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4. Die Gemeinde und die Zulassungsbedingungen zum Priestertum

Nun ist die jüngere pastoraltheologische Diskussion um die »Gemeinde« nicht nur sehr kontrovers, sondern auch argumentativ ausgesprochen extensiv verlaufen.23 Den großen Hoffnungen, mit denen die Gemeindetheologie startete, entsprechen die Emotionen, welche ihre aktuelle pastoraltheologische Problematisierung immer noch freisetzt. Dies ist verständlich, zumal gleichzeitig, wenn auch mehr oder weniger unabhängig davon, die damals angestrebte Gemeindeverfassung der katholischen Kirche in den aktuellen Umbauprozessen ihrer Basisstruktur24 tatsächlich zunehmend aufgelöst wird.

Diese zudem oft lebensgeschichtlich tief eingeschriebene Brisanz des Gemeindethemas hat zu einigen problematischen Verknüpfungen mit anderen Themen geführt. Diese Verknüpfungen sind möglich, behindern aber analytisch eher den Blick. Konkret betreffen sie die Frage der Zulassungsbedingungen zum Priesteramt, das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in christlicher religiöser Praxis sowie die Frage nach der notwendigen Verortung kirchlicher Pastoral in der räumlichen Fläche.

Ohne Zweifel sind die gegenwärtigen Zulassungsbedingungen zum katholischen Amtspriestertum ausgesprochen diskussionswürdig, vor allem unter Gerechtigkeits-, Qualitäts- und amtstheologischen Gesichtspunkten. Die Gemeindeproblematik dürfte aber kein geeigneter Hebel sein, um hier relevanten Veränderungsdruck aufzubauen. Das Konzept »Gemeinde« als eine kommunikativ verdichtete, überschaubare Lebens- und Glaubensgemeinschaft unter priesterlicher Leitung ist innerkatholisch viel zu jung, um als Gegengewicht gegen jene alten Traditionen anzukommen, die das Priestertum dem unverheirateten Mann reservieren.

Es wäre sicher wünschenswert und grundsätzlich, etwa einem Konzil, auch möglich, die Zulassungsbedingungen zum katholischen Weihepriestertum einer pastoraltheologischen wie einer systematisch-theologischen Evaluierung zu unterziehen. Dies wird in absehbarer Zeit aber wohl nicht geschehen, zu tief sind Ordnungen der Geschlechterdifferenz und Ordnungen des Religiösen auch in unserer Kirche amalgamiert. Die schwerwiegendste Konsequenz der gegenwärtigen Zulassungsbedingungen wird auch nicht einmal so sehr der wegen des Priestermangels notwendige Umbau der pastoralen Basisorganisation sein als vielmehr die zuerst schleichende, dann sich aber rapide beschleunigende kulturelle Entfremdung, ja Exkulturation der katholischen Kirche von einer Gesellschaft, die normativ, zunehmend aber eben auch real auf eine ganz andere Geschlechterchoreografie umgestellt hat und in der die alten Begründungsmuster für Geschlechterasymmetrien massiv an Plausibilität verloren haben.25

Die Seelsorgeämter drehen denn auch an anderen Stellschrauben, um den potentiellen Veränderungsdruck auf die Zulassungsbedingungen zu verringern: Sie holen ausländische Priester und/oder vergrößern die priesterlichen Zuständigkeitsräume. Damit steht also ein relativ neues und rechtlich wenig gesichertes Konzept – die »Gemeinde« – gegen eine (kirchen-)politische Realität, die dieses Konzept bei einiger organisationsentwicklerischer Virtuosität ganz erfolgreich umspielen kann. Politisch ist das eine ganz und gar unbefriedigende Situation: Der einklagende pastoraltheologische Diskurs steht gegen institutionelle Macht und Raffinesse. Der Diskurs gewinnt da selten. Zumal die gemeindlichen Mauern nicht nur von außen durch die Seelsorgeämter, sondern auch von innen durch die Katholikinnen und Katholiken selbst gesprengt wurden.

