Kitabı oku: «Memory House», sayfa 8

KAPITEL 8
Everleigh
So schnell wie es angefangen hatte, war es auch wieder vorbei. Die Kellerluke hörte auf zu klappern und ein schwacher weißer Lichtschein drang zwischen dem Metall und dem Beton in den Keller.
Die Welpen wühlten sich von ihrem Schoß und fiepten und rauften miteinander. Es war vorbei!
Aber Everleigh konnte sich nicht rühren. Zusammengekauert und völlig reglos drückte sie sich mit dem Rücken gegen die harte, unnachgiebige Kellerwand, wartete zitternd ab und machte sich gar nicht mehr die Mühe, sich die Tränen abzuwischen.
Rocco kam zu ihr herübergetapst und schnüffelte an ihrer Hand, bevor er dann auf ihren Schoß kletterte. Sie zog ihn an sich und hielt ihn fest. Zu fest, denn er zappelte und wand sich und zwickte ihr in die Hand, sodass sie ihn wieder losließ.
Steh auf, Everleigh.
Aber ihre Arme, ihre Beine, ja ihr ganzes Sein blieb dort an die Wand gepresst sitzen. Rhett würde sicher bald kommen. Dann würde sie sich bewegen können, ihm in die Arme fallen und wissen, dass alles gut war.
Es war ein Wirbelsturm gewesen! Sie hatte einen Wirbelsturm überlebt.
Aus Minuten wurden Stunden und das bläulich-weiße Licht, das in den Keller drang, verblich zu einem hellen Grau. Die Welpen schnüffelten herum und spielten, bis sie zu einem Knäuel zusammengerollt wieder einschliefen.
Die Zeit verging und sie wartete immer noch völlig erstarrt, mit knurrendem Magen und schmerzenden Beinen.
Rhett kommt bestimmt. Wahrscheinlich war er noch in der Stadt und half bei den Aufräumarbeiten nach dem Wirbelsturm. Die Applegates waren sehr hilfsbereite Menschen und immer zur Stelle, wenn jemand in Not war.
Irgendwann überkam sie die Müdigkeit und sie gab nach.

„Everleigh!“
Mit einem Ruck stand sie auf, tastete nach der Taschenlampe und warf die Decke von sich. „Ich bin hier unten! Rhett? Liebling, ich hab doch gewusst, dass du kommst.“
Die Kellerluke quietschte in den Angeln und ein starker weißer Lichtstrahl fiel in den Keller.
„Everleigh?“ Duke Cartwright, Besitzer der „DC Ranch“ südwestlich der „Circle A Ranch“, kam die Treppe herunter. „Da sind Sie ja! Wir haben schon überall nach Ihnen gesucht, Everleigh. Geht es Ihnen gut?“
„Ja, alles in Ordnung.“ Ihre Stimme war flattrig, und ihre Beine kribbelten, weil sie so lange darauf gesessen hatte. „Ich habe beschlossen, hier zu bleiben, bis Rhett kommt. Ist er oben?“ Sie spähte durch die Kellerluke hinaus und sah Sterne am Nachthimmel verstreut.
„Jetzt holen wir erst mal Sie und die Welpen aus dem Loch hier heraus. Ihr müsst ja alle am Verhungern sein.“
„Ja, wirklich …“ Everleigh stieg mit Rocco und dem großen Welpen heraus, Duke nahm die anderen beiden.
Als sie ins Freie traten, war es dunkel und Mond und Sterne standen am Himmel. Wie war es möglich, dass nur ein paar Stunden zuvor ein Wirbelsturm über sie hinweggefegt war?
Hier unten jedoch war Everleighs Landschaft schwarz und unheimlich, abgesehen von den Scheinwerfern von Mr. Cartwrights Truck und denen, die ihnen jetzt auf der Zufahrt zur Farm entgegenkamen.
„Lea, Schatz, kannst du diesen armen kleinen Dingern Futter und Wasser geben?“, sagte Mr. Cartwright und gab die Welpen an seine Frau weiter. „Wir haben belegte Brote und einen Krug kalte Milch mitgebracht, Everleigh“, fuhr er fort und ging mit ihr zu seinem Truck.
