Kitabı oku: «2022 – Unser Land», sayfa 4
„Ist schon gut, lass uns den Weihnachtsfrieden wahren. Aber ein paar kritische Anmerkungen kann jeder mal gebrauchen. Los, Mutter kommt jeden Moment, lass die Flaschen verschwinden.“
Felix nahm den Waffenstillstand der Worte an, konnte sich jedoch nicht verkneifen, noch einen Pfeil gegen Robert abzuschießen.
„Mein Bruder, der große Demokrat und Revoluzzer – und wenn die Mama kommt, müssen schnell die Biere weg. Ich denk, in euren Kreisen geht es so offen und unkompliziert zu?“
„Lass gut sein“, Robert grinste nur und sagte weiter: „Das kriegst du alles zurück, du Vertreter der Bourgeoisie!“
Nach einer Weile des stillen Wartens klingelte es an der Wohnungstür und beide standen auf, um Doreen zu begrüßen.
Felix nahm ihr die Einkaufstüten ab und ließ sich von ihr herzlich drücken. Doreen freute sich immer aufrichtig, wenn sie ihre beiden Söhne bei sich zu Hause hatte und sich um sie kümmern konnte. Sie betrachtete Felix schon seit Ewigkeiten nicht mehr als ihr Pflegekind, sondern machte, was ihre Herzlichkeit betraf, keine Unterschiede zwischen den beiden. Es war ohnehin in der zweiten Hälfte der 2010-er Jahre sehr schwer geworden, angesichts der verknappten und verteuerten Mobilität, Freunde oder Verwandte zu besuchen. Wenn sie Felix zwei Mal im Jahr sah, war das viel, und sie freute sich, dass er mit seiner privilegierten Stellung die Möglichkeiten dazu hatte. Das ging den wenigsten Familien so. Es war inzwischen die Regel, Besuche nur noch in unmittelbarer Nähe anzutreten. Sobald die Strecke zu groß wurde, machte man sie schlicht nicht mehr. Das Geld für die Treibstoffe konnte einfach kein normaler Privathaushalt mehr aufbringen. Jeder war indessen froh, wenn seine Angehörigen nicht mehr in die Ferne zogen, um zu arbeiten oder das Leben zu genießen. Da trotzdem viele der jüngeren Menschen diesen Wunsch verspürten, brach die familiäre Bande in den meisten Fällen auseinander, und es fehlte der Mehrzahl der Menschen an sozialen Bindungen – ein erheblicher Grund für die deutlich spürbare Schieflage im sozialen Gefüge der Republik. Es sehnten sich sogar viele wieder nach Verhältnissen, wie sie vierzig Jahre zuvor im Ostteil des Landes herrschten – und das in der gesamten Republik.
Doreen machte sich nach der längeren Begrüßung in der Küche zu schaffen. Als sie später zusammen saßen und sich das Mittagessen schmecken ließen, strahlte sie unmerklich. Diese Momente gaben ihr Wärme und Zufriedenheit. Jedoch dachte sie auch daran, dass ihre Söhne regelmäßig aneinander gerieten und sich im Streit heftige Wortgefechte lieferten. Sie waren einfach zu unterschiedlich. Sie jedoch wollte die nächsten Tage in Ruhe verbringen und hoffte, dass es vielleicht diesmal ohne größere Streitereien klappte.
Später, nach dem Mittagessen sprachen sie wenig. Robert hatte anklingen lassen, dass er über den Besuch bei Paul Bescheid wissen wollte, doch Felix hatte nur abweisend geantwortet, er habe wegen seiner Arbeit in einem neuen Arbeitskreis noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Er wolle über die Feiertage versuchen, diesen Besuch zu erledigen. Dazu habe er seiner Frau klargemacht, dass die gemeinsame Rückreise diesen Umweg bedeuten würde. Der Bengel war zwar nicht begeistert, hatte aber gegenüber seinem Vater keinerlei Stimmrecht.
Seine Tätigkeit im AK Finanzkonsolidierung erwähnte er nicht weiter, auch aus dem gegebenen Geheimhaltungsversprechen.
***
Der unvermeidbare Familienstreit brach am Heiligabend aus. Auslöser war ein vorerst harmloses Gespräch zwischen Felix und seiner Frau Rita. Er hatte sich bei ihr erkundigt, wie die Fahrt zum VP gewesen war, und erfahren, dass sie den Mietbus selber gefahren hatte.