Die für unsere Kirche existenzentscheidende Frage, wie ein amtstheologisch, pastoral und nicht zuletzt personal verantwortbarer Entwicklungspfad des katholischen Amtspriestertums nach der Auflösung der sanktionsgestützten »Konstantinischen Formation« der Kirche ausschauen könnte, dürfte mit der Verlängerung jenes letztlich paternalistischen Amtskonzepts, wie es die Gemeindetheologie vertritt,26 nicht wirklich beantwortet sein.27

5. Individualisierung versus Vergemeinschaftung

Auch die Verknüpfung der Gemeindeproblematik mit der Frage Vergemeinschaftung versus Individualisierung dürfte nicht weiterführend sein. Das zentrale ekklesiale Problem der Pianischen Epoche war strukturell die mangelnde Freiheit und inhaltlich die Unfähigkeit, eigene Gehalte außerhalb der Kirche als solche zu identifizieren. Das zentrale Problem der kirchlichen Gegenwart, zumindest in unseren Breiten, ist strukturell die Schwierigkeit von Gemeinschaft und material die Setzung der Differenz des Eigenen innerhalb des allgemein Religiösen.

War in der Pianischen Epoche die Gemeinschaft des Kirchlichen die Selbstverständlichkeit und die Freiheit das Unselbstverständliche, so ist heute die Freiheit vom Kirchlichen die Selbstverständlichkeit und die kirchliche Gemeinschaft das Unselbstverständliche. Die Alternative lautet also nicht: religiöser Individualismus versus gemeindliche Vergemeinschaftung. Denn die Freigabe zu religiöser Selbstbestimmung auch für Katholiken und Katholikinnen ist eine soziale Tatsache, im Übrigen eine erst einmal ausgesprochen erfreuliche. Es geht vielmehr darum, wie heute noch ekklesiale Sozialität möglich ist, und dies jenseits ihrer mehr oder weniger hilflosen Einforderung durch die Propagierung quasi-selbstverständlicher Sozialformen von Kirche.

Alfred Dubach hat zutreffend bemerkt, dass es überhaupt nichts nützt, die eigenen, prekär gewordenen Vergemeinschaftungsformen dadurch retten zu wollen, dass man passenderweise eine angebliche »Sehnsucht vieler Menschen nach Gemeinschaft« als »Zeichen der Zeit«28 identifiziert. Die »strukturelle Individualisierung moderner Gesellschaften«, so Dubach, werde von den kirchlichen Autoritäten »als beängstigend und bedrohlich erfahren«. Dies lasse die Kirchenleitungen in ihrer »Sorge um die eigene Institution« dann »nicht auf eine Kultivierung moderner Freiheitsambitionen setzen«, vielmehr solle über »dichte kohäsive Sozialbeziehungen … kollektive Identität mit den Überzeugungen der Kirche erreicht werden.«29 Auch das gemeindekirchliche Konzept folgt noch deutlich diesem Muster.

Vergemeinschaftungsformen scheinen heute sehr milieuspezifisch zu sein,30 und es gilt wohl eher der Satz, mit dem ein evangelischer Sammelband zum Problem beginnt: »Feste Zugehörigkeiten sind ungewöhnlich geworden. Sie werden vermisst, wenn sie fehlen; sie stören mehr oder weniger, wenn sie gegeben sind.«31 Die Grundfrage von Kirchenbildung unter spätmodernen Bedingungen ist eben nicht, wie viel Gemeinschaft gegen den Freiheitsdrang des Einzelnen noch gerettet werden kann, sondern: »Wie stiftet Freiheit ekklesiale Sozialität?«32

Die Alternative lautet daher nicht: religiöser Individualismus gegen gemeindliche Vergemeinschaftung, so als ob es diese an jenem vorbei heute noch gäbe. Es geht vielmehr um die unter diesen Bedingungen heute möglichen Vergemeinschaftungsformen von Kirche. Dass sich dabei wie »auf vielen Feldern des gesellschaftlichen Lebens … auch hinsichtlich der religiös-kirchlichen Praxis der Menschen Prozesse der Delokalisierung und der Relokalisierung zugleich beobachten«33 lassen, ist unbestritten, immer aber finden sie unter modernen Freiheitsbedingungen statt.

Das Christentum kennt von seinen Anfängen her die Spannung von konstitutiver Gemeinschaftlichkeit und unvertretbarer Individualität vor Gott. Koinobiten und Anachoreten, der zölibatäre Priester und die Familie als ekklesiola, Paulus in seinem unvertretbaren Damaskuserlebnis und die frühe judenchristliche Jerusalemer Gemeinde oder auch der Papst, der ex sese unfehlbare ex cathedra-Entscheidungen fällen kann, aber doch nur, wenn er den Glauben der Kirche auslegt: Das Christentum ist in der Spannung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit situiert – und nicht an einem dieser Pole.