„Wie sieht es denn auf Ihrer Ranch aus, Mr. Cartwright? Weil der Regen so dicht war, habe ich erst gesehen habe, dass es ein Wirbelsturm war, als es schon fast zu spät war. Im Radio konnte ich keine Wetterdurchsagen mehr hören, sondern nur noch Knistern.“
„Das war auf jeden Fall ein Wirbelsturm und zwar einer der Stufe F fünf und eins Komma zwei Kilometer breit. Hat eine Schneise der Verwüstung einmal quer durch die Stadt gezogen und ist dann in diese Richtung weitergezogen. Ein gewaltiger Sturm. Hab so was hier in der Gegend noch nie erlebt. Die ganze Stadt ist …“
„Jetzt lass doch das Mädel erst mal essen, Duke“, ermahnte ihn Mrs. Cartwright und legte Everleigh eine Decke um die Schultern, während die Tochter der beiden ihr ein in Pergamentpapier eingewickeltes, belegtes Brot reichte.
„W… was ist denn in der Stadt passiert, Mr. Cartwright?“, fragte Everleigh ihn mit banger Stimme, schaute dabei aber zu dem Truck, der jetzt neben ihr hielt.
„Rhett!“, rief sie, ließ ihr Sandwich fallen und rannte los, aber Mr. Cartwright hielt sie fest.
„Wissen Sie, wie spät es ist, Everleigh?“
Sie blinzelte zum Mond hinauf und antwortete: „Vielleicht acht oder neun Uhr?“
„Nein, es ist zwei Uhr nachts.“
„Was? Nein! Ich kann doch unmöglich zehn Stunden im Keller gesessen haben.“ Sie wirbelte herum, als sie hörte, wie eine Tür zuschlug und wehrte sich gegen den festen Griff des Ranchers.
„Rhett?“
„Holen Sie jetzt ganz tief Luft und drehen Sie sich dann um, Everleigh.“
Er ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über das Gelände wandern – ödes Brachland. Sie drehte sich einmal langsam im Kreis und fragte fassungslos: „Wo ist das Haus, Mr. Cartwright? Und die Scheune?“
„Weg.“
Everleigh riss sich los. „Nein, das Haus ist-ist-ist …“ Sie schirmte ihre Augen gegen die blendenden Scheinwerfer des Trucks ab. „Es steht doch genau da.“
Sie rannte zum Keller, um sich zu orientieren, aber vom Haus der Applegates war nichts mehr übrig als das Fundament. „Wo ist Rhett, Mr. Cartwright, und wo sind meine Schwiegereltern?“
„Sie kommen in dem Truck da“, antwortete er und zeigte auf den letzten Truck auf der linken Seite, der jetzt von der gekiesten Zufahrt quer über Papa Applegates Rasen fuhr. „Ich frage Sie das nicht gern, aber wir müssen wissen, was Sie machen wollen.“
„Was ich machen will? Womit denn?“ Im tiefsten Inneren wusste sie die Antwort auf diese Frage schon, aber ihr Kopf weigerte sich zu akzeptieren, was jetzt kommen würde. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als der Fahrer Rhetts Truck abstellte, der eine riesige Beule in der Motorhaube hatte.
„Nein …“ Ihr brach die Stimme und sie schlug sich die Hand vor den Mund. Dann brach sie in Mrs. Cartwrights starken Armen zusammen.
Das konnte nicht sein. Nein, unmöglich! Sie bauten doch gerade ein Haus. Sie bekam ein Kind von ihm!
„Mit den Leichnamen, Everleigh. Wir haben gedacht, dass Sie sie vielleicht noch sehen möchten, bevor wir den Bestatter anrufen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht. Wir haben Spike, Heidi und Rhett hinten drauf. Es tut mir leid. Sehr, sehr leid.“
„Nein!“, schrie sie, glitt aus Mrs. Cartwrights Umarmung in das nasse Gras, und eine sanfte Brise strich über sie hinweg.

Beck
„Bitte unterschreiben Sie hier und hier“, sagte Miss Everleighs Anwalt Joshua Christian und reichte Beck einen goldenen Füllfederhalter.
Mit Beetle Boo auf dem Schoß nahm sie das Erbe an. Miss Everleighs Haus, das riesige Grundstücks, das bis zum Ende der Straße reichte, Miss Everleighs Konten, den Oldtimer in der Garage ganz hinten auf dem Grundstück und den Rest ihrer irdischen Besitztümer.
„Wissen Sie, warum Miss Everleigh ausgerechnet mir alles vererbt hat, Mr. Christian?“, fragte Beck und gab dem Anwalt seinen Stift zurück.
