie Liebende auf einer Kinoleinwand. Jimmys Herz klopfte lauter und schneller als vorhin, als er zum Touchdown gesprintet war. Sofort überkam ihn der Wunsch, noch einen Touchdown zu machen, extra für sie.
Der letzte Pfiff ertönte, und die Fanfare dröhnte in der kalten Abendluft. Das Spiel war beendet. Die Rockets hatten gewonnen!
Jimmy schnappte sich seinen Helm und rannte in die Kabine. Alle Gedanken an sie schob er beiseite und zwang sich, sich im Sieg seiner Mannschaft zu sonnen. Feiere!, sagte er sich selbst. Hör auf, ein Mädchen anzuschmachten.
Der Coach stand auf einer Bank und lenkte mit einem schrillen Pfiff die Aufmerksamkeit auf sich. Den Ball in seiner ausgestreckten Hand haltend, sagte er: „Game Ball: Jimmy Westbrook. Der beste Lauf, den ich seit langem gesehen habe. Weiter so.“
Die Jungs explodierten, jubelten, ihre Stimmen echoten von den Wänden: „Jimmy … Jimmy … Jimmy.“
Er grinste und wich seinen Freunden und ihren rabiaten Rückenklopfern spielerisch aus. Er hatte den Game Ball verdient! Da würde Dad vielleicht doch noch ein Knopf vom Hemd springen.
Weniger als eine halbe Stunde später war er geduscht und umgezogen. Seine dreckigen Sachen steckten in der Sporttasche. Der letzte Spieler war schon raus aus der Umkleide. Jimmys großer Abend war vorbei. War Geschichte.
Er war der Letzte, der rausging, löschte das Licht und machte sich auf den Heimweg, einer Brise entgegen, in der sich der Duft des Spätsommers mit dem des nahenden Herbstes vermischte. Mondlicht erhellte auch die dunkelsten Schatten.
So gut er konnte, hielt er sich an seinem Triumph fest, wie er den Ball fest im Arm hielt. Er wollte irgendetwas tun, irgendwohin gehen.
Er war noch nicht bereit dafür, den Abend für beendet zu erklären. Aber Moment um Moment verstrich er einfach. Die anderen Jungs waren jetzt alle zu Hause oder mit ihren Freundinnen unterwegs. Fast alle seiner Freunde hatten Mütter und Väter zu Hause, Geschwister. Um diese Zeit stellten sie sich vermutlich darauf ein, sich gleich mit einer großen Schüssel Popcorn eine Spielshow im Fernsehen anzuschauen.
Jedenfalls war das im Hause Clemson so. Wo Colette wohnte.
Colette … Colette. Er bewegte den Namen in seinem Kopf hin und her und ließ dann Silbe für Silbe über seine Lippen streichen. „Co-lette.“ Ihr Name war so hübsch wie ihr Gesicht.
Vielleicht konnte er noch mit Dad feiern, Popcorn essen, ein bisschen Radio hören. Dad war noch nicht in den Kreis der Fernsehbesitzer eingestiegen. „Der ganze Krach im Haus, wofür soll das gut sein?“
Noch eine Meile bis nach Hause, eine Meile, während der er seinen Touchdown immer wieder erlebte. Jimmy wusste, dieser Moment würde ihm für den Rest seines Lebens bleiben. Und das brachte ihn dazu, mehr zu wollen.
Er durchquerte die Hinterhöfe der Bostics und der Pilpotts, ging über die Straße und sprang schließlich die Stufen hinterm Haus zur Küchentür hinauf. Hinter ihm fiel die Fliegengittertür zu.
„Hey, Daddy, bist du zu Hause?“ Jimmy drapierte seine Lettermanjacke über die Lehne eines Küchenstuhls und legte den Football in die leere Obstschale. Das Haus war dunkel, nur im Wohnzimmer brannte eine einzige Lampe. „Dad? Haben wir Popcorn?“
Jimmy öffnete alle Schränke und durchforschte die Speisekammer. Leer. Wann waren sie eigentlich zuletzt einkaufen gewesen? Mist, er hatte sich irgendwie auf Popcorn eingeschossen.
Er nahm den Football, um ihn seinem Dad zu zeigen, aber als er näher kam, sah er, dass sein alter Herr in seinem Sessel tief und fest eingeschlafen war. Ein Buch lag offen auf seiner Brust.
Jimmy stupste vorsichtig seinen Fuß an. „Du kriegst noch einen steifen Nacken, wenn du so schläfst, Dad.“
„Wa-was?“ Orie Westbrook schreckte mit einem Schnarcher hoch und fuhr sich mit der Hand durch sein dickes Haar. „Hallo, Sohn.“ Jimmy konnte das nicht wirklich beurteilen, aber er fand, sein Dad sah eigentlich ganz stattlich aus, vielleicht konnte man sogar von gutaussehend sprechen, so wie bei John Garfield oder so. Die Frauen in der Stadt schienen ihm alle immer einen zweiten Blick zu schenken, wenn er vorbeiging, und sie sagten seinen Namen immer irgendwie so süßlich. Heeeey, Orie. „Wann bist du denn nach Hause gekommen?“
„Gerade eben. Der Coach hat mir den Game Ball gegeben.“ Jimmy ließ den Ball zwischen den Händen kreiseln und dann aufs Sofa fallen.
