Kitabı oku: «Memory House», sayfa 2
KAPITEL 2
Bruno
Januar
Scooba, Mississippi
Für einen Jugendlichen mit einer unglücklichen Kindheit war doch etwas aus ihm geworden. Er hatte seinen Abschluss an der Florida State University mit Auszeichnung gemacht und es in den Law Review geschafft, mit dem besten Spielerberater aus der Branche, Kevin Vrable, als Mentor, der ihm einen Wohnsitz in Beverly Hills beschert hatte – Yeah.
Eine Zeit lang hatte er nach dem Motto „Was kostet die Welt …“ gelebt.
„Ich mache dich zum besten Sportagenten der gesamten Branche.“
„Wenn ich mich zur Ruhe setze, gehört das alles dir, Bruno.“
„Du bist begabt, mein Junge. Hast einen guten Instinkt.“
Doch letztes Jahr war es dann immer mehr bergab gegangen und zwar eigentlich aus keinem anderen Grund als Kevins Ego. Immer häufiger hatte er Bruno ausgeschlossen, hatte seine Abschlüsse gemacht und dann sowohl das Geld als auch den Ruhm für sich selbst eingeheimst – und zwar nur für sich selbst.
Darüber hatte Bruno bis zu dem Moment geschwiegen, als Kevin seine Boni gekürzt hatte. Im Vorjahr hatte Bruno nur noch einmal einen Bonus ausgezahlt bekommen, und als Bruno ihn deshalb zur Rede gestellt hatte, war er von Kevin gefeuert worden. Damit war seine acht Jahre lange Karriere bei Watershed Sports beendet.
Kevin Vrable war ein kleinkarierter, neidischer, gieriger Mann, für den es keine moralische Verpflichtung war, seine Versprechen zu halten, aber Bruno hatte all die gebrochenen Versprechen überlebt.
Am Boden zerstört und völlig fassungslos hatte er beschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen. Schließlich war er seit drei Jahren einer der besten und erfolgreichsten Spielerberater im Land. Er hatte Einfluss, einen hervorragenden Ruf, Branchenkenntnis und Know-how.
Und das war der Grund, weshalb er jetzt in einem billigen Mietwagen saß und auf dem Weg nach Scooba, Mississippi, war, einem Ort mit sechshundertsiebenundneunzig Einwohnern.
Sein Kumpel Stuart Strickland hatte ihn mit einer selbst aufgemotzten Gulfstream Maschine zum Golden Triangle geflogen, den Rest des Weges legte er in einem klapprigen Mietwagen auf Landstraßen zurück.
„Da sind Sie ja. Gut. Das ist gut“, begrüßte Coach Brown ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Bruno reckte und streckte sich, nachdem er aus dem Auto gestiegen war, und der kalte Wind erfrischte seine warmen, reisemüden Beine. „Danke, dass Sie den weiten Weg zu uns auf sich genommen haben. Ich hatte schon fast damit gerechnet, dass Sie es sich doch noch anders überlegen.“
„Das hätte ich auch beinah“, erklärte Bruno, hängte sich seine Ledertasche um und schlug die Autotür zu. „Ihnen ist aber schon klar, dass Sie hier am Ende der Welt sind, oder?“ Er fiel mit dem Coach in einen Gleichschritt und betrat mit ihm den Verwaltungstrakt der Trainingshalle. Das Geräusch der Absätze seiner Slipper auf dem Fliesenboden hallte von den Wänden des Ganges wider.
„Jap. Das hier ist tiefste Provinz“, bestätigte Coach Brown, gab Bruno mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er seine Tasche in seinem Büro abstellen sollte, und ging dann mit ihm zusammen den Gang hinunter. „Aber wir haben ein großartiges Football-Programm.“
„Und Ihnen ist hoffentlich auch klar, dass ich nur hier bin, weil ich Calvin Blue einen Gefallen tun will, oder?“ Calvin von der Florida State University war der Protoptyp eines amerikanischen Footballspielers. Ein Spieler, den Bruno und seine neu gegründete Agentur Sports Equity unbedingt brauchte.
Der Spieler auf der Tailback-Position würde diesen April in die erste Runde des NFL-Drafts, dem Auswahlprozess der neuen Spieler, gehen, das bedeutete für Calvin das ganz große Geld, und für Bruno auch, vorausgesetzt, er konnte den Jungen überreden, bei ihm zu unterschreiben. Außerdem würde dadurch Brunos Ruf in der Branche wiederhergestellt werden.