„Sie hat es so verfügt. Sie hat Sie und Ihre Familie sehr gern gehabt, und sie wusste, dass der Verlust Ihres Vaters für Sie verheerende Folgen gehabt hat.“
„Aber woher wusste sie denn überhaupt davon? Meine Mutter sagt, sie hätten sich noch eine Zeit lang Weihnachtsgrüße geschrieben, aber dann sei der Kontakt abgebrochen, und sie habe seit zehn Jahren nichts mehr von Miss Everleigh gehört.“
Der Mann mit der heiteren Ausstrahlung lächelte und räumte seine Papiere wieder zusammen. „Miss Everleigh hatte ein sehr gutes Gedächtnis und ein großes Herz.“
„Ich kann mich nicht an sie erinnern“, erklärte Beck und setzte Beetle auf den Fußboden, wo er aber sofort winselte, sodass sie ihn wieder auf den Schoß nahm. Auf dem Flug von New York hierher hatte sie ihn die ganze Zeit auf dem Arm gehabt, denn die Reise hatte ihm gar nicht behagt, und seit ihrer Ankunft ließ er sie kaum aus den Augen.
„Ja, ich weiß“, sagte er.
„Und woher wissen Sie das?“
„Sie werden sich schon im richtigen Moment wieder erinnern“, antwortete er nur und nahm einen weiteren Stoß von Papieren aus seinem Aktenkoffer. „Sie brauchen nicht alles zu hinterfragen, Beck. Freuen Sie sich doch einfach an dem Geschenk. Also, Miss Everleigh hatte ungefähr hunderttausend Dollar auf dem Geldmarkt angelegt. Die Aktien und Anleihen sind hier aufgelistet. Ihr Mann Don hat schon ganz früh Tech-Aktien gekauft und damit gutes Geld gemacht. Ein paar der größeren Aktienpakete und etwas Bargeld hat Everleigh ihren Nichten und Neffen vermacht, aber der Rest gehört Ihnen. Hier ist der Auszug ihrer Monatsbezüge. Ungefähr siebentausend.“
„Wie bitte?“ Sie griff nach dem ausgedruckten Auszug. „Siebentausend Dollar im Monat?“
Mr. Christian, der friedfertigste und unaufdringlichste Mann, den Beck jemals kennengelernt hatte, bestätigte den Betrag, obwohl Beck ihn ja mit eigenen Augen schwarz auf weiß sehen konnte.
„Aber wieso habe ich denn Anspruch auf das Geld? Das ist doch völlig verrückt!“
„Gehen Sie zu dieser Bank und fragen Sie nach Rebekah. Sie wird Ihnen Kreditkarten und Kontovollmachten zum Unterzeichnen vorlegen. Und hier“, er blätterte die Seite um. „Unterschreiben Sie bitte hier, dann schicke ich das an die Investmentfirma.“
Sie schaute ihn kurz an. Seine Haltung war eine Mischung aus der eines Anwalts aus den Südstaaten und eines weltmännischen New Yorkers. Er trug einen schlichten blauen Anzug mit einem frischen weißen Hemd und eine rote Krawatte. Sein rötliches Haar hatte überall graue Sprenkel und seine Augenfarbe war eine strahlende Mischung aus Grün und Gold.
Doch es war seine Ausstrahlung, die sie gleichzeitig anzog, aber auch irritierte. Hinter seiner sanften Art steckte eine Kraft, die wie von einer anderen Welt war und den ganzen Raum ausfüllte.
„Wer hinterlässt denn sein ganzes Vermögen, das, was vom eigenen Leben übrig geblieben ist, einer Fremden?“
„Aber Sie waren keine Fremde für sie, Beck. Versuchen Sie doch einmal, die Welt mit ihren Augen zu sehen.“
„Ich bin seit achtzehn Jahren weder in Florida gewesen, noch habe ich mit Everleigh gesprochen.“
„Also das ist wirklich bedauerlich. Vielleicht hätten Sie mehr Freude an alldem, wenn Sie sich an sie erinnern könnten.“
Sie sah in finster an. „Woher wissen Sie denn, dass ich mich nicht an sie erinnern kann?“
Doch er lächelte sie nur durchdringend an und schwächte dadurch ihre Abwehr. „Ich bin Anwalt, und es ist mein Job, Dinge zu wissen. Und jetzt seien Sie klug und nehmen Sie das Geschenk an. Können Sie das? Mit einem Mindestmaß an Anstand?“ Er sammelte jetzt die Kopien der Papiere zusammen und steckte den edlen Füllfederhalter wieder ein.