„Wie kannst du nur so naiv sein?!“, polterte er ziemlich heftig los. „Du weißt, was uns deine Fahrerei schon gekostet hat. Der Bus war mit meiner ID bezahlt!“
Sie erwiderte ohne große Gegenwehr: „Sei nicht so aggressiv, so schlimm fahre ich nicht. Ich habe nichts bemerkt, wenn dich das beruhigt. Die anderen wollten nicht fahren.“
„Rita, du hast wirklich keine Ahnung! Nichts bemerkt, das ist doch Quatsch. Lückenlos bist du dran – und das auf mein Konto! Ich kann es gar nicht fassen, dass du selber gefahren bist. Wie kann man nur so doof sein!“
Der Bengel wollte Rita helfen und wandte ein: „Es war wirklich nichts, Mama ist ganz ordentlich durchgefahren.“
Jetzt wurde sein Vater richtig laut und grob: „Bengel, halt dich da raus! Du hast gar nichts zu sagen. Deine Mutter hat einen Fehler gemacht und du wirst den nicht rückgängig machen. Also halt die Klappe!“
Felix hatte sich in Rage geredet. Auch die nervösen Blicke von Doreen, die den Streit mitbekam, änderten daran nichts. Felix konnte nicht wegen einer vermeintlichen friedlichen Weihnachtszeit darauf verzichten, auf dem Unrecht herumzuhacken, das ihm wahrscheinlich durch Ritas Fahren blühte. Robert hatte im Nebenzimmer in etwa mitbekommen, worüber die beiden stritten. Er versuchte sich herauszuhalten, wusste er doch, dass sein Bruder weitestgehend recht hatte.
Grund für die erhebliche Aufregung war, dass seit vergangenem Jahr die lückenlose Verkehrsüberwachung durch die Regierung beschlossen und in einer dreimonatigen Übergangszeit technisch in die Tat umgesetzt worden war. Grundelement dieser hundertprozentigen Überwachung wurde eine Blackbox, die jeder Fahrzeughalter auf eigene Kosten einbauen musste. Herstellung und Vertrieb liefen über den Staat. Zu dieser Box gehörten vier Minikameras, die nicht größer als eine Scheckkarte waren, über Funk ihre Bilder von allen Fahrzeugseiten an die Box sendeten und die einfach in die Fensterscheiben geklebt wurden. Die Box zeichnete damit jede Bewegung des Fahrzeuges optisch auf und speicherte dazu jeweils Datum, Uhrzeit, GPS-Daten und Geschwindigkeit. Die Zuordnung des Fahrers über sein persönliches ID wurde technisch noch nicht umgesetzt, war aber nur noch eine Frage von Monaten. Die Halterermittlung reichte vorerst für die Verfolgung von Verstößen vollkommen aus. Die gespeicherten Daten der Box wurden einmal im Monat über UMTS abgerufen und elektronisch ausgewertet. An zentraler Stelle liefen die Daten zusammen. Dort mussten dann lediglich noch Algorithmen die jeweiligen Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Missachtungen von Verkehrszeichen erkennen, die jeweilige Ordnungswidrigkeit oder den Straftatbestand zuordnen und das dafür zu erhebende Strafgeld bestimmen. Das Geld wurde anschließend automatisch vom Konto des Fahrzeughalters abgebucht. Eine Überwachung der Verkehrsräume durch die Polizei wurde damit vollkommen überflüssig.
Das System arbeitete so zuverlässig, dass die Verkehrsverstöße in so hohem Maße zurückgingen, dass seitens des Staates die Strafmaße ständig erhöht werden mussten, um die kalkulierten Einnahmen sicherzustellen. Allein durch den Wegfall der Verkehrspolizei konnte die Regierung jährlich eine ganze Menge Geld einsparen. Verstöße gegen die Einbaupflicht für die Blackbox wurden mit Geldstrafen in Höhe von 30 Tagessätzen und der Stilllegung des betroffenen Fahrzeuges geahndet. Es funktionierte wirklich reibungslos und zielsicher. Ein angenehmer Nebeneffekt war, dass der Straßenverkehr erheblich an Sicherheit gewann, was andererseits auch mit dem Rückgang der Privatfahrten an sich zusammenhing. Die Republik wurde in dieser Hinsicht das sicherste Land der Welt – und das innerhalb von nur einem Jahr.