Der unübersehbaren Ambivalenz der Gemeindetheologie wird man nur mit einer dreifachen, in sich freilich zusammenhängenden Reaktionsstrategie entkommen. Zum einen mit der Anerkennung der religiösen Freiheit des Einzelnen als Konstitutionsbedingung, ja Konstitutionsprinzip von Kirche; zudem mit der konsequenten Anerkennung aller Vergemeinschaftungsformen, der alten und der neuen, der stabilen wie der flüchtigen, der kleinen wie der massenhaften, als grundsätzlich gleichrangige Realisationsorte der pastoralen Aufgabe von Kirche;34 sowie drittens in der Umsetzung der pastoralen Wende des Konzils und also seines pastoralen Prinzips35 auch in der pastoraltheologischen Reflexion kirchlicher Sozialformen.

Orientierungen

IV. Pastoral: Risiko, Erinnerung und Ereignis

»Damit driftet die Inkulturation des Evangeliums hierzulande aus ihren modernen Festkörpern hinaus aufs offene Meer: (…) Nicht die Dialektik von Kontinuität und Unterbrechung, sondern das Ereignis, der jeweils nächste Schritt in einem unsicheren Gelände, wird zum neuen Inkulturationsort des Evangeliums.«

Michael Schüßler1

1. Risiko

In religiös individualisierten Zeiten, in denen die alten kirchlichen Kathedralen und Festungen in Ruinen liegen und die Kirche hinausgezwungen wird ins freie Feld der religiösen und gesellschaftlichen Unübersichtlichkeit, stehen zwei Dinge bevor: ein mutiger Schritt nach außen und ein ebenso mutiger zurück. Beide Schritte zusammen bilden das Ereignis der Pastoral.

Das pastorale Handeln der Kirche wird an seinem situativen Pol nicht um das Risiko des Sich-Aussetzens herumkommen,2 an seinem Traditionspol aber nicht um eine ganz neue und vertiefte dogmatische Erinnerung, wenn denn »dogmatisch« heißt, Antworten aus dem Glauben zu entwickeln auf Fragen, die sich dem Glauben stellen. Dogmen sind »Antwort auf Fragen des Menschen nach Gott, die sich in Schrift und Tradition, aber auch in der Lebenserfahrung stellen«3. Beide Bewegungen aber kommen im unvertretbaren Ereignis zusammen.

Wenn die früher selbstverständliche, in Riten, Ästhetiken, Mentalitäten, Katechismen und religiösen Alltagspraktiken geronnene soziale Codierung kirchlichen Handelns an vielen Orten und in vielen Situationen sich in der religiösen Situation der Gegenwart verflüssigt hat und daher nicht mehr selbstverständlich trägt, dann markiert das pastorale Basisdreieck von Situation, Person und Tradition4 ein neues und offenes Feld, das stets neu und offen betreten und gestaltet, in Spannung gehalten und erprobt werden muss. Das große und unabgeschlossene Programm hierfür hat die katholische Kirche bereits entwickelt, sie scheut sich aber offenkundig zunehmend davor, es wirklich durchzuführen: die pastorale Grammatik des II. Vatikanums. Es ist im Ganzen ein Programm des Sich-Aussetzens, des Risikos und des Sprungs der gewagten Handlung aus der Konsequenz des Evangeliums. Dieses Programm sagt vor allem eines: Die Kirche verliert sich nicht im Außen, sondern sie entdeckt sich dort, weil sie dort erkennt, ob, wohin und wie weit ihr Glaube (sie) hier und heute trägt. Das Konzil hält fest: Eine Kirche, die sich nicht »der Welt dieser Zeit« aussetzt, die in der Sicherheit scheinbar unverletzbarer Räume und Gewissheiten bleibt, wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Sie kommt um ihrer Aufgabe willen nicht am Risiko des Wagnisses vorbei: Ihr Ort ist das offene Meer der Hingabe.