Dad senkte die Fußstütze und schüttelte den Schlaf ab. „Gratuliere.“
„Wie wäre es, wenn wir irgendwas machen, Dad? Du weißt schon, feiern und so.“
„Was zum Beispiel?“ Dad ruckte mit dem Kinn zum Ball. „Ich kann eine Vitrine dafür bauen, wenn du willst.“
„Klar, ja, das wäre super.“ Als passe sein Herrlichkeitsmoment in einen Glaskasten. Dads freundliche Geste nahm Jimmys Enthusiasmus die Luft.
„Ich habe noch das alte Holz von den Bäumen, die wir gefällt haben, in der Scheune. Gutes, solides Walnussholz.“ Dad stemmte sich aus seinem Sessel hoch, streckte sich und gähnte. „Ist da noch was von der Erdbeer-Pastete übrig?“
Dad war kein großer Koch, aber Pasteten liebte er, und deshalb hatte er die Kunst der Teigherstellung gemeistert. In dem Sommer, als Nana ihm das beibrachte, hatte Jimmy so viele trockene, verbrannte und wässrige Kirsch-, Apfel-, Erdbeer-, Pfirsich-, Pekanuss- und Kürbis-Pasteten gegessen wie noch niemals sonst in seinem Leben.
Damals hatte er ihnen den Rest des Jahres abgeschworen. Aber heute? Dads Pasteten waren besser als die aus der Bäckerei.
„Lass uns doch ins Kino gehen. Oder in die Milchbar.“
„Den Film haben wir doch schon gesehen. Das wäre jetzt nicht einer, für den ich noch einmal einen Groschen ausgeben würde. Zu meiner Zeit hat das ja nur so viel gekostet, das Kino. Einen Groschen.“
„Das hast du erzählt, ja.“
„Und was soll ich denn in der Milchbar?“ Jimmy hörte, wie die Kühlschranktür aufging und wieder geschlossen wurde. „Morgen muss ich früh raus. Und du auch, Junge. Wir holen Steine aus Crawfords Feld. Ich werde deine Hilfe brauchen.“
„Ich will aber nicht meinen ganzen Samstag damit zubringen, Kalksteine aus Crawfords Feld zu holen. Ich weiß auch gar nicht, warum du das machst. Du hast doch eine gute Arbeit als Gutachter. Ich weiß nicht, was du mit all den Steinen anfangen willst.“
Sie hatten ihre eigenen gut vier Hektar Land, mit denen Dad nichts anderes anfing, als im Sommer mit einem Traktor darüberzufahren und das Gras zu mähen. Er hatte das Grundstück mit Kalkstein eingefasst, und das war’s dann auch schon. Ansonsten füllte er ihre Scheune mit Stein und Bauholz, ohne ersichtlichen Grund.
„Achte auf deinen Tonfall.“ Dad kam mit einem Stück Pastete auf dem Teller ins Zimmer. „Man weiß nie, wofür die Steine eines Tages noch gut sind.“ Er betrachtete Jimmy. „Um sechs geh ich los. Sei bereit.“
„Warum muss ich mir den Rücken krumm machen, meine Zeit vergeuden und deine Steine vollschwitzen?“
„Weil das auch deine Steine sind. Hast du mal darüber nachgedacht, dass du vielleicht eines Tages heiraten und eine Familie haben wirst? Ich habe zweieinhalb Hektar, die ich dir geben will. Das Material, das ich sammle, das ergibt ein schönes Haus für deine Frau. Das spart auch ganz gut Geld. Na, jedenfalls wenn du irgendwann mal gut genug riechst, damit ein Mädchen mit dir ausgeht.“ Dad runzelte Stirn und Nase.
„Hey, ich hab geduscht nach dem Spiel.“
„Trotzdem musst du morgen früh um sechs fertig sein. Ich geb dir ein Frühstück bei Ella’s aus.“
Essen war nur eine kleine Motivation, aber es reichte. „Dann will ich aber extra Speck“, sagte Jimmy, ging zum Fenster und ließ Dad sich sein Gebäck in den Mund schaufeln.
Mit der Spitze des Footballs schob er die Gardine zurück und starrte in Richtung des Hauses der Clemsons. Drei breite Straßen entfernt war ein Mädchen, das sein Herz zum Flattern brachte, und das saß vielleicht gerade mit einem anderen Jungen auf der Couch.
Eine Flamme der Eifersucht brannte sich durch die dünne Schicht Selbstvertrauen, die das Footballheldentum mit sich gebracht hatte. Colette war das einzige Mädchen, das ihm im Matheunterricht jemals die Konzentration geraubt hatte. Trotzdem hatte er noch nicht den Schneid aufgebracht, mit ihr zu sprechen, außer mal „Hallo“ oder „Tschüss“. Er musste irgendwie Mut zusammenkratzen, sonst würde er als alter Junggeselle enden wie sein Dad. Nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, hatte er nie wieder eine andere auch nur in Betracht gezogen.