Auf Ritas Fahrweise übertragen bedeutete das für Felix, dass er die Verstöße seiner Frau über die Buchung des gemieteten Kleinbusses mittels seinem ID auch die Strafgelder verbucht bekam. Zudem hatte er zu Beginn dieses Überwachungsprogramms enormes Lehrgeld bezahlt; das verschwieg er immer häufiger. Die Abbuchungen am Monatsende waren teilweise eine krasse Belastung gewesen, waren hier doch Beträge von einem halben Monatseinkommen angefallen.
Er schloss das Thema mit den Worten ab: „Rita, das war das letzte Mal. Ich gehe nicht dafür arbeiten, damit du das Geld übers Gaspedal an den Staat zurückbuchst. Ich kürze dir dafür dein Taschengeld auf die Hälfte.“
Es war ihm egal, ob er gerade zu Heiligabend diese Maßnahme verkündete. In dieser Beziehung war er knochentrocken oder, was er lieber hörte, chemisch gereinigt.
Robert hatte inzwischen alles mit angehört und konnte nur den Kopf schütteln. Am liebsten hätte er beiden ordentlich seine Meinung gesagt und dabei mit Kritik nicht gespart. An Robert störte ihn, dass er in persönlichen Dingen diese Härte anwendete, und an Rita störte ihn, dass sie tatsächlich so dämlich Auto fuhr. Und das war so naiv, nachdem die gesamte Republik bezüglich des Fahrverhaltens einer Rosskur unterzogen worden war.
Robert beschloss, es dabei bewenden zu lassen und vielleicht später in besserer Stimmung mit seinem Bruder unter vier Augen zu reden.
Auch Doreen war wieder etwas gelöster, nachdem sich die beiden Streithähne beruhigt hatten. Während des Gesprächs hatte sie sich beflissentlich mit dem Bengel beschäftigt. Allerdings konnte sie dabei nicht auf normale Omaqualitäten bauen, dazu war das Verhältnis zwischen ihr und dem Enkel einfach zu flach und zu gelegentlich.
Am Abend fanden sich alle in Doreens Wohnzimmer ein, um den heiligen Abend zu begehen. Geschenke gab es nicht, mit Ausnahme eine selbstgestrickten Schals, den Doreen ihrem Sohn Robert schenkte; als Dankeschön für seine Unterstützung während ihrer Krankheit. Robert ging das nicht sehr nahe. Der erste und zweite Feiertag wurde in Monotonie verbracht, gutes Essen und kurze Spaziergänge in den Auwald wechselten sich ab. Die Abende widmeten stets alle gemeinsam einem langen Rommeespiel. Unterm Strich ging es bis zur Verabschiedung in den Abendstunden des zweiten Feiertages recht harmonisch zu. Leider geschah dies nur unter der Zurückhaltung der angestauten Emotionen zwischen Robert und Felix. Wenn es nur nach Felix gegangen wäre, hätte er seinen Teil des Streitpotenzials unterdrücken können; nicht aber sein Bruder Robert. Nach der Verabschiedung an der Wohnungstür begleitete Robert die drei noch bis vor die Haustür.
Kaum standen sie auf der Straße donnerte Robert schon los: „Felix, du bist aber auch ein unausstehlicher Kotzbrocken. Wie kannst du nur so herzlos mit deiner Familie umgehen? Was soll das?“
Der Angesprochene hatte mit diesem Vorwurf „in letzter Minute“ nicht mehr gerechnet und antwortete etwas unsortiert: „Robert, wie meinst du das? Hatten wir nicht zwei schöne Weihnachtstage? Mach doch nicht alles immer kaputt mit deinem engstirnigen Moralgedöns!“
Felix fühlte sich zu Unrecht angegriffen, war ihm doch solches Fehlverhalten, wie es ihm sein Bruder vorwarf, gar nicht bewusst.
Robert fluchte weiter: „Das sieht dir ähnlich. In deinem Politikclub ist so was wahrscheinlich in Ordnung. Hier geht’s aber um echte Menschen: deine Familie.“
Rita und der Bengel waren zu Beginn des Wortwechsels sofort in den Mietbus gestiegen und hatten die Türen wütend zugeschlagen. Auch ihnen ging die ewige Streiterei der beiden Brüder gewaltig gegen den Strich. Der Bengel hatte überhaupt keine Vorstellung und Ritas Oberflächlichkeit ließ ebenfalls nur wenig Selbsterkenntnis und damit Einsicht in die Perspektiven ihres Schwagers zu.