Das fordert eine Kultur des Sich-verstören-Lassens durch die Wirklichkeit, das bedeutet Perspektivenwechsel, Wagnis und Demut. Es heißt, sich aufmerksam auf die Welt einzulassen, wie Jesus sich auf die Welt eingelassen hat, heißt, sich auf die Wahrheit in Liebe einzulassen, wie Jesus es getan hat, heißt, das Wagnis des Neuen einzugehen, wie es Jesus in Wort und Tat unablässig getan hat.

Die »magna charta« dieses Programms ist die Pastoralkonstitution des II. Vatikanums und an ihrer Rezeption entscheidet sich die Rezeption des Konzils. Ihr lateinischer Titel »CONSTITUTIO PASTORALIS DE ECCLESIA IN MUNDO HUIUS TEMPORIS« bedeutet wörtlich übersetzt »Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt dieser Zeit«. Die Kirche bekommt in diesem Titel einen doppelten Index – einen örtlichen: die Welt, und einen zeitlichen: diese Zeit. Es geht in der Pastoral nicht um die Kirche überhaupt, irgendwo und irgendwann: Es geht um die Kirche hier und heute.5

Gaudium et spes vertritt eine Grundbotschaft: Kirche muss sich pastoral konstituieren im Hier und Heute – und nicht an ihm vorbei oder gegen ihren konkreten Handlungsort. Ihre eine und ewige religiöse Aufgabe hat sie immer in einem konkreten Hier und Heute zu erfüllen. Denn ihr Ort ist die Welt und die Zeit: Im Himmel gibt es keine Kirche mehr. Kirche ist zwar keine Größe nur im Hier und Heute, denn sie ist das von Gott gerufene und in Christus geeinte Volk Gottes auf dem Weg zu Gott. Sie ist aber eine Größe, deren Aufgabe immer in einem konkreten Hier und Heute zu lösen ist, eine Aufgabe, der sie nicht ausweichen kann und in der sie sich nicht verliert, sondern gewinnt.

Der Pluralismus ist mithin nicht erst ein Problem im Verhältnis der Religionen untereinander oder der Einzelnen in Zeiten der freien Religionsnutzung, er ist eine Realität und ein Problem der Kirche überhaupt. Denn es gibt nicht nur viele Religionen, es gibt auch in einer Religion viele Menschen an vielen Orten zu vielen Zeiten. Der Pluralismus ist eine grundlegende Tatsache auch der katholischen Kirche, weil er eine grundlegende Tatsache menschlicher Existenz in Zeit und Raum ist.6 Totalitarismen sind der Versuch, diese Tatsache gewaltsam zu übergehen.

Es wäre zu wenig, das II. Vatikanische Konzil als »Reformkonzil« zu verstehen. Man missachtet seine Zukunftsfähigkeit als Programm einer pastoral konstituierten, sich von ihrer konkreten Handlungsbedeutsamkeit her entwerfenden Kirche, wenn man es historisiert (»optimistischer Zeitgeist der 1960er«), spaltet (»zwiespältige Ekklesiologie«) oder sich an der nachkonziliaren Umdeutung seiner zentralen und maßgeblichen Volk-Gottes-Ekklesiologie zu einer angeblich vorherrschenden communio-Ekklesiologie beteiligt.

Entweder wir orientieren uns wirklich am letzten Konzil und besinnen uns auf dessen Programm einer pastoralen Konstitution der Kirche im Hier und Heute oder die katholische Kirche wird ihren Exkulturationsprozess fortsetzen und damit auch nach und nach jede christliche Authentizität verspielen. Die Piusbrüder bilden hierfür ein fulminantes Anschauungsobjekt,7 dessen Dramatik und Exemplarität man nicht über seiner folkloristischen Ästhetik und gesellschaftlichen Marginalität übersehen sollte.

In der Kirche geht es immer nur um die pastorale Aufgabe der Kirche. Diese aber liegt in der kreativen, handlungsbezogenen Konfrontation von Evangelium und individueller wie kollektiver Existenz; eine Konfrontation ist es, denn das Evangelium hat auch kritischen Charakter gegenüber der Existenz, kreativ aber ist sie, insofern sie uns befreit in der Gnade Gottes.8