Jimmy nannte sie nicht Mama. Weil sie nie eine gewesen war. Sie war nur eine Frau, die ein Baby zur Welt gebracht hatte und dann auf und davon war, um Ruhm und Reichtum zu suchen.
Vom Fenster aus betrachtete Jimmy seinen Vater eine Weile. Der Stein, das Bauholz …
„Dad“, sagte er leise, langsam. „Sie kommt nicht mehr wieder, weißt du?“ Sein alter Herr starrte auf seinen leeren Teller. „Ich weiß nicht, warum du deine Zeit damit vergeudest, deinen und meinen Rücken kaputtzumachen und Baumaterialien für ihr Traumhaus zu sammeln, wenn sie seit einem Dutzend Jahren nicht mehr hier aufgetaucht ist. Und wenn sie’s täte, würden wir sie überhaupt wollen?“ Jimmy ganz bestimmt nicht. Nur daran zu denken bereitete ihm schon üble Bauchschmerzen. „Wie wäre es denn mit Miss Jackson, die unten bei der Bank arbeitet? Die würde mit dir ausgehen, wenn …“
„Ich warne dich, James Allen.“ Dad nannte ihn bei seinem vollen Namen und raubte Jimmys Draufgängertum den Schwung. Er benutzte nie seinen vollen Namen. „Du bist sechzehn, aber ich kann dich immer noch mit raus zum Holzschuppen nehmen, falls das nötig sein sollte.“ Dad ging in die Küche, und es klang, als hätte er seinen Teller in die Steingutspüle gepfeffert. „Verdirb dir nicht deinen großen Abend, werd nicht frech. Dein Opa hätte mich längst einmal durchs Zimmer geprügelt.“
„Ich meine das nicht respektlos.“ Jimmy ließ sich unruhig gegen die Wand fallen. Ihn juckte es, sich zu bewegen, etwas zu unternehmen. Nein, was ihn juckte, war, dass er bei Colette sein wollte. Nicht im Dunkeln mit seinem Vater. Nicht heute Abend.
„Was sagst du, wenn ich zu Clem rübergehe?“ Wenn er an dem Abend, an dem er ein Held war, nicht mit Colette sprechen konnte, würde er es nie tun. „Die anderen treffen sich da, weißt du, so nach den Spielen.“
Jimmy war letztes Jahr ein paarmal hingegangen, aber er ließ Dad nicht gerne alleine am Freitagabend, der dann nur wieder auf seiner Anlage Frank Sinatra oder Bing Crosby hörte, die ihre Liebeslieder schmachteten. Das schien ihm irgendwie bemitleidenswert. Jimmy schüttelte den Kopf. Er verstand es einfach nicht. Dad mochte die Balladen, aber er machte nie einen Schritt Richtung Romantik.
„Werden Fred und Jean dort sein?“, fragte Dad, der sich auf den Weg zur Treppe machte.
„Wo sollten sie sonst sein?“ Jimmy strebte zur Küche, holte seine Jacke und glättete mit der freien Hand sein Haar. Unter dem anderen Arm hielt er immer noch den Ball. „Meinst du, die würden Clem zu Hause allein lassen? Mit einer Horde Footballspieler?“
„Schätze nicht.“ Dad machte einen Schritt die Treppe hoch. Seine Hand ruhte auf dem Geländer, sein Gesicht lag im Schatten. „Sei nicht wütend, Jimmy. Sei nicht wütend auf deine Mama. Du hast sie nicht gekannt. Sie war eine gute Frau.“
„Sie hat uns verlassen. Wie gut kann sie da sein?“
„Sie war … voller Leben. Ein Freigeist. Zu hübsch für ihr eigenes Wohl. Und klug.“ Kopfschüttelnd pfiff er. „Sie hätte aufs College gehen können, wenn sie nicht in anderen Umständen gewesen wäre.“
„Das war nicht mein Fehler.“ Er hatte die Geschichten gehört, wie Mama, die Jahrgangsbeste, am Tag ihrer Diplomübergabe schwanger war. Über den Sommer, in dem Mama ihr Collegestipendium aufgab, um Dad zu heiraten – dem ihr Vater wiederum die Pistole an den Kopf hielt.
„Nein, das war meiner. Mein Fehler.“ Dad verschwand auf der dunklen Treppe und machte sich nicht einmal die Mühe, das Flurlicht einzuschalten, als er oben angekommen war.
Jimmy war es egal, wessen Fehler es war. Und während er so gar keine Erfahrung mit dem Kindermachen hatte, war er sich doch ziemlich sicher, dass da immer zwei dazugehörten. Es war einfach nicht richtig, was Vera getan hatte: Dad sitzenzulassen und ihn so fertigzumachen. Und Jimmy zu verlassen.
Aber Dad sah die Schuld nur bei sich selbst. Diese Last ließ ihm gerade noch genug Herz dafür, arbeiten zu gehen und abends wieder nach Hause zu kommen. Sonst für nicht viel. Mit seinen fünfunddreißig Jahren war er ein alter Mann.