Sie fühlte sich gehörig zurechtgewiesen, aber dennoch seltsam geliebt und sagte deshalb: „Das ist nur alles ziemlich überwältigend.“ Die Geste der alten Dame machte sie demütig und widerlegte ihre unzutreffende Überzeugung, dass die Welt ein harter egoistischer Ort voller Verlust und Schmerz war.
„Es gibt die Geschichte von einem Mann“, sagte er jetzt und blieb bei der Eingangstür stehen, „der unter einer Brücke lebte und irgendwann starb. Als sein Tod näher untersucht wurde, stellte sich heraus, dass er eine Million Dollar auf dem Konto hatte, und man fragte sich, wieso er wie ein mittelloser Obdachloser unter einer Brücke gelebt hatte, obwohl er so viel Geld auf der Bank hatte.“
„Vielleicht wusste er ja gar nichts von seinem Reichtum. Oder er wollte das Geld verschenken, weil er ohne die Zwänge und Einschränkungen leben wollte, die Reichtum mit sich bringt.“
„Das sind die offensichtlichen Gründe, aber am Ende stellte sich heraus, dass er nur einfach zu stolz gewesen war, ein Geschenk anzunehmen. Machen Sie nicht den gleichen Fehler, Beck.“
Ihre Blicke begegneten sich, blieben für einen Moment verbunden, und die Worte des Anwalts landeten bei ihr. „D… das werde ich nicht“, versicherte sie. Sie hielt ihn noch einmal auf, als er hinaus auf die Veranda trat. „Moment noch, Mr. Christian, kann ich es auch verkaufen? Das Haus, meine ich.“
„Warum sollten Sie das wollen?“, fragte er nur.
„Darum“, antwortete sie eine Spur herablassend. „Ich habe einen Job und ein Leben in New York.“
„Wirklich?“
Als er weg war, spürte sie seine Anwesenheit noch eine ganze Weile und seine simple Ein-Wort-Frage nagte an ihr. Hatte sie überhaupt ein Leben in New York? Und war der Job wirklich immer noch ihre Leidenschaft?
Ja, natürlich. Einmal Polizistin, immer Polizistin. Was sollte sie denn sonst mit ihrem Leben anfangen? Bis zu diesem seltsamen Erbe war der Beruf das Einzige, was sie noch mit ihrem Vater verband.
Aber die Dinge änderten sich. Sie bekam ein Baby. Und egal, wie sie sich entschied – das Baby zu behalten oder es zur Adoption freizugeben –, ihr Leben würde nie wieder sein wie zuvor.
Sie musste ganz neu Bestandsaufnahme machen, aber das hatte sich eigentlich schon seit Langem angekündigt.

Nachdem Beck die Tür geschlossen hatte, hob sie Beetle, der ihr die ganze Zeit auf Schritt und Tritt folgte, vom Boden hoch.
„Also, was möchtest du denn jetzt gern tun?“
Mit dem Hund auf dem Arm begann sie das Haus zu erkunden und fand es wunderschön, völlig anders als die heruntergekommene Hütte, die sie sich vorgestellt hatte.
Die Sonne schien durch die Fenster herein und spiegelte sich auf den rötlich glänzenden Hartholzböden.
In der Mitte der großen Eingangshalle führte eine breite Treppe ins Obergeschoss. Auf der einen Seite der Treppe befand sich ein Schlafzimmer mit einem angrenzenden Bad und auf der anderen war das große offizielle Wohnzimmer für Besuch und Feste mit einer antiken Schrankwand und schweren Polstermöbeln.
Durch das Wohnzimmer gelangte Beck in die Küche, die eine hohe Decke hatte und an die eine riesige Speisekammer grenzte. Sie war zwar keine Fachfrau, aber die Küche mit den Arbeitsflächen aus Marmor und weißen Ober- und Unterschränken sah so aus, als wäre sie vor nicht allzu langer Zeit erneuert worden.
Aus der Küche führte eine Hintertür hinaus auf die Veranda und in einen riesigen Garten, an dessen hinterem Ende sich die Garage befand.
Beck öffnete den Kühlschrank, der aber natürlich leer war. Sie musste irgendwie Lebensmittel einkaufen. Vielleicht nahm sie sich ein Taxi, oder sie schaute im Internet nach, welche Supermärkte auch einen Lieferservice hatten.
