Kitabı oku: «Die Industrielle Revolution», sayfa 4

Yazı tipi:

2.7 Demografie

Die britische Bevölkerung stieg im 19. Jahrhundert nicht nur kontinuierlich an, sie wurde auch immer jünger. Um 1800 gab es rund 9 Millionen Engländer und Waliser, dazu 1,6 Millionen Schotten. Fünf Volkszählungen später, 1851, lag die Gesamtbevölkerung bei fast 21 Millionen, hatte sich also mehr als verdoppelt. Über die Hälfte der Bevölkerung war höchstens 20 Jahre alt, was in der Gegenwart nur von Entwicklungsländern mit sehr hoher Fertilität erreicht wird. Die britische Geburtenrate blieb mit rund 35 pro 1.000 Einwohner bis ins späte 19. Jahrhundert mehr oder minder konstant, jedoch verminderte sich die Sterberate aufgrund immer besserer Ernährung und medizinischer Versorgung stetig. Dank günstiger Erwerbsmöglichkeiten heirateten die Briten im Durchschnitt früher als noch im 18. Jahrhundert, was die Fertilitätsspanne verlängerte. Der Zensus von 1851 zeigte auch, dass erstmals die Mehrheit der Bevölkerung in Städten lebte, was das Resultat einer kontinuierlichen Binnenmigration vom Land in die Stadt war. Die meisten Menschen zogen dabei nicht gleich vom Land in eine Großstadt, sondern fanden eine erste industrielle Arbeit eher in kleineren Städten oder in rapide wachsenden „Industriedörfern“. Andere Industrienationen erreichten diesen demografischen „Turn“, der den Stand der Industrialisierung widerspiegelt, erst wesentlich später: Deutschland um 1900, die USA erst nach dem

[<<42]

Ersten Weltkrieg. Allerdings war die zunehmende Verstädterung nicht gleichbedeutend mit einer Entvölkerung des ländlichen Raumes, denn auch die Landbevölkerung nahm signifikant, jedoch weniger rapide zu. Dabei lebten in Großbritannien immer weniger klassische Bauern und Landarbeiter. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts machten diese nur noch ein Fünftel der Landbevölkerung aus, während die große Mehrheit Handwerker, Kleinhändler, Viehhändler, fliegende Händler, Verwalter, Dienstboten, Wirte und Angehörige weiterer Dienstleistungsberufe waren. Sie betrieben vielleicht noch im Nebenerwerb etwas Ackerbau, trugen ansonsten aber die ländliche Infrastruktur.

Die Binnenmigration veränderte die regionale Geographie Großbritanniens nachhaltig. In den Industrieregionen stieg die Bevölkerung immens an. Die Einwohnerzahl des im Zentrum des nordostenglischen Kohlereviers gelegenen Newcastle beispielsweise wuchs innerhalb des 19. Jahrhunderts von 28.000 auf 215.000; und das war noch eher undramatisch. Die Bevölkerung des südlich von Newcastle gelegenen County Durham verdreifachte sich zwischen 1851 und 1891, was repräsentativ für viele industriell geprägte Gegenden war. Die Gebiete, in denen es keine oder nur wenig Industrie gab, z. B. der Südwesten Englands, Nordwales oder nahezu ganz Irland, verloren massiv an Bevölkerung. In Südwales, präziser den beiden Grafschaften Monmouthshire und Glamorganshire, lebten 1801 lediglich 20 %, am Ende des Jahrhunderts aber fast 60 % aller Waliser. Viele von diesen waren Waliser erster oder zweiter Generation, die sich aufgrund der vorhandenen industriellen Arbeitsplätze dort angesiedelt hatten. Der Wohnort bestimmte zunehmend das Alltagsleben. In den Industrieregionen beeinflussten nicht mehr Wetter und Jahreszeiten den Lebensrhythmus, sondern die Uhr und vorstrukturierte, von natürlichen Einwirkungen weitgehend unabhängige Abläufe. Fördertürme, gewaltige Abraumhalden, rauchende Schornsteine und industrielle Abfälle prägten dort die Landschaften. Die Menschen rochen hauptsächlich Kohle und hörten Dampfmaschinen und Metallgeräusche. Neue Krankheitsbilder entstanden, die vor allem mit Beeinträchtigungen der Atmungsorgane zu tun hatten.