„Bruderherz“, versuchte Felix zu beschwichtigen, „was habe ich dir denn getan? Sei mal selbst nicht so krass an Weihnachten!“
„Hoffentlich, mein lieber Felix, wirst du nie eine wirklich verantwortungsvolle Funktion in unserem Land übernehmen. Davor würde mir grauen. Du bist einfach nicht fähig genug, die Ängste und Nöte deiner Mitmenschen zu analysieren, geschweige denn zu lenken und zu leiten.“
Felix war indessen richtig verärgert und bedauerte seinen Besuch in der ehemaligen Messestadt. Eigentlich verfluchte er jedes Jahr bei seiner Abreise diesen Umstand. Sollte sein Bruder doch in seinem kleinen Südvorstädtchen seine Revolution beginnen. Die Hackordnung in der Republik oder der Welt kratzte das nicht. Und Felix auch nicht. Trotzdem liebte er seinen Bruder und versuchte weiter, die Verärgerung etwas zu dämpfen.
„Robert, ich versichere dir, dass ich mich voll und ganz im Sinne unserer Bevölkerung im Rahmen meiner Möglichkeiten einsetze. Du weißt nur nicht, wie begrenzt diese Möglichkeiten sind. Glaubst du, ich kann einfach mal ’ne tolle Idee in die Tat umsetzen, als Gesetz vorschlagen? Und dann wird alles besser?“
Erneut dachte er an seine Aufgabe im Arbeitskreis, mit dem er auch am Folgetag wieder eine Zusammenkunft hatte. Eigentlich hatte er es sehr eilig, wollte er doch auch noch den Besuch im Gefängnis bei Paul bewerkstelligen.
„Ich glaube dir gar nichts. Obwohl du mein Bruder bist und wir eigentlich Vertrauen zueinander haben sollten. Los, macht euch nach Hause und grüß Paul. Aber eins sag ich dir, ich finde raus, was ihr zusammen besprochen habt. Lass bloß die Finger von ihm. Der soll seine Strafe absitzen und ein besserer Mensch werden. Hast du mich verstanden?“
Robert hatte sich wieder beruhigt, aber die Warnung bezüglich Paul wollte er noch loswerden.
Felix erwiderte: „Mach dir keine Gedanken darüber. Zumindest keine schlechten. Was denkst du eigentlich von mir? Bin ich in deinen Augen etwa nicht rechtschaffen?“
„Macht es gut und gute Heimfahrt, Felix.“
Er verabschiedete sich noch von Rita und dem Bengel und drückte zum Abschluss seinen Bruder lange.
Sie konnten nicht mit und nicht ohne einander.
6. KAPITEL
Der Alltag in der Jugendstrafanstalt Brassnitz begann um fünf Uhr. Die Gefangenen wurden von einem langen unerträglichen Alarmton geweckt. Fünf Minuten später klappten sich die Liegen automatisch an die Wände. Fünf nach halb sechs wurde das spärliche Frühstück ausgeteilt. Ab sechs Uhr durften die Gefangenen in den Hof. Dieser Freilauf wurde bis achtzehn Uhr nur vom Mittagessen unterbrochen, was praktischerweise gleich im Hof stattfand und wodurch die Anstalt ihre Kosten deutlich senken konnte. Der Bewachungsaufwand tagsüber wurde auf ein Minimum reduziert. Alle dreißig Meter waren Wachtürme errichtet, von denen beim geringsten Anlass wahlweise mit Gummigeschossen, Tränengas oder Wasserwerfern disziplinierend auf revoltierende Cliquen eingewirkt werden konnte. Sollten diese Maßnahmen nicht ausreichten, wurde ohne Weiteres auch scharf in die Problemzonen geschossen. Als Folge dieser drastischen Härte gab es anfänglich im Schnitt jeden Monat einen Toten. Für die Gefängnisleitung stellte dies jedoch lediglich hinsichtlich der Statistik und der damit zusammenhängenden Bürokratie ein Problem dar.
Paul gehörte zu der Gefangenengruppe, die tagsüber einer Beschäftigung nachgehen durfte. Dies stellte ein Privileg dar und wurde nur den Jugendlichen zugestanden, die einen eher leichteren Strafenkatalog aufzuweisen hatten. Das verwunderte, wenn man Pauls brutalen Übergriff auf die junge Frau in der Südvorstadt in Betracht zog. Aber angesichts der Tatsache, dass drei Viertel der Taten, wofür die Jungen hier einsaßen, Mord und Totschlag waren und das restliche Viertel sich aus schwerer Körperverletzung, Erpressung, Raub und Vergewaltigung zusammensetzte, relativierte sich das. Tatsächlich mussten die Straftatbestände dieses kleineren Anteils in der jetzigen Phase der Republik leider wirklich als die weniger aufregenden angesehen werden. Pauls Glück schien zunächst daraus zu bestehen, dass er „nur“ eine versuchte Vergewaltigung und einen versuchten Mord vorzuweisen hatte. Praktisch ein „leichter“ Fall.