Als Nächstes ging sie durch das Wohnzimmer wieder zurück in die große Eingangshalle und von dort aus die Treppe hinauf. Im oberen Treppenhaus befand sich gleich gegenüber von der Treppe ein Erker mit einem Fenstersitz, von dem man einen Blick in den Garten hatte.
Es gab dort oben drei Schlafzimmer, die schlicht möbliert waren und so aussahen, als wären sie seit Jahren nicht benutzt worden, sowie noch ein weiteres Wohnzimmer mit einer Bibliothek.
Die Ostwand – mit vier Fenstern über einer Sitzbank – ging zur Memory Lane hinaus, die gesamte gegenüberliegende Wand wurde von einem Bücherregal eingenommen. Die Kassettendecke hatte als Abschluss eine goldene Stuckleiste, was gleichzeitig elegant und pompös wirkte.
Der Raum hatte zwei Türen, von denen die eine in den Hauptflur und eine weitere zu einer kleinen Nische führte, von der aus die Tür in das große Hauptschlafzimmer führte.
Beck ging durch die Räume, nahm alles noch einmal bei Tageslicht auf und begriff plötzlich staunend: Das gehört alles mir.
Das Hauptschlafzimmer hatte ebenfalls viele Fenster, vor denen schneeweiße Spitzengardinen hingen. Egal, wo im Haus sie sich befand, überall war Licht.
In dem Zimmer gab es einen großen, leeren Kleiderschrank, der in einer Schiffsbodenoptik aus Zedernholz gebaut war. Um die Kleider, die darin gewesen waren, hatte sich offenbar Mr. Christian schon gekümmert.
Beck strich mit den Fingern über das Zedernholz und atmete den Duft ein. Eine vage Erinnerung versuchte, sich den Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen. War sie schon einmal in diesem Zimmer gewesen? Hatte sie sich hier versteckt?
Als sie das Zimmer wieder verließ, um das Bad zu inspizieren, ließ sie die Tür offen stehen. Es war sehr schön und offenbar ebenfalls erst vor Kurzem renoviert worden. Everleigh musste einen erlesenen Geschmack gehabt haben.
Das Haus war wirklich spektakulär. Sie konnte es verkaufen, vermieten oder ein Bed and Breakfast daraus machen. Beck schauderte, weil ein Bed and Breakfast dermaßen nach den Achtzigern klang.
Als sie wieder aus dem Bad kam, blieb sie stehen, um die dunkle Vertäfelung unter den weißen Decken genauer anzuschauen, und entdeckte dabei rechts von sich eine schmale Wendeltreppe, die in das Türmchen führte.
Sie wollte gerade hinaufgehen, als es an der Tür klingelte. Sie beugte sich also oben über die Brüstung und ihr Polizeiinstinkt setzte ein.
„Hallo?“, rief sie und schaute sich suchend nach einer Waffe um. Du liebe Güte, sie fühlte sich richtig nackt ohne ihre Dienstwaffe.
Sie nahm ein Kissen von dem Fenstersitz, warf es dann aber wieder zurück. Vielleicht war ja in dem Wandschrank im Hauptschlafzimmer ein Gehstock, aber das war nicht der Fall.
Wieder an der Treppe, wartete sie ab und horchte.
Wieder klingelte es und dann rief jemand: „Beck?“ Es war eine Männerstimme, die durch die massive Eingangstür gedämpft klang. „Ich bin bewaffnet“, rief sie nach unten. Zwar nur mit einem zitternden Hund, aber immerhin.
„Bewaffnet? Ich bin’s, Beck, Bruno Endicott, der von gestern bei der Trauerfeier.“
Sie rannte nach unten, und als sie die Eingangstür öffnete, stand Bruno mit erhobenen Händen davor auf der Treppe.
„Ist das deine Waffe? Ein zitternder Hund?“
„Er beißt“, erklärte sie und streichelte dem Kleinen auf ihrem Arm die Ohren. „Manchmal.“
Bruno kam auf die Tür zu und fragte: „Kann ich hereinkommen?“, woraufhin ihn Beck erst einen Moment lang schweigend ansah, bevor sie beiseitetrat. Er trug sein dunkles Haar kurz geschnitten und lächelte unbefangen. Das gefiel ihr schon mal an ihm.
„Woher hast du denn gewusst, dass ich hier bin?“
Sie setzte Beetle auf den Boden, und der Hund humpelte in Richtung Küche, wo er unter dem Tisch verschwand. Als er am Morgen plötzlich verschwunden gewesen war, hatte sie ihn in der Speisekammer gefunden, wo er scheinbar grundlos zitternd in einer Ecke gekauert hatte. Nach einem Leben mit Boudreaux hatte das arme Ding sogar vor Staubmäusen Angst.