Es war ja das Eine, dass er sich von Kevin und Watershed getrennt hatte, um selbst eine Sportleragentur zu gründen, aber gegen die bösartigen Gerüchte anzugehen, die Kevin streute, um Misstrauen bei den Kontaktpersonen des Profisports für die Top-Universitäten zu säen, war noch mal etwas ganz anderes.
„Es läuft nicht mehr bei ihm.“
„Er kriegt keine Abschlüsse.“
„Eine Ein-Mann-Agentur? Was soll denn das? Der kann doch gar nichts für deine Jungs tun. Der pfeift aus dem letzten Loch.“
Trotzdem machte er mit seinem Einfluss, seiner Schlagkraft, seinem guten Ruf und seinem Können weiter mit.
„Calvin ist ein guter Junge“, sagte Coach Brown. „Hat Talent. Ich bin wirklich dankbar, dass er versucht, seinem alten Teamkameraden zu helfen.“ Brown leitete ein Programm am Junior College, das Jungs, die – aus welchen Gründen auch immer – im Sportprogramm eines großen Colleges gescheitert waren, wieder zurücknahm. „Haben Sie sich die Videos angeschaut, die ich Ihnen geschickt habe? Dieser Tyvis … der hat alles, was man braucht.“
„Ja, ich hab mir die Videos angesehen. Der hat schon einen ganz ordentlichen Wurf, aber meine Hauptsorge ist der Grund, weshalb er hier bei Ihnen ist.“ Bruno ging mit dem Coach durch den Kraftraum zum Trainingsplatz nach draußen und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu, um sich gegen den Wind zu schützen.
„Er hat ein Aggressionsproblem. Ist ein paar Mal Trainern gegenüber ausgerastet und er hat einen Kiosk überfallen. Vor Gericht hat er wirklich Gott auf seiner Seite gehabt, denn der Richter hat ihn nur zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt, verbunden mit der Auflage, das ganze erbeutete Geld zurückzuerstatten. Seine Auflagen hat er alle erfüllt. Er hat das gesamte letzte Jahr gearbeitet, um das Geld zurückzuzahlen, und dann ist er hier aufgetaucht.“
Browns Aufgabe in dem angesehenen Community College, auch Junior College, kurz JUCO, genannt, bestand darin, die Jungs wieder auf die richtige Bahn und dann wieder zurück in die großen Sportprogramme der renommierten Colleges zu schicken, in denen sie die Chance bekamen, irgendwann in der National Football League, der NFL, zu spielen.
Brown erklärte Bruno, dass Tyvis Pryor sein liebster und bester Schützling sei.
„Und Sie haben ihn in nur einer Saison wieder hinbekommen?“
„Ich will ja nicht prahlen“, sagte der Coach grinsend. „Aber er hat einen Notendurchschnitt von Zwei plus und ist gleichzeitig der beste Passgeber in seiner Liga geworden. Hat alle Rekorde gebrochen.“
Ungefähr an der Fünfzig-Yard-Linie sah Bruno einen kräftigen Jugendlichen mit langen Armen, stämmigen Beinen und einem eleganten Wurf.
„Ein Meter achtundneunzig, hundertfünf Kilo“, sagte der Coach. „Ich sag Ihnen, das ist der nächste Tom Brady. Und keiner will ihn sich auch nur anschauen.“
„Er ist ein JUCO-Kid, Coach. Natürlich guckt ihn sich keiner an. Wenn er wirklich so gut ist, dann schicken Sie ihn doch auf die FSU, die Florida State University, oder runter nach Florida. Die brauchen da einen Quarterback.“
„Aber er ist schon zweiundzwanzig und möchte eine Chance bei den Profis.“
Klar wollte er das. So wie jeder andere College-Student.
„Ihm ist aber schon klar, dass Aschenputtel ein Märchen ist, oder?“ Bruno verfolgte den Ball, der sich auf ein schmales Ziel zuschraubte.
Nachdem Bruno sich jetzt seit anderthalb Jahren abmühte, hatte er genau zwei Klienten unter Vertrag. Wenn er in dieser Rekrutierungsphase nur einen JUCO-Kandidaten unter Vertrag bekam, konnte er Sports Equity dichtmachen, und dann hätten Kevin Vrable und Brunos Vater recht behalten.