Trotz Pauls erstaunlicher Gewaltbereitschaft in seinem niedrigen Teenageralter wartete im Knast auf ihn die ganz harte Schule. Die Verantwortlichen fanden das in Ordnung und es wurde ihm keinerlei Schutz oder Hilfestellung gewährt.
Er lag an diesem Morgen todmüde im Bett, als ihn der Weckton hart aus dem Schlaf riss und die Tür seiner Einzelzelle automatisch aufflog. Ihm steckte noch die Spezialbehandlung in den Gliedern, die ihm am Abend zuvor in der Dusche zuteil wurde. Er konnte sich kaum regen und rieb sich seine schmerzenden Körperteile, insbesondere das Gesäß.
Nach Ansicht seiner Mithäftlinge war Paul einfach noch nicht zäh genug, um den Alltag im Knast schadenfrei überstehen zu können. Er war ein leichtes Opfer für die zumeist sechzehn- bis zwanzigjährigen Mitinsassen. Gewissermaßen als Zeitvertreib und sogar ohne größere Aggression suchten sich diese besonders barbarisch vorgehenden Typen stets solche zarten Typen wie Paul aus.
Das wöchentliche Duschen erwartete er seit dem ersten Überfall ohnehin nur noch mit Schrecken. Da dies die einzige Möglichkeit war, ein Mindestmaß an Körperhygiene einzuhalten, ist er auch gestern trotzdem um einundzwanzig Uhr in den Duschraum gegangen. Er war in Begleitung von drei anderen Jungs, die ihm nicht feindlich gesinnt waren, auch in seinem Alter und mit den gleichen Problemen behaftet.
Dragon war einer der Ältesten, sein Vorstrafenregister war umfangreich und entsprechend lange würde sein Aufenthalt dauern. Seinen Spitznamen hatte er sich dadurch verdient, dass er in besonders rauen Fällen seine Opfer mit Brandwunden verschandelte. Er wurde von jedem gefürchtet und gehasst und so stellte er auch für Paul eine unüberwindliche Tatsache dar.
„Paulchen, ich habe heute Lust auf Zärtlichkeiten“, rief er selbst schon unter der Dusche stehend dem Eintretenden zu.
Paul verdrehte die Augen, wusste was ihn erwarten würde und drehte auf der Hacke um. ‚Scheiß aufs Duschen‘, dachte er noch, bevor ihn zwei andere Mithäftlinge hart anpackten. Dragon hatte für seine Attacken stets Verbündete und sich vorbereitet. Eine spontane Sache zog er nie durch. Pauls Kehle wurde von einem der beiden Helfer hart zugedrückt, so dass er keine Luft mehr bekam. Der andere verpasste ihm einen so brutalen Hieb in den Magen, dass er schlaff zusammensackte und sich auf dem Fußboden vor Schmerz krümmte. Die Jungen, die ihn eben noch begleitet hatten, standen abseits an der Wand und trauten sich keine Regung zu.
Dragon brüllte sie an: „Ihr bleibt stehen. Wir haben gerne Zuschauer und brauchen etwas Publicity. Dass ihr auch ja hübsch berichtet, was ihr gleich sehen werdet. Los Jungs, bereitet ihn vor!“
Die letzten Worte waren an seine Helfer gerichtet. Diese wussten, was sie zu tun hatten, und spulten routinemäßig ihr Sportprogramm ab. Dragon und sie waren täglich im Fitnessbereich auf dem Hof und hatten passend zu ihrer riesigen Körpergröße breite Schultern, Muskeln, wohin das Auge reichte, und konnten es mit jedem in der Anstalt locker aufnehmen. Da sie angesichts ihrer langen Strafen ohnehin nichts zu verlieren hatten, konnten sie sorglos durch die Massen prügeln. So auch an diesem Abend wieder. Einer zerrte Paul wieder vom Boden hoch und rückte ihn für seinen Kumpel zurecht. Wehrlos ließ Paul die nächsten Fausthiebe in sein Gesicht, seinen Magen und abschließend einen kräftigen Tritt in seine Weichteile über sich ergehen. Er hatte keine Chance. Die anderen gafften nur ängstlich und waren froh, nicht selbst „behandelt“ zu werden. Paul ging es mittlerweile körperlich schlecht; erneut lag er auf dem Fußboden.