In den anderthalb Wochen, die er jetzt bei ihr war, hatte Beck festgestellt, dass er Fremden gegenüber misstrauisch war und Männer absolut nicht leiden konnte. Er hatte auch Wyatt nicht an sich herangelassen, und wenn er sein Geschäft erledigen musste, war er dabei lieber auf die Nase gefallen, als sich von ihm helfen zu lassen.
„Miss Everleighs Anwalt hat bei mir im Büro vorbeigeschaut, ein gewisser Joshua Christian“, berichtete er.
„Jetzt sag bloß nicht, dass du auch das Haus geerbt hast.“ Hätte Mr. Christian ihr das nicht wenigstens mitgeteilt?
„Auch? Soll das etwa heißen, dass du das Haus geerbt hast?“, fragte Bruno, verschaffte sich einen Überblick über die Sitzgelegenheiten und entschied sich dann fürs Sofa. „Mr. Christian hat mir gesagt, du seist hier, und dass mich das ja vielleicht interessieren würde.“
„Wieso sollte dich denn das interessieren? Und kennst du ihn überhaupt?“ Beck setzte sich Bruno gegenüber in den Ohrensessel.
„Nein, ich kenne ihn nicht, aber vielleicht hat Miss Everleigh ihm ja etwas gesagt. Du und ich, wir waren ja damals schließlich Freunde.“
„Freunde, ja klar“, bemerkte sie ironisch.
„Du erinnerst dich nicht, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Was hältst du von Mr. Christian? Ist der koscher?“
„Ich bin erst vor Kurzem wieder nach Fernandina Beach gezogen, nachdem ich acht Jahre in LA gelebt habe. Außerdem bin ich neunzig Prozent meiner Zeit unterwegs, also habe ich keine Ahnung, was in dieser Stadt los ist. Aber er kam mir doch ganz solide vor. Er hatte so …“
„ … ein gewisses Etwas.“ Also hatte Bruno es auch bemerkt.
Als er jetzt lächelte, leuchtete sein Gesicht auf, und in Beck regte sich etwas, das ihr bekannt vorkam.
„Ich wollte eigentlich einen ,Vibe‘ sagen, aber ja, ,gewisses Etwas‘ passt auch.“ Er beugte sich vor, die Arme auf den Beinen abgestützt, die Hände locker gefaltet. „Erzähl doch mal, wie es dazu gekommen ist, dass du das Haus geerbt hast. Hattest du Kontakt zu Miss Everleigh?“
„Nein.“
„Und sie hat dir trotzdem ihr Haus vererbt?“
„Ja, und ihr Geld.“
„Wow, wie schön für dich. Miss Everleigh hatte auch ein paar Nichten und Neffen in Texas, aber die habe ich hier nie gesehen. Ich habe mich schon gefragt, wem sie das Memory House wohl vermacht, wenn ihre Zeit gekommen ist, und ich bin überrascht, dass sie dich ausgesucht hat, aber …“
„Hast du gedacht, dass sie dich auch in ihrem Testament berücksichtigt?“
Er zog ein Gesicht. „Wenn Miss Everleigh dir das Haus vermacht hat, wer bin denn dann ich, dass ich ihre Entscheidung infrage stelle? Also, Beck, wo bist du gewesen? Und was machst du jetzt?“
„Ich bin Sergeant bei der Polizei in New York.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Genau wie dein Vater?“
„Ja, so in etwa. Und was machst du so, Bruno? Endicott, oder?“
„Ich bin Spielerberater. Ich habe mich mit meinem Boss in LA zerstritten, und zwar ungefähr zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter einen schweren Unfall hatte. Deshalb bin ich wieder hergekommen, um ihr zu helfen und habe dann meine eigene Agentur gegründet.“
„Und wie läuft es?“
Mit einem Seufzer lehnte er sich zurück und schaute zum Fenster. „Nicht so gut, wie ich es gern hätte.“
„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass eine Kleinstadt wie die hier der richtige Ort ist, um eine Sportleragentur aufzubauen.“
„Ach, der Standort ist nicht das Problem, sondern mein Problem ist mein alter Boss. Er wirft mir immer wieder Knüppel zwischen die Beine, indem er Gerüchte über mich in die Welt setzt. Jetzt mal ehrlich, Beck, wieso hast du nichts mehr von dir hören lassen, seit dein Vater ums Leben gekommen ist?“
„Das Leben nach dem 11. September war nicht einfach. Meine Mutter und ich konnten uns nur so gerade über Wasser halten, aber ich bin trotzdem groß geworden und habe mir ein eigenes Leben aufgebaut …“
„Du bist verheiratet?“ Er deutete mit dem Kopf auf ihren mittlerweile sichtbaren, aber immer noch nicht besonders großen Babybauch.