Dann wäre Bruno Endicott wirklich ein Nichts.
„Haben Sie gesehen, wie er den Ball zum Ziel gezwirbelt hat?“ Bruno schüttelte das Wort Nichts ab und konzentrierte sich wieder auf den Coach. „Er hat von der Fünfzig-Yard-Linie aus getroffen. Kommen Sie schon, geben Sie ihm eine Chance.“
„Ja, warum nicht?“, gab Bruno schließlich mit steifer Haltung und vor dem Oberkörper verschränkten Armen nach, während er Tyvis zusah.
Das gesamte Projekt hier strahlte irgendwie Verzweiflung aus. Kein Spielerberater, der auch nur einigermaßen bei Verstand war, hätte einen Spieler aus dem Junior College unter Vertrag genommen, denn das kam einem beruflichen Selbstmord gleich.
Doch wenn ein Vertrag mit Tyvis Pryor ihm das Wohlwollen von Calvin Blue einbrachte, des Spielers, den Bruno eigentlich haben wollte, dann würde er es vielleicht tatsächlich machen.
„Komm schon, Calvin, mach’s wie dein Freund und komm zu Sports Equity und dann bringen wir mal ein bisschen Leben in die NFL.“
In dem Moment blies der Coach in seine Trillerpfeife, winkte Tyvis zu sich an die Seitenlinie und rief: „Ich hab hier jemanden, den ich dir gern vorstellen möchte“, woraufhin der Quarterback vom Feld getrabt kam. „Das hier ist Bruno Endicott, der Spielerberater, von dem ich dir erzählt habe.“
Bruno begrüßte den Spieler mit einem Männerhandschlag und sagte: „Dein Kumpel Calvin lobt dich in den höchsten Tönen.“
Tyvis lächelte nur ganz kurz, aber es war ein echtes Lächeln. „Wir sind seit unserem ersten Jahr an der Florida State Freunde.“ Seine Stimme passte zu seiner Statur und seiner Spielweise – dröhnend, elegant und kontrolliert. „Er hat mir erzählt, dass Sie mal einer der Top-Spielerberater im Land gewesen sind und bei Watershed gearbeitet haben.“
„Einer der Top-Spielerberater bin ich immer noch.“ Angeberei half eigentlich immer. „Kennst du Jack Stryker? Luke Mays? Dustin Clever?“ Bei jedem der großen Namen aus der NFL bekam der Junge größere Augen und einen hoffnungsvolleren Blick. „Ich habe mit allen die Verträge ausgehandelt.“
„Das sind schon ein paar ernst zu nehmende Spieler.“
Bruno gab Tyvis seine Karte und sagte: „Ich habe jetzt meine eigene Agentur. Sports Equity.“
„Fernandina Beach, Florida?“, fragte der Junge erstaunt, als er die Visitenkarte las. „Wo ist denn das?“
„Ein bisschen außerhalb von Jacksonville.“ Jetzt stellte der Junge ihm schon die Fragen.
„Was ist denn an der FSU vorgefallen?“, fragte er Tyvis als Nächstes. Obwohl Coach Brown ihn schon aufgeklärt hatte, wollte Bruno Tyvis’ eigene Version hören.
„Könnten wir uns vielleicht auf den Weg zum Essen machen, Gentlemen?“, fragte der Coach und schlug Bruno mit der flachen Hand auf den Rücken. „Meine Frau macht die beste Lasagne, die Sie jemals gegessen haben, und mir läuft schon beim Gedanken daran das Wasser im Mund zusammen. Lassen Sie uns zu mir nach Hause fahren, dann können wir beim Essen weiterreden. Wann haben Sie denn das letzte Mal ein hausgemachtes Essen bekommen?“
„Lassen Sie mich nachdenken ... Welches Jahr haben wir noch mal?“, fragte Bruno grinsend.
Als Spielerberater war er ständig unterwegs und lebte aus dem Koffer, sodass er meistens aus Tüten oder Schachteln aß. Wenn er zu Hause war, kochte seine Mutter manchmal für ihn, aber ihr Job bei Mrs. Acker war ziemlich anstrengend und kochen gehörte nicht unbedingt zu ihren Prioritäten.
„Ab unter die Dusche, Tyvis, während ich Bruno deine Leistungsstatistik zeige.“
Der junge Mann nickte daraufhin und trabte Richtung Trainingshalle davon.