Einer der Helfer ging aus dem Duschbereich zurück in den Vorraum und schleifte eine Holzbank in die Dusche. Hier kontrollierten die Wärter ganz bewusst nich, sollte doch damit der internen Disziplinierung, aber auch dem Aggressionsabbau des harten Kerns der Häftlinge freier Lauf gelassen werden.
Paul startete wimmernd einen Versuch, um Gnade zu betteln: „Dragon, bitte verschon mich heute. Es sind doch genügend andere da. Lass mich ganz.“
Der Angeflehte lachte schallend und trat praktischerweise nach ihm. Da er nackt und ohne Schuhe in der Dusche stand, konnte dieser Tritt nicht allzu viel Schaden anrichten und Paul raffte sich erneut auf: „Bitte, ich kann dir doch anders nützlich sein. Sag mir, was ich machen kann, damit du aufhörst. Bitte!“
„Am meisten gefällt mir, wie du wimmerst. Du kleiner Scheißer, die Alte habt ihr doch auch gut bedient. Das sollst du doch auch erleben dürfen. Schöne Qualen, am besten noch’n bisschen Todesangst dazu. Keine Angst, wir machen dich nicht platt, haben doch sonst kein Spielzeug mehr. Paulchen, wimmere weiter. Los! Arme Sau!“
Während des Wortwechsels hatte einer der Helfer Paul mit dem Oberkörper auf die Bank geknallt. Seine rohen Kräfte ließen ihn mit Paul umgehen wie mit einem Kleinkind. Sie hatten sichtbar Spaß mit ihm. Lachend kniete er auf dem Rücken von Paul und quetschte dessen Gesicht auf das Holz. Paul stöhnte erneut vor Schmerz. Er litt höllische Schmerzen; leider wusste er, dass es noch schlimmer werden würde. Blut aus Mund und Nase lief durch das Holz der Bank und bildete darunter eine Lache. Dragon griff nun wieder persönlich in die Aktion ein und benutzte den Holzstiel eines Schrubbers, der in der Dusche stand, um Pauls Rücken und insbesondere seine Nierengegend zu malträtieren. Paul schrie bei jedem der heftigen Schläge laut auf.
Die drei anderen Mitinsassen, die mit Paul in die Dusche gekommen waren, standen immer noch unverändert und ohne Regung an der Wand und mussten zusehen. Sie fürchteten sich davor, dass ein Seitenblick von Dragon sie traf und sie die Nächsten sein könnten.
Doch dies war nicht im Sinn der Angreifer. Sie benötigten die drei weiterhin als Zuschauer und dafür, dass die Aktion sich möglichst detailgetreu unter den Insassen verbreitete. Allerdings war das nur eine von hunderten Aktionen von Dragon und seinen Kumpanen.
Nachdem Paul mehrere dutzend harter Schläge eingesteckt hatte, sein Rücken rot und an einigen Stellen blutunterlaufen war, ließ Dragon nach und machte eine Pause. Dazu setzte er sich auf Paul und machte es sich möglichst bequem. Den Schrubberstiel gab er einem seiner Helfer und zwinkerte diesen dabei an. Dragon wusste von dessen perversen Neigungen und wollte ihm, nachdem er selbst fertig war, die Gelegenheit geben, diesen Neigungen an Paul nachzugehen.
Dragon selbst ging wieder unter die Dusche und widmete sich seiner Körperhygiene, als wäre nichts weiter vorgefallen. Die nun folgende Vergewaltigung an Paul nahm er nur aus den Augenwinkeln war; es war ihm egal, was weiter geschah. Selbst wenn sein Opfer getötet worden wäre, hätte er seinen Duschgang nicht unterbrochen. Für ihn war das alles ein normaler Tagesablauf und am späteren Abend verübte er einen weiteren Überfall auf einen anderen Häftling. Es war erbarmungslos und aus Pauls Sicht gab es keine Hoffnung auf Besserung, hatte doch dieser Abend nur eine Fortsetzung seines Martyriums im Knast dargestellt.