Beck zog ihr Oberteil über den Bauch. „Nein.“
Sie begann gerade, seinem Charme und seiner Aufrichtigkeit zu erliegen, als er ihren Zustand bemerkte.
Ziemlich unvermittelt stand er auf. „Übrigens … hast du den Wagen schon entdeckt?“, fragte er, marschierte durch das Wohnzimmer in die Küche und fuhr fort: „Ein Klassiker. Ich wünschte, ich hätte das Geld, ihn dir abzukaufen … falls du ihn überhaupt verkaufen willst.“
„Einen Wagen? Nein, ich habe noch keinen Wagen gesehen.“ Sie folgte ihm, und ihre Schritte hallten auf dem Hartholzboden. „Spielt aber auch eigentlich keine Rolle, weil ich nicht fahre.“
Er blieb abrupt stehen und ein verirrter Sonnenstrahl, der vom Boden reflektiert wurde, hob den rötlichen Ton seiner Bartstoppeln hervor. „Aber du bist Polizistin. Da musst du doch fahren können.“
„Okay, ich kann fahren, wenn es sein muss, aber mein Streifenkollege fährt nicht nur gut, sondern auch sehr gern. Ich persönlich wüsste gern, wessen tolle Idee es war, einen Verbrennungsmotor in ein Fahrzeug zu bauen, das mit einem winzigen Lenkrad gelenkt wird und hundertzehn Kilometer in der Stunde fahren kann.“
„Neben der Glühbirne und dem American Football ist der Verbrennungsmotor die größte Erfindung der Menschheit, Beck.“
„Wenn du den Wagen haben möchtest, dann nimm ihn.“
Bruno stockte. „Ist das dein Ernst?“
„Ja, du kannst ihn haben.“ In dem Moment war aus der Speisekammer ein ganz leises Knurren zu hören. Beetle kauerte dort und beäugte Bruno misstrauisch, der erst den Hund ansah und dann Beck und dann ihr Angebot ausschlug.
„Nein, ich werde ihn kaufen, wenn ich das Geld habe, aber komm, du musst ihn dir wenigstens anschauen.“ Und dann ging er nach draußen. Beck schaute noch rasch nach Beetle und hastete dann hinter Bruno her. Er hatte irgendetwas …was war es nur? Außer der Tatsache, dass er sich so verhielt, als würde er sie kennen … und sie ihn.
Auf dem Weg die Verandatreppe hinunter und über den Rasen redete er ununterbrochen. „Erinnerst du dich noch, wie mich Miss Everleigh einmal die Memory Lane hat hinauf- und hinunterfahren lassen? Ich hatte noch einen Monat bis zum Führerschein, aber interessierte sie das? Nicht im Geringsten. Sie überreichte mir den Autoschlüssel und sagte: ,Junge Leute müssen doch Spaß haben.‘ Wir sind dann mit offenem Verdeck und laut aufgedrehter Musik die Memory Lane auf und ab gefahren“, erzählte er und sein Lachen schallte durch den Garten.
Beck konnte einfach nicht anders als zu lächeln. Das klang wirklich nach Spaß, nach echtem Spaß. Eine leise Sehnsucht legte sich um ihr Herz; eine Sehnsucht nach ihrer vergessenen Kindheit.
„Wenn ich recht überlege, wolltest du schon damals nicht fahren“, sagte er.
„Ich bin New Yorkerin. Wir lassen uns gern chauffieren.“
Bruno ging an der Tür der Garage vorbei zu einer Vogeltränke, hob sie auf der einen Seite ein bisschen hoch und holte einen Schlüssel darunter hervor.
„Das ist der Notfallschlüssel.“ Er bearbeitete das Vorhängeschloss, zog dann die Tür auf und schaltete eine nackte Glühbirne ein. „Ist sie nicht eine Schönheit? Eine 1960er Studebaker Lark. Schaltgetriebe, V8, 180 PS, Ledersitze, leicht abgenutzt, wie du siehst, aber das hier ist eine Königin unter den Automobilen.“ Mit einem bewundernden Blick, um den ihn Beck beneidete, legte er die Hände auf die Beifahrertür. Was sah er dort bloß?