„Der Junge rennt immer“, sagte der Coach und deutete Bruno mit einer Geste, ihm in sein Büro zu folgen.
Trotz seiner Vorbehalte war Bruno von dem, was Tyvis auf dem Platz gezeigt hatte, beeindruckt. Der Junge war schnell, hatte gute Füße und werfen konnte er auch.
Wenn er vom richtigen College mit dem richtigen Coach käme, wäre Tyvis vielleicht tatsächlich ein Kandidat. Bei dem bisschen, das er an diesem Nachmittag gesehen hatte, war das schwer zu beurteilen, aber als Spieler von einem Junior College und dann noch mit einer problematischen Vergangenheit … Eigentlich sah Bruno für den Jungen keine Zukunft.
„Also, Bruno, was ist bei Watershed passiert?“, fragte der Coach, als sie das kleine quadratische Büro betraten, das mit Ausrüstungsgegenständen und Papieren vollgestopft war.
„Es gab Meinungsverschiedenheiten.“
„Gibt es denn überhaupt jemanden, der mit Vrable keine Meinungsverschiedenheiten hat?“, fragte der Coach und setzte sich. „Ich habe gehört, dass Ihre Mutter krank war.“
„Ja, sie hatte einen Autounfall. Sie hatte sich an zwei Stellen das Bein gebrochen und brauchte mich damals, Kevin nicht.“
„Und Sie sind wieder nach Hause gezogen, um sich um sie zu kümmern?“
„Ja, so in etwa“, sagte Bruno, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie acht Jahre bei Watershed damit enden konnten, dass Kevin ihn vor der gesamten Belegschaft von Watershed niedergebrüllt hatte.
„Du bist ein Nichts, Endicott.“
„Hier sind seine Leistungsstatistiken von der FSU und vom Junior College, also seine Zeit über vierzig Yards, seine vertikale Sprungkraft und seine Werte beim Bankdrücken … Aber sehen Sie selbst.“
Bruno nahm den Hefter und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten stand. „Und er will nicht erst ein Jahr an einem College mit einer Footballmannschaft in der ersten Liga spielen?“
„Wie gesagt, er ist mit zweiundzwanzig schon ziemlich alt und möchte es lieber gleich in der NFL versuchen. Für ihn heißt es: jetzt oder nie. Jedenfalls sieht er es so. Sie wissen ja wahrscheinlich, wie es ist, wenn man unbedingt eine Chance braucht.“ Dabei zog der Coach fragend die Augenbrauen hoch, als wollte er sagen: „Haben Sie mich verstanden?“
„Sie beide haben viel gemeinsam, wissen Sie das?“, fuhr der Coach fort.
„Tyvis und ich? Was denn zum Beispiel?“, fragte Bruno erstaunt.
„Sein Vater hat die Familie verlassen und ist ein paar Jahre später dann gestorben, so wie Ihrer. Sie sind wieder zurück nach Hause gegangen, um sich nach dem Unfall um Ihre Mutter zu kümmern, Tyvis geht nach dem Training noch arbeiten, damit er seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder finanziell unterstützen kann. Letzten Sommer hat er in drei Jobs gearbeitet und ist dann am ersten Trainingstag in der besten Form aufgelaufen, in der ich ihn jemals erlebt habe.“
Coach Brown wühlte in irgendwelchen Papieren, schob Sachen hin und her und zog schließlich ein Bild von Tyvis hervor. „Können Sie sich vorstellen, wie der mit richtigem professionellem Training aussehen würde? Der ist für Football wie gemacht, Bruno.“
Bruno ließ seinen Blick über das unscharfe Bild schweifen, das offenbar auf einem einfachen Drucker ausgedruckt worden war. Die richtige Körperstatur hatte Tyvis auf jeden Fall, aber das machte ihn noch längst nicht zu einem Profi-Quarterback.
„Und genau wie Sie“, fuhr der Coach fort, „will er mehr. Er ist erfolgshungrig und gibt nicht auf, bevor ihm nicht die allerletzte Tür vor der Nase zugeschlagen wird.“
Coach Brown erkannte einfach zu viel, und sah Dinge, von denen Bruno gar nicht wusste, dass er sie verriet.