In der zweiten Jahrhunderthälfte flachte der Bevölkerungsanstieg ein wenig ab. Die Volkszählung von 1901 erfasste 32,5 Millionen Engländer

[<<43]

und Waliser sowie 4,4 Millionen Schotten. Vor allem die stark wachsende britische Mittelklasse hatte immer weniger Kinder. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass mehr Briten ihre Heimat verließen, als es Zuwanderer aus dem Ausland gab. Zahlreiche Emigranten kamen aus Irland und den strukturschwachen Gebieten Schottlands, an denen die Industrialisierung größtenteils vorbeigegangen war. Abhängig von wirtschaftlichen Krisen oder Boom-Phasen, verlor das Vereinigte Königreich (unter Einrechnung Irlands) im 19. Jahrhundert jährlich zwischen 31.000 und 268.000 Menschen. Besonders in den wirtschaftlich problematischen 1880er Jahren waren zahlreiche Migranten zu verzeichnen, von denen die große Mehrheit ein neues Leben in den USA oder den „weißen“ Kolonien oder Exkolonien (Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika) begannen.

Exkurs

Es gab ein Ereignis, das wie kein anderes das Selbstverständnis und die Eigensicht Großbritanniens auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen, aber auch politischen Macht ausdrückte. 1851 fand in London die Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations statt, aus der sich die Tradition der Weltausstellungen begründete. Die Idee dazu stammte von den Mitgliedern einer Gesellschaft, die die Förderung von Kunst, Gewerbe und Handel auf ihre Fahnen geschrieben hatte und Prinz Albert, den deutschstämmigen Gatten Königin Victorias, als einflussreichen Patron gewinnen konnte. Allein schon das Ausstellungsgebäude, eine im Volksmund „Crystal Palace“ genannte riesige Halle aus Eisen und Glas, war eine Meisterleistung britischer Ingenieurskunst. Offiziell sollte die Ausstellung allen Nationen der Welt die Gelegenheit geben, den Fortschritt ihrer Zivilisation zu verdeutlichen. In der Realität handelte es sich um eine Leistungsschau der britischen Industrie; zusammen mit Produkten aus dem Empire, stammten weit über die Hälfte der 13.000 ausgestellten Objekte aus dem Gastgeberland. Neben riesigen oder besonders innovativen Maschinen wurden den über 6 Millionen Besuchern auch zahlreiche kunsthandwerkliche Objekte präsentiert, was der

[<<45]

Ausstellung innerhalb von knapp 6 Monaten einen stattlichen Reingewinn bescherte. Die nachfolgenden Weltausstellungen wandelten bald ihren Charakter. Sie entwickelten sich weg von reinen Industrieschauen und hin zu ihre Besucher durch möglichst spektakuläre oder exotische Objekte unterhaltenden Events.

2.8 Konkurrenz und Abstieg

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt Großbritannien Konkurrenz durch andere aufstrebende Industrienationen und hatte zunehmend Mühe, seine wirtschaftliche Vormachtstellung zu halten. Zahlreiche Ursachen für den relativen wirtschaftlichen Abstieg des Landes sind diskutiert worden. Mitentscheidend war sicherlich, dass Großbritannien sich so viel früher industrialisiert hatte als der Rest der Welt und lange keinerlei Konkurrenz fürchten musste. Es bestimmte die Preise für den Import von Rohstoffen und den Export von Fertigwaren. Aufgrund dieser Sonderstellung war es unnötig, Marketing zu betreiben, Verkaufsstrategien zu entwickeln oder seine Produkte durch eine Preispolitik attraktiv zu machen. In Forschung und Entwicklung, die die Industrialisierung seit dem späten 18. Jahrhundert in Großbritannien so massiv vorangebracht hatte, wie auch in die Qualitätskontrolle wurde zunehmend weniger investiert, was die Wettbewerbsfähigkeit britischer Erzeugnisse angesichts zunehmender Konkurrenz durch aufstrebende Industrienationen leiden ließ. Unternehmer aus anderen Teilen der Welt waren von Anfang an darauf bedacht, international konkurrenzfähig zu sein; die Briten mussten dies in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erst mühsam lernen. Deutsche, Amerikaner und andere entwickelten etablierte Produktionsverfahren weiter, da sie erfolgshungriger und innovativer waren als der Vorreiter in der Industrialisierung. Zusätzlich kam es seit den 1860er Jahren verstärkt zum bereits genannten Abfluss von britischem Investitionskapital ins Ausland, wo häufig höhere Renditen zu erzielen waren. Beispielsweise ließ sich im amerikanischen Eisenbahnbau viel mehr Gewinn machen als durch Investitionen in die meist soliden, aber technisch zurückgebliebenen britischen Industrien, denen dadurch

[<<45]

jedoch zunehmend Investitionskapital fehlte, gerade um ihre Rentabilität erhöhende Modernisierungen finanzieren zu können.