Sie strich mit einer Hand über die gesamte Länge des Fahrzeugs. Für ein Auto war es wirklich hübsch, und das offene Verdeck sorgte dafür, dass sie beinah Lust auf eine kleine Nachmittagstour bekam.
Sie schaute nach draußen, wo die die Sonne hoch am wolkenlos blauen Himmel stand, bei angenehmen achtzehn Grad und einer leichten Brise.
„Miss Everleigh hat dafür gesorgt, dass der Wagen immer tipptopp in Ordnung war“, sagte Bruno.
„Wie viel ist er denn wert?“, erkundigte sie sich. Aber konnte sie das Auto wirklich verkaufen? Was würde Everleigh davon halten? Oder Mr. Christian?
„Zwanzigtausend mindestens. Kannst du ihn für mich reservieren?“
„Vielleicht. Bis ich ein besseres Angebot bekomme“, sagte sie lachend. Es war leicht, ihn zu necken, weil sie das Gefühl hatte, dass sie sich kannten und ohne Worte verstanden.
„Beck?“, sagte Bruno, ging um den Wagen herum und fuhr fort: „Du kannst dich an nichts von alledem erinnern, oder? An mich? Oder an Miss Everleigh?“
Sie drehte sich zur Tür, weg von seinem prüfenden Blick, denn er war ein zu guter Beobachter.
„Wohnst du hier in der Nähe?“, fragte sie ihn deshalb, um das Thema zu wechseln.
„Ich habe ein Apartment am Strand, aber meine Mutter wohnt hier in der Memory Lane, direkt gegenüber von dir. Du musst dich doch an sie erinnern. Natalie Endicott?“
„Ja klar.“
„Lügnerin“, sagte er daraufhin nur und stand jetzt direkt neben ihr. „Was ist passiert, Beck?“
Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und spürte jetzt die Kälte von Nordflorida in der schattigen Garage. „Ich habe eine selektive Amnesie. Das hat angefangen, nachdem mein Vater ums Leben gekommen ist. Alle Erinnerungen, die eine Verbindung zu ihm haben, sind weg.“
„Eine Amnesie?“, fragte Bruno und schaute ungläubig drein. „Im Ernst? Wer bekommt denn eine Amnesie?“
„Ich. Ich kann mich weder an ihn noch an den Ort hier erinnern.“ Ihre Blicke trafen sich jetzt. „Und auch nicht an dich.“
„Wow. Also ich erinnere mich jedenfalls an dich“, versicherte Bruno und ging an ihr vorbei aus der Garage zurück in den Garten. „Ich habe haufenweise Erinnerungen an die Sommer damals. Wie wir im Fluss geangelt haben und ich dir das Surfen beigebracht habe. Weißt du das noch?“ Dann zeigte er hinüber zum Haus. „Wir sind immer da oben aus dem Erkerfenster geklettert und haben uns dann flach auf das Dach davor gelegt, damit wir nicht runterrutschen, und haben Sterne gezählt.“ Er wandte sich ihr zu. „Dir habe ich meinen ersten Kuss gegeben, damals auf einem Musikfestival.“
„Ich erinnere mich, dass ich zur Schule gegangen bin und mit meinen Freundinnen gespielt habe“, sagte Beck. „Ich erinnere mich an meine Mutter und den Hund, den wir von meinem ersten bis zu meinem zwölften Lebensjahr hatten. Aber an meinen Vater? Nichts!“
„Wie kannst du … ich meine …“ Er sah sie mit leicht zusammengekniffenen Augen an. „Willst du dich denn überhaupt erinnern?“
„Es ist seit achtzehn Jahren so, Bruno. Ich kenne es nicht anders. Das ist mein Leben.“
In dem Moment, als sie redete, gab es in ihrem Inneren einen plötzlichen Aufschlag, der richtig nachhallte, und sie sah, wie sich über Brunos rechter Schulter ein Bild entfaltete, Licht und Schatten sich teilten und ein Mädchen erschien, das mit seinem Vater lachte.
„Komm, Beckster, du schaffst das.“
„Ich bin doch noch gar nicht alt genug zum Fahren.“
„Wir fahren doch nur die Memory Lane hoch und runter. Jetzt tritt schon auf die Kupplung.“
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.