„Mit welchen Spielerberatern sind Sie denn sonst noch im Gespräch, Coach?“
„Nur mir Ihnen.“
Da lehnte sich Bruno mit einem kurzen sarkastischen Lachen auf seinem Stuhl zurück und sagte: „Dann glauben Sie ja selbst nicht einmal so sehr an Tyvis, wie Sie behaupten.“
„Doch, das tue ich. Und ich habe mich nur an Sie und sonst niemanden gewandt, weil ich überzeugt bin, dass Sie der Mann sind, der ihn den ganzen Weg begleiten kann.“ Der Coach blätterte noch mehr Papiere und Hefter durch und stapelte immer mehr Papierstapel aufeinander, sodass Bruno sich schon für den Moment wappnete, in dem der ganze Stapel umstürzen würde. „Meine Frau ist Anwaltsgehilfin im Ruhestand und sie recherchiert für ihr Leben gern. Ah, hier ist es ja. Der Coach hielt einen dünnen neuen Hefter hoch. „Das hier ist Ihre Akte.“
Der Mann schummelte also. Er hatte gar keinen magischen Blick, wie Bruno geglaubt hatte.
„Fast jeder Spieler, der bei Ihnen unter Vertrag war, ist schon in der ersten Draft-Runde ausgewählt worden. Die meisten von ihnen in die Top Ten, und sie sind der einzige Spielerberater, der in den letzten fünf Jahren dieses Kunststück vollbracht hat. Sie haben da eine Gabe, ein gutes Auge. Und fast jeder von diesen Spielern hat eine ähnliche Leistungsstatistik wie Tyvis Pryor.“
Mit selbstzufriedener Miene legte der Coach den Hefter wieder auf den Schreibtisch.
Die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt beugte sich Bruno vor und schaute sich noch einmal Tyvis’ Werte an. Sie ähnelten stark denen eines Spielers, der vor drei Jahren schon in der ersten Runde ausgewählt worden war und sein Team dann zur nationalen Meisterschaft geführt hatte.
„Also ich weiß ja nicht …“ Die Demütigung brannte ihm unter der Haut. Wie um Himmels willen war er nur in die Sache hier hineingeraten?
Wieso war er in Fernandina Beach geblieben, einer entlegenen Gemeinde am Meer, eine Dreiviertelstunde mit dem Auto vom Stadtrand von Jacksonville entfernt?
Wieso blieb er dort und gab sich als Spielerberater mit Nachwuchsleuten ab und einer kleinen Agentur, obwohl er andere Angebote hatte?
Wieso gab er dem Drang zu bleiben und den Einflüsterungen, das sei seine Heimat, nach?
Er hatte den Verdacht, dass die Gebete seiner Mutter dabei eine Rolle spielten, aber sie sprach nie mit ihm über Gott, den Glauben oder die Kirche, sondern tat stattdessen etwas sehr viel Wirkungsvolleres: Sie sprach mit Gott über ihren Sohn.
„Zu alldem kommt noch hinzu“, sagte der Coach – ob zu Bruno oder den Bürowänden war nicht so eindeutig zu erkennen –, „dass ich Tyvis dazu gebracht habe, mit Jesus zu reden. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus. Es ist heutzutage in unserer Gesellschaft ja fast schon wie etwas Unanständiges, Jesus zu erwähnen.“
Bruno steckte den Hefter mit Informationen über Tyvis in seine Schultertasche und fragte: „Wieso sollte mir das etwas ausmachen?“
„Ich weiß ja nicht, wie Sie zum Glauben stehen“, sagte der Coach darauf nur. „Jedenfalls singt Tyvis im Gospelchor seiner Gemeinde mit. Sie sollten mal sehen, wie er ganz hinten bei den Männerstimmen steht und alle haushoch überragt. Und er hat eine richtig schöne Bassstimme.“
„Wie oft haben Sie schon dieses Gespräch geübt?“, fragte Bruno daraufhin nur.
„Seit Sie sich bereit erklärt haben zu kommen.“ Coach Brown, der wohl Mitte sechzig war, wirkte durch seine erstaunliche Vitalität viel jünger und seine Augen verrieten seine Leidenschaft für Football.
„Halten Sie mich ruhig für verrückt, aber ich glaube, er kann es schaffen“, erklärte der Coach weiter.