Zwar wuchs die britische Wirtschaft auch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, jedoch gab es Sektoren, die zunehmend in Schwierigkeiten gerieten, wie etwa die Landwirtschaft. Durch eine Reihe aufeinanderfolgender harter Winter in den späten 1870er Jahren waren die Kornkammern Großbritanniens, die Midlands und der englische Süden, stark in Mitleidenschaft gezogen worden, was zum Massenimport von Getreide zwang. Ausländisches Getreide war jedoch um so viel billiger, dass die einheimische Landwirtschaft im Anschluss nicht mehr auf die Erträge der Zeit vor der Krise zurückkommen konnte. Große Flächenstaaten, wie die USA, Kanada, Argentinien oder Australien, produzierten preiswerter als das kleinteilig bewirtschaftete Großbritannien. Die Eisenbahn und die Dampfschifffahrt machten einen raschen, preisgünstigen und zuverlässig kalkulierbaren Import von landwirtschaftlichen Produkten möglich. Mit etwas Verzögerung galt dies auch für den Import von Frischfleisch. Seit den 1880er Jahren war es möglich, Laderäume von Schiffen maschinell zu kühlen, was die Einfuhr preiswerten Rindfleischs aus Argentinien oder von Lammfleisch aus Neuseeland ermöglichte und die britische Viehwirtschaft stark in Mitleidenschaft zog. Im Jahr 1900 wurde bereits ein Drittel des in Großbritannien konsumierten Fleisches importiert. Die Verkleinerung der Landwirtschaft zwang eine nicht unerhebliche Zahl von Landarbeitern zur Emigration, da sie nicht mehr, wie in den Jahrzehnten zuvor, durch industrielle Arbeitsplätze aufgefangen werden konnten.

Dies lag daran, dass viele industrielle Sektoren einen schleichenden Niedergang erlebten. Zwar erhöhten sich die britischen Exporte zwischen 1870 und 1900 um 50 %, aber das industrielle Wachstum schrumpfte im Jahresdurchschnitt von 3 auf 2 %. Aufgrund schärferer internationaler Konkurrenz ging der britische Anteil an der weltweiten Industrieproduktion erheblich zurück. Besonders problematisch war die Situation für die traditionellen Industrien Bergbau, Textilherstellung sowie Eisen und Stahl. Seit den 1860er Jahren waren eine Reihe von Methoden entwickelt worden, die die Massenproduktion von Stahl ermöglichten, der widerstandsfähiger und leichter zu verarbeiten war als Eisen. 1879

[<<46]

wurde in den USA und Deutschland das effiziente „Thomas-Gilchrist-Verfahren“ zur Stahlherstellung eingeführt, das phosphorhaltiges Eisenerz verwendet, über das diese beiden Länder in großen Mengen verfügten. In Großbritannien dagegen wurde noch längere Zeit an traditionellen Verfahren festgehalten, weil das Land einerseits wenig von diesem Erz selbst besaß, andererseits die Unternehmer diese Neuerungen schlicht verschlafen hatten. Dies war symptomatisch für die britische Industrie am Ende des 19. Jahrhunderts. Während die internationale Konkurrenz sich viel vom industriellen Pionier abgeschaut hatte und die modernsten Fördertechniken und Produktionsverfahren benutze, sparten sich britische Industrielle im Glauben an die eigene Überlegenheit technische Innovationen. In britischen Bergwerken wurden mechanische Abbauverfahren erst deutlich später eingeführt als in Kontinentaleuropa, obwohl auch hier immer tiefere und längere Schächte die Grenzen menschlicher Fähigkeiten deutlich machten.