Nachdem er sich mühsam aus dem Bett gequält hatte, begann er seine tägliche Routine. Waschraum, Frühstück und ab sechs Uhr Fußmarsch zum anstaltseigenen Werkgelände. Dort trat er an diesem Tag etwas widerwillig seinen Job als Packer an. Sie bildeten insgesamt eine Gruppe von zwanzig Jungen und ihre Aufgabe war es, Pakete mit Gussteilen für einen Maschinenbaubetrieb zu packen. Eine leichte, aber unbezahlte Arbeit, die eine willkommene Ablenkung vom ansonsten harten Knastleben brachte.
Er schweifte mit seinen Gedanken zu dem für heute angesetzten Besuch seines Prozessunterstützers. Paul erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen, wusste aber, dass dessen Stellungnahme ihm sicherlich fünf Jahre Strafe erspart hatte. Er hatte keine Ahnung, was dieser in seinen Augen nutzlose Politikfuzzi von ihm wollte. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust, sich in ein Gespräch mit ihm einzulassen, diese Welt war für ihn nicht nachvollziehbar, auch wegen seines geringen Intelligenzquotienten. Paul kannte seinen Wert, da er bei Haftantritt einen Test gemacht hatte. Mit 79 Punkten befand er sich im Durchschnitt des Gefängnisses, galt aber für das normale Leben als leicht dumm. Sein Unbehagen und seine Minderwertigkeitskomplexe wären noch größer gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sein Gesprächspartner einen IQ von 137 besaß.
Sein Arbeitstag – Feiertage gab es in der Jugendstrafanstalt nicht – endete an diesem Tag wegen des Gesprächs etwas früher und nachdem er den kurzen Weg in die Besucherzellen geführt worden war, saß er dem Fuzzi gegenüber.
Sie hatten eine Stunde Zeit für das Gespräch und befanden sich dafür in einer der Zellen, die im Eingangsbereich für die vertraulichen Besucher vorgesehen waren. Die vertraulichen Besuche stellten eine Ausnahme dar und waren nur durch besondere Befugnisse oder Beziehungen des Besuchers einzurichten.
„Guten Tag, Paul, ich bin Felix Dännicke, du erinnerst dich wahrscheinlich an mich. Ich habe in deinem Prozess für dich Stellung genommen und dir dadurch etwa fünf bis sieben Jahre Hafterlass gebracht.“
Paul war nicht besonders gerührt, musste aber die Hilfestellung von diesem Typ anerkennen. Er nahm sich vor, nicht undankbar zu wirken und ein möglichst normales Gespräch zu ermöglichen. Den Zweck herauszufinden, war ein weiterer Punkt, etwas Disziplin an den Tag zu legen.
„Ich weiß. Danke dafür. Was wollen Sie denn hier?“
Eine vernünftige Konversation war für Paul ungewohnt und er unternahm aus seiner Sicht erhebliche Anstrengungen, zivilisiert zu reden.
„Ich wollte einfach mal sehen, wie es dir geht. Im Prozess war es ja nicht möglich, dich etwas genauer kennen zu lernen. Durch die Fürsprache von meinen Bruder habe ich zumindest die nötigsten Informationen bekommen, die ich brauchte. Ich bin an unserer Jugend interessiert, weil sie doch die Zukunft unseres Landes darstellt.“
Mit solchem, aus Pauls Sicht, Geschwafel, konnte er nicht viel anfangen. Er wusste nicht so recht, wie er eine Stunde auf dieser Ebene reden sollte. Felix nahm ihm die Sache etwas ab und fing an, über Jugendprogramme seiner Partei, über seine eigenen Bemühungen – mit Ausnahme seiner Arbeit im Arbeitskreis –, über Zukunftsaussichten der Republik und über Pauls mögliche Parteiarbeit beim LBD zu reden. Bei diesem Punkt sank Pauls Bereitschaft zu einem Gedankenaustausch auf den Tiefpunkt. Was sollte er in einer Partei? Wusste der Fuzzi überhaupt, mit wem er es zu tun hatte?
Der Fuzzi schwafelte weiter. Pauls Bereitschaft zur Zusammenarbeit vorausgesetzt, könne er sich dafür einsetzen, dass er vorzeitig entlassen werde, außerdem über seine Beziehungen ein eigenes ID und einen Praktikumsplatz erhalten könne. Allerdings würde es sich ausschließlich um Hilfsarbeiten für ihn, Felix, handeln, mit der echten Politikarbeit hätte er keine Berührungspunkte.