„Sie sind wirklich verrückt“, sagte Bruno daraufhin, ging zum Fenster und schaute hinaus auf den Platz, über dem gerade ein Graupelschauer niederging. „Glauben Sie, ich kann Wunder vollbringen? Keine NFL-Mannschaft wird ihn auch nur in Betracht ziehen. Er wird gar nicht erst zu den Sichtungen mit den Scouts eingeladen, und er bekommt auch keine Chance durch einen Pro Day am College, bei den ihn die Scouts sehen könnten, weil Junior Colleges keine Pro Days veranstalten. Wie wollen Sie denn Scouts und Trainer dazu bringen, ihn sich überhaupt anzuschauen?“
„Das wollte ich eigentlich Ihnen überlassen“, antwortete Coach Brown.
Da lachte Bruno und erklärte: „Sie sind ja ein noch größerer Träumer als Tyvis.“
„Wie viele Klienten haben Sie zurzeit, Bruno?“, fragte der Coach jetzt, hielt inne, schaute auf seine Uhr und klopfte mit den Fingern auf seinen Bauch.
„Ich bin noch in der Aufbauphase.“
„Also null?“
„Calvin ist kurz davor zu unterschreiben, und wenn ich ihn unter Vertrag habe, dann nehme ich vielleicht auch Tyvis. Vielleicht.“
„Ich glaube, es ist eher so, dass Sie Calvin nicht bekommen, wenn Sie Tyvis nicht nehmen. Die beiden sind nämlich richtig dicke. Das Problem bei Leuten in Ihrem Alter ist, dass sie nicht groß genug denken. Sie wollen nur das, was Sie bei anderen sehen. Glauben Sie, die Brüder Wright haben sich damals Gedanken darüber gemacht, dass noch nie ein Mensch geflogen war? Was wäre, wenn Edison gesagt hätte. ,Yo, Leute, Kerzen reichen doch auch … funktionieren doch schon seit tausend Jahren gut.‘“
„Sie glauben, Edison hat ,yo‘ gesagt?“
Der Coach stützte sich mit den Ellenbogen auf der Schreibtischplatte ab und tippte sich an die Schläfe. „Sie müssen über den Tellerrand hinausschauen. Versuchen Sie, Vrables Stimme aus dem Kopf zu bekommen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass die NFL jeden Spieler nimmt, der gut genug ist. Ich habe einen Jungen in der Liga, der nicht einmal auf dem College war.“
„Das ist aber wirklich eine seltene Ausnahme, Coach.“
„Tyvis Pryor ist auch so eine Ausnahme. Hören Sie doch auf, so zu tun, als ob die einzigen Jungs, die es schaffen können, die Vollblüter sind. Nehmen Sie einen Jungen, der nicht schon im Rampenlicht steht, und brechen sie mit den gängigen Regeln.“
Bruno hörte nur mit halbem Ohr hin. Die Regeln brechen? Nein, er war ein Mann, der sich an die Vorschriften und Regeln hielt, und zwar so sehr, dass er Kevin Vrable wegen Unregelmäßigkeiten und Fehlverhalten zur Rede gestellt hatte. Und das wiederum war einer der Gründe, weshalb er jetzt im Büro eines JUCO-Coaches in Scooba, Mississippi, gelandet war.
„… sorgen Sie dafür, dass er bei einem Pro Day dabei sein kann – an der Florida State oder der University of Central Florida. Haben Sie nicht in Florida für Watershed Spieler gesichtet? Das muss doch praktisch Ihr Wohnzimmer sein? Tyvis kommt aus Destin. Das ist Ihr Gebiet“, sagte Coach Brown.
„Sie reden, als würden Sie mich kennen, Coach“, sagte Bruno und deutete mit der Hand auf den Hefter, der auf dem Schreibtisch des Coachs lag. „Aber Sie kennen mich nicht, denn wenn es so wäre, dann wüssten Sie, dass ein Spieler vom Junior College mir nicht genügt.“
Der Coach seufzte, schaltete seinen alten Computer aus, nahm seinen Schlüssel und kam hinter seinem Schreibtisch hervor.