Jedoch war der Niedergang der britischen Industrie nur relativ. Zwischen 1851 und 1914 vervierfachte sich die Zahl der Bergarbeiter, und die britische Kohleproduktion verdoppelte sich zwischen 1870 und 1900. Im Vergleich mit jüngeren Industrienationen jedoch fiel das Land zurück, und auch die Zeit der fantastischen Profite in der Montan- und Baumwollindustrie war im späten 19. Jahrhundert vorbei. Lediglich im Schiffbau blieb Großbritannien bis ins 20. Jahrhundert hinein weltweit führend, was primär auf die immer noch immens starke Royal Navy und eine umfangreiche Handelsflotte zurückzuführen war. Um 1850 führten 3,5 Millionen Bruttoregistertonnen den Union Jack, fünfzig Jahre darauf waren es bereits 11,5 Millionen Tonnen und 1910 gar 16,7 Millionen Tonnen, was nicht zuletzt dem Rüstungswettkampf mit dem Deutschen Reich geschuldet war. Aber Großbritannien setzte viel zu spät auf die bedeutenden „neuen Industrien“. Während deutsche und amerikanische Industrieunternehmen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt die neue elektrische Energie einsetzten, wurden viele britische Maschinen noch lange durch Dampf und Gas angetrieben, was die britische Elektroindustrie zum Spätentwickler machte. Zwar machten britische Chemiker viele bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen, aber deren industrielle Weiterentwicklung und Anwendung fand

[<<47]

überwiegend in Deutschland statt. Lichtblicke gab es lediglich in einigen Leichtindustrien, die im späten 19. Jahrhundert zahlreiche neue Konsumartikel auf den Markt brachten. Wer etwa vor dem Ersten Weltkrieg eine Nähmaschine oder ein Fahrrad benötigte, erwarb zumeist ein in Mittelengland hergestelltes Produkt.

Es ist ebenfalls argumentiert worden, dass die einstmals so innovative, die Industrialisierung vorantreibende britische Mittelklasse sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend am gesellschaftlichen Ideal des Gentleman orientierte. Wer zu Wohlstand gekommen war, zog sich nach Möglichkeit aus dem Tagesgeschäft zurück, kaufte sich ein Landhaus und ging lieber gesellschaftlichen Verpflichtungen, der Jagd und wohltätigen Projekten nach. Das Streben nach Profitmaximierung galt als wenig standesgemäß. Solch ein gentlemanly capitalism, der das vorindustrielle Landleben der Oberschicht zum Leitbild machte, sei nach Ansicht einiger Historiker nicht geeignet gewesen, in einer Zeit auf dem Weltmarkt zu bestehen, als die kontinentaleuropäische und nordamerikanische Konkurrenz den Entwicklungsvorsprung der ersten Industrienation weitgehend eingeholt hatte.

[<<48]

3. West- und Mitteleuropa

Die britische Industrialisierung fand nicht isoliert von anderen Ländern statt. In Kontinentaleuropa veränderten sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in ähnlicher Weise, nur mit mehr oder minder großem zeitlichen Abstand. Einige Regionen erlebten bereits im 18. Jahrhundert eine industrielle Entwicklung, die der britischen zumindest in Teilen ähnelte. Dazu gehörten der flandrisch-nordfranzösische Raum, in dem es bereits früh eine teilmechanisierte Textilindustrie gab, aber auch einige deutsche Staaten oder Regionen, wie Rheinland-Westfalen, Sachsen oder Schlesien, wo unter anderem Prozesse der Metallverarbeitung weit fortgeschritten waren. Frankreich verarbeitete im 18. Jahrhundert annähernd gleich viel Wolle, Baumwolle oder Seide wie Großbritannien, allerdings bei einer deutlich höheren Einwohnerzahl. Die britische Pro-Kopf-Produktion und damit die Produktivität war ungleich größer. Man könnte fragen, wie die europäische Industrialisierung verlaufen wäre, wenn der Kontinent nicht seit den späten 1780er Jahren in eine ein Vierteljahrhundert andauernde, politisch äußerst turbulente Phase geraten wäre. Die Französische Revolution und die sich anschließende Herrschaft des Terrors sowie die französische Hegemonie über weite Teile Kontinentaleuropas in den ersten eineinhalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatten deutlich bremsende Wirkung auf die Ausbildung industrieller Strukturen. Großbritannien war eines der wenigen nicht von Frankreich besetzten oder politisch dominierten Länder und profitierte zeitweise sogar von dem französischen Bemühen, durch die sogenannte Kontinentalsperre den Export britischer Waren auf den Kontinent zu verhindern, da diese dadurch nur noch begehrter wurden. Die durch die Royal Navy geschützte britische Wirtschaft entwickelte sich, aufgrund der Binnennachfrage und mit Hilfe des Empires, relativ ungehindert weiter.

[<<49] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Für die Industrialisierung, nicht nur in Europa, war eine starke regionale