2. Erinnerung

Der Kirche darf es selbst weder um ihre Größe und Schönheit gehen noch um ihre Beliebtheit und ihren Einfluss. Sie hat alles dies nur zur Verfügung – wenn sie es denn zur Verfügung hat – um ihrer pastoralen Aufgabe willen. Der Kirche ist mithin in all ihrem Handeln eine Auf-Gabe vorgegeben. Sie verpflichtet sich auf diese Aufgabe und auf den Primat der Aufgabenorientierung in ihren eigenen Selbstverständnisdiskursen. Insofern sie diesen Diskurs überhaupt führt und für sich selbst als verbindlich ansieht, kann sie sich dieser Auf-Gabe nicht einfach entziehen, da sie nach ihrem eigenen Verständnis gerade nicht souverän über diesen Diskurs verfügt. Diese Nicht-Verfügbarkeit ihrer eigenen Aufgabe durch sie selber benennt formal der Offenbarungsbegriff. Man kann darin eine höchst diffizile Struktur erkennen: Die Kirche findet in ihren eigenen Diskursen den Anspruch an sich selber vor, gerade nicht einfach über sich verfügen und die eigenen Ziele je nach Belieben neu definieren zu können, wie es etwa ein Verein kann, sondern sie verpflichtet sich in ihrem eigenen Selbstverständnisdiskurs auf das Handeln aus der Nachfolge Jesu, verpflichtet sich auf seinen Gott und damit auf jenes Handeln, das aus dem Glauben an den Gott Jesu folgt.

In der katholischen Ekklesiologie ist gerade die Existenz der Hierarchie die soziale Manifestation dieser für die Kirche nicht-verfügbaren Selbstverpflichtung der Kirche auf ihre Aufgabe. Gerade die Hierarchie ist also nicht dazu da, Kirche auf ihre eigene Institutionalität zu verengen, sondern sie an ihre die eigene Institutionalität entgrenzende pastorale Grundaufgabe der kreativen Konfrontation von Evangelium und Existenz zu erinnern.

Alle kirchlichen Handlungsorte unterliegen damit der Polarität von Erinnerung und Kreativität. Erinnerung meint dabei nicht folgenlose Rekapitulation von Gewesenem, sondern die Selbstverpflichtung auf einen spezifischen Ort der Menschheitsgeschichte, die in Jesus erfahrbare Selbstzusage und Selbstaussage Gottes als Basis des eigenen Lebens, als Entdeckungsprinzip von Gegenwart und Zukunft. Die »Gemeinschaft im Glauben ist kein fertiger Zustand, der unverändert in Raum und Zeit zu konservieren ist, sondern das immer neue Geschehen des Zur-Übereinstimmung-Bringens des Sinn- und Handlungssystems Kirche«9.

Die Kreativität, die schöpferische Kraft, die aus der Erinnerung an die Botschaft des Evangeliums erwächst, ist dabei selbst ein Maßstab der Erinnerungsleistung, wie umgekehrt diese Erinnerung den Maßstab der Entdeckung der Gegenwart und des Lebens in ihr darstellt. Wobei natürlich auch schon die kreative Erinnerung an die Botschaft Jesu selbst ein Projekt der Gegenwart ist und deshalb ihre Geschichte hat.

In diesem Sinn geht es in der kreativen Erinnerung, in dieser normativen Relation aller christlichen Handlungsorte, nicht nur um Kontinuität, sondern auch um »Differenz«, nicht nur um »Konsens« und »Weitergabe«, sondern auch um »Divergenz«, nicht nur um Tradition, sondern auch um Innovation. Nur dadurch gibt es Tradition, weil es Innovation gibt. Denn Tradition ist die erinnerte Geschichte der innovativen Entdeckungen des Glaubens.

Der grundlegende normative Bezug pastoraler Handlungsorte ist keine historistische Rückwendung, auch keine autoritaristische Fremdverpflichtung, er ist der Kirche vielmehr gegeben und aufgegeben zur Realisation der Kreativität von Gottes Gegenwart für Mensch und Welt heute. Nur wo sie diese Kreativität in ihrem Handeln realisiert, beruft sie sich nicht nur auf ihre normative Grundlage, sondern verwirklicht sie diese auch. Dazu aber ist jeder kirchliche Handlungsort da.

Genau diese Konstellation fasst der Pastoralbegriff des II. Vatikanums.10 Er meint nicht mehr nur den priesterlichen Dienst am Laien, sondern den Dienst der Kirche insgesamt, also Priester und Laien zusammen, an der Welt im Ganzen. Dieser Umstand bedeutet eine äußere und eine innere Erweiterung von Pastoral, eine äußere, denn politisch-soziale Fragen werden in ihr zu einem wirklichen Gegenstand, eine innere, denn Basis aller Pastoral ist der Glaube an die Berufung des Menschen, Träger und Trägerin des Evangeliums von Gott und Christus zu sein.11

Pastoral ist ein Ort der Entäußerung Gottes hinein in die Hände jener, die sich auf ihn beziehen, ein Ort, an dem Gott hilflos seiner Beanspruchung durch sein Volk ausgeliefert ist.12 In der Pastoral geht es um Gottes Präsenz unter den Menschen in risikoreichen Prozessen menschlichen Handelns in seinem Namen. Das Konzil leistet hiermit eine wirkliche Neubestimmung des Pastoralbegriffs und des Verhältnisses von Dogma und Pastoral, von Orthodoxie und Orthopraxie.

»Es lehrt den Primat der Orthopraxie. Denn es behandelt die Pastoral vorrangig. Das Lehramt selbst dient vorrangig ihrem Zweck, sagt der Papst in der Eröffnungsrede. Dogmen sind in ihrem Wesen pastoral. Die Lehre von der Kirche auf dem Konzil umfasst daher nicht eine, sondern zwei Konstitutionen, eine dogmatische – ›Lumen Gentium‹ – und eine pastorale – ›Gaudium et spes‹. Beide sind ineinander verschränkt. In der dogmatischen Konstitution werden pastorale Themen behandelt – etwa die Berufung des Christen zur Heiligkeit – und in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute dogmatische Themen – etwa die Würde des Menschen. Die Pastoralkonstitution schließlich besteht aus drei Teilen: einem analytischen – die Situation des Menschen in der Welt von heute; einem dogmatischen – die Kirche und die Berufung des Menschen; und einem pastoralen – Einzelprobleme des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Sie folgt damit der Methode des Sehens, Urteilens und Handelns. Sie ist der ureigene Beitrag des Konzils und der hermeneutische Schlüssel zu seiner Gesamtinterpretation.«13

Die berühmte definitorische Fußnote von Gaudium et spes 1, in welcher Pastoral als das »Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute« bestimmt wird, das die Kirche, »gestützt auf Prinzipien der Lehre«, aufzubauen habe, markiert den konstitutiven Rang von Pastoral und die praktische Bedeutung von Lehre. Auch die vorkonziliare Ekklesiologie kennt natürlich einen spezifischen Zusammenhang von Dogma und Pastoral, von Lehre und kirchlichem Handeln. Es ist im Wesentlichen ein sozial-institutioneller Zusammenhang, ein Zusammenhang unter dem Vorzeichen der ungebrochenen potestas der societas perfecta ecclesia catholica, es ist ein Zusammenhang über »Gewalt und Vollmacht« der Kirche.

Die katholische Kirche definiert ihre Pastoral auf dem II. Vatikanum nicht mehr im Horizont ihrer kirchlichen Institutionalität, sondern ihre Institutionalität im Horizont ihres pastoralen Grundauftrages. Das Konzil stellt der Kirche die Aufgabe, »Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« (LG 1) und so das »allumfassende Sakrament des Heiles« zu sein, »welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht« (GS 45).

Die polare Einheit von »offenbaren« und »verwirklichen« formuliert nichts weniger als eine »pastorale« oder, philosophisch gesprochen, eine »pragmatische« Wende14 in der katholischen Ekklesiologie, also eine handlungsbezogene Reformulierung der kirchlichen Lehre von sich. Denn es heißt: Die Kirche offenbart diese Liebe, indem sie diese verwirklicht in Wort und Tat, in Hingabe und Selbstlosigkeit. Allein schon dass man nach langen Kämpfen und Auseinandersetzungen eine »Pastoralkonstitution« in die Quadriga der zentralen Konzilstexte aufnahm und damit den Pastoralbegriff mit dem Offenbarungs-, dem Kirchen- und dem Liturgiebegriff auf die gleiche Ebene stellte, belegt dies.

Die zweitvatikanische Neubestimmung des Pastoralbegriffs stellt ein wirkliches Lösungsmodell aktueller pastoraler Probleme dar. Denn das Konzil formuliert hier eine Selbstverpflichtung, freilich auch eine der Kirche geschenkte Möglichkeit, und keine in Erlösungsmetaphern gekleidete Herrschaftsprätention.

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