„Sie haben recht“, sagte er. „Ich kenne Sie nicht. Und ein paar Fakten und Zitate aus dem Internet schaffen keine Verbindung zwischen zwei Menschen. Bei jedem anderen Spieler hätte ich Sie nicht behelligt, aber Tyvis ist was Besonderes, Bruno. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Junge für so wenig so hart arbeitet. Um fünf Uhr morgens ist er im Kraftraum, und vor und nach dem Unterricht arbeitet er in der Cafeteria, um Geld zu verdienen. Er ist immer bereit fürs Training, schafft alle Leistungsvorgaben im normalen Schulunterricht und das Tag für Tag für Tag. Und stellen Sie sich vor, er hat immer noch ein Klapphandy. Man kann ihm keine Nachrichten schreiben, weil er kein Smartphone besitzt. Er hat Mist gebaut und will den Schaden, den er angerichtet hat, wiedergutmachen. Zusätzlich will er für seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder sorgen, und er möchte gern den Traum leben, den er hat, seit er neun ist. Sagen Sie mir eines: Warum sind Sie als Jurist Spielerberater und nicht Firmenanwalt oder Prozessanwalt geworden? Da würden Sie viel mehr verdienen, hätten pünktlich Feierabend und an Wochenenden und Feiertagen frei.“
Bruno wechselte seine Position und dachte, dass sie bestimmt nicht die Zeit hatten, all seine Gründe aufzuzählen. Aber in Wirklichkeit war seine Antwort ganz einfach. „Ich liebe es“, sagte er deshalb.
„Dann sollten Sie Tyvis ernsthaft in Betracht ziehen. Er liebt es nämlich auch. Ich sehe Spieler und ich sehe echte Spieler“, sagte der Coach im Brustton der Überzeugung. „Und er ist geboren, um Football zu spielen. Wieso in einem Büro sitzen oder in einem LKW, wenn man weiß, dass man auf den Footballplatz gehört?“
In dem Moment ging die Tür auf und Tyvis schaute herein. „Fertig?“
„Auf geht’s“, sagte der Coach, klimperte mit den Schlüsseln, schaltete die Lichter im Büro aus und forderte Tyvis auf, mit zum Essen zu kommen.
Auf dem Weg zum Wagen checkte Bruno seine Mails. Außer hinter Calvin Blue war er auch noch hinter einem Spieler von der Ohio State University und einem aus Florida her, von denen es aber nichts Neues gab.
Bruno fuhr hinter dem dicken Ford F350 Truck des Coaches her und telefonierte dabei mit seiner Mutter. „Wie war dein Tag?“ Seit dem Unfall, bei dem sie zwei Stunden lang im Straßengraben gelegen hatte, bevor jemand sie dort entdeckt hatte, war er in Gedanken immer halb bei ihr.
„Mrs. Acker wollte heute Rosen pflanzen.“
„Im Winter?“ Selbst in Florida gab es Jahreszeiten, in denen man pflanzte und säte.
„Und nächste Woche muss ich sie wahrscheinlich wieder rausreißen und stattdessen Orchideen pflanzen. Wann bist du denn wieder zu Hause?“
„Heute Abend.“
„Mit dem kleinen Flugzeug?“, stöhnte seine Mutter. „Ich weiß, du sagst, dass Stuart ein hervorragender Pilot ist, aber schon allein bei dem Gedanken bekomme ich eine Gänsehaut. Kannst du nicht einen Fallschirm tragen?“
„Für den Fall, dass wir abgeschossen werden?“
„Es könnte doch ein Motor ausfallen oder explodieren.“
Schmunzelnd entgegnete Bruno: „Stuart ist wirklich ein hervorragender Pilot und sein Flugzeug ist ebenso hervorragend. Dir ist schon klar, dass er mich umsonst durch den ganzen Süden fliegt, nur weil er Flugstunden als Pilot braucht, oder? Durch ihn spare ich sehr viel Zeit und Geld, Mama. Weil ich heute Abend schon zu Hause bin, statt im Auto zu sitzen oder auf einen Linienflug zu warten, kann ich dich morgen früh zum Frühstück im Bright Mornings Café einladen. Na, wie wär’s?“
„Gern, aber es gefällt mir trotzdem nicht, dass du in einem Privatjet in der Gegend herumfliegst.“ Ein bisschen ließ die Anspannung in ihrer Stimme jetzt nach. „Ich freue mich, dich bald wiederzusehen.“
Er war den ganzen Dezember nicht zu Hause gewesen. Ein Pokalspiel nach dem anderen hatte dafür gesorgt, dass er ständig unterwegs gewesen war, sogar über Weihnachten.
Sie plauderten noch ein bisschen, während Bruno auf der kurvigen zweispurigen Straße, die von kahlen Ahornbäumen und hohen Pinien gesäumt war, hinter Coach Brown herfuhr.
Er wollte sich gerade von seiner Mutter verabschieden, weil sie zum Haus des Coaches abbogen, als seine Mutter sagte: „Es gibt da noch eine Neuigkeit, die ich dir verschwiegen habe, Bruno.“
„Was denn?“, erkundigte er sich und parkte seinen Wagen hinter dem Truck vom Coach, schaltete den Motor aus und spürte einen leichten Adrenalinstoß. War sie krank? Krebs? Nein, denk gar nicht dran. Hatte sie jemanden kennengelernt?
Ihre Stimme hatte den gleichen Klang wie damals, als sie ihn wegen des Unfalls angerufen hatte. Oder als sie ihm gesagt hatte, dass sein Vater gestorben sei.
„Es geht um Miss Everleigh, mein Junge. Sie ist gestorben.“
„Miss Everleigh? Wann?“, fragte Bruno und schaute aus dem Fenster, während ihn der Coach ins Haus winkte. Doch statt auszusteigen, legte er den Kopf aufs Lenkrad.
Er hatte gerade ein Stück seiner Kindheit verloren, das ihm heilig war. Die Frau mit dem engelsgleichen Gesicht hatte sein ganzes Leben lang gegenüber gewohnt. Die Frau im Memory House – wie er es als Kind genannt hatte – hatte ihm beigebracht, wie man Chocolate Chip Cookies backt, Marshmallows grillt und die Arche Noah aus Eisstielen bastelt.
In dem weitläufigen viktorianischen Gebäude mit seinem Türmchen, den Erkern und der Wendeltreppe hatte er seine Nachmittage verbracht, nachdem sein Vater die Familie verlassen hatte und seine Mutter in zwei Jobs hatte arbeiten müssen. Und in Miss Everleighs Garten hatte er sich mit acht Jahren verliebt – in Beck Holiday –; seit Jahren hatte er nicht mehr an sie gedacht.
„Direkt nach Thanksgiving.“
„Thanksgiving? Und dann sagst du es mir erst jetzt? Habe ich jetzt etwa die Trauerfeier verpasst?“
„Nein, die ist am nächsten Sonntagnachmittag. Miss Everleigh wollte nicht, dass viel Aufhebens um ihr Begräbnis gemacht wird, aber der Pastor hat anders entschieden. Weil wegen der Feiertage – besonders Thanksgiving – viele Leute nicht zu Hause waren, sondern zu Besuch bei Verwandten, ist der Trauergottesdienst verschoben worden. Schaffst du es, bis Sonntag zu Hause zu sein?“
„Ja sicher.“ Er würde es sich ganz bestimmt nicht nehmen lassen, von der einzigen „Großmutter“ Abschied zu nehmen, die er je gehabt hatte.
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, stieg er aus dem Wagen und schaute zum grauen, regnerischen Horizont.
„Ruhen Sie in Frieden, Miss Everleigh.“ Er hatte sie eigentlich häufiger besuchen wollen, nachdem er wieder nach Fernandina Beach zurückgekehrt war, aber der Sichtungsmarathon ließ ihm kaum Zeit, sich um das eigene Leben, geschweige denn um das anderer Menschen zu kümmern.
„Bruno! Das Essen ist fertig“, rief der Coach zum offenen Garagentor heraus. „Und außerdem fängt es an zu regnen. Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass man dann ins Haus geht?“
„Ich komme.“
Im Haus lachte Tyvis mit einer schlanken Frau mit rötlichem Haar und neugierigem Blick. Neben seiner dunklen, muskulösen Figur wirkte sie wie ein Zwerg, aber die Stärke, die er ausstrahlte, war sanft. Die Szene war wie Balsam nach dem, was er gerade von seiner Mutter erfahren hatte, und als Bruno jetzt diese Szene sah, wünschte er sich solche Augenblicke auch für sein eigenes Leben – vielleicht sogar eine eigene Familie.
Aber dazu musste er sein Leben entschleunigen, eine Beziehung mit einer Frau eingehen, die länger hielt als nur ein Date, und sich innerlich mehr öffnen.
„Ich hoffe, Sie haben Hunger“, sagte der Coach und schob Bruno in den Raum.
„Das kann man wohl sagen“, erklärte er und schaute erst Tyvis und dann Mrs. Brown an.
„Ich bin bereit fürs Essen.“