Paul fragte nun doch genauer nach: „Was denn für Arbeiten? Ist das überhaupt was für mich?“
„Es geht nicht darum, dass du mir Reden oder Briefe schreibst. Es sind ständig irgendwelche Botengänge, Fahrten zu Veranstaltungen, Wahlkampfhilfen oder andere praktische Hilfsarbeiten zu erledigen. Das wäre was für dich. Vielleicht nicht Vollzeit, aber eine halbe Stelle kriegen wir schon hin.“
„Und wie soll das gehen, mit der vorzeitigen Entlassung? Gute Führung und so? Sehen Sie mal in meine Fresse! Das ist dann wohl gute Führung.“
Paul streckte ihm seine besonders lädierte Gesichtshälfte hin und legte nach: „Am Arsch und noch weiter hab ich noch mehr kaputtes Fleisch. Auch mal ’n Blick riskieren?“
Er lachte gequält und wollte sein Gegenüber nicht weiter belästigen. Diesen Mindestanstand hatte er zu Hause mitbekommen. Felix wendete sich etwas ab und überwand seinen Ekel. Freundlich und unbeirrt setzte er seine Charmeoffensive fort: „Lass mal sein. Ich kenn mich auch aus. Gute Führung heißt vor allem: Lass dir nichts selber zuschulden kommen. Das macht es nur schwerer.“
Felix dachte noch: ‚ … aber nicht unmöglich‘, wollte aber von seinen Möglichkeiten nicht weiter reden.
Nach einer weiteren Viertelstunde Monolog von Felix, kam aus den Lautsprecher die Ansage, dass die Besuchszeit in fünf Minuten beendet sei und die Tür automatisch für eine Minute geöffnet werde. Das bedeutete für die Besucher, dass sie in dieser Minute zuverlässig und aus eigenem Interesse verschwinden mussten. Nachdem die Tür wieder geschlossen war, ließ sie sich nur noch manuell von einem Beamten öffnen. Und wenn es dazu kam, standen für den Besucher und den Besuchten drakonische Strafen auf dem Spiel. Daher funktionierte die automatische Regelung vortrefflich, so wie in allen anderen Bereichen auch; es mussten nur die zu erwartenden Sanktionen richtig schmerzlich sein. Seine Lektion hatte der Saat gelernt.
Felix kam zum Ende: „Also, ich biete dir an: Entlassung in einem Jahr, eigenes ID, Halbtagspraktikum mit Bezahlung. Deinen Wohnort bestimme ich. Du musst darüber nachdenken und ein Jahr friedlich bleiben. Wenn du dich dafür entscheidest, setze ich deine Treue zu mir voraus. Anderenfalls hätte ich auch Mittel und Wege, mich zu wehren. Gib mir in einem Monat Bescheid. Über deinen Vater und Robert Heinel. Direkten Kontakt gibt’s vorerst nicht zu mir! Mach’s gut!“
Diese konkrete, schnelle Art beeindruckte Paul zum ersten Mal. Das war seine Welt: kurz und knapp. Er stand auf und gab Felix die Hand.
„Ich überleg es mir. Will aber auch danach noch was davon haben. Wenn ich es mach. Ich meine erfolgreich sein und so. Tschüss.“
Mit diesen ungewöhnlichen Schlusssätzen beiderseits verließen sie den Raum. Sechs Wochen sagte er seinem Vater bei einem Besuch, er solle über Robert diesem Politfuzzi mitteilen lassen, dass er das Angebot annehmen würde. Die gute Führung gelang ihm zwar nicht. Felix’ Beziehungen waren jedoch so gut, dass er auch diesen Punkt überwinden konnte.
***
Als er den gemieteten Kleinbus wieder erreichte, in dem seine Frau und der Bengel eineinhalb Stunden gewartet hatten, setzte sich Felix nach hinten und begann zu telefonieren. Dass deshalb Rita ans Steuer musste, nahm er in Kauf.
Er rief Ostermann an: „Guten Abend, Herr Ostermann.“
Dass es am zweiten Weihnachtsfeiertag eine Zumutung für andere war, geschäftliche Telefonate führen zu müssen, war ihm egal. Felix kannte keine Privatsphäre, warum sollte er Rücksicht auf andere nehmen? Sein Vorgehen beim Arbeitskreis war da wichtiger und hatte für ihn oberste Priorität.
Ostermann antwortete mürrisch: „Herr Dännicke, guten Abend. Mit diesem Anruf habe ich nicht gerechnet. Sie wissen, dass Weihnachten ist? Ist sitze mit meiner Familie zusammen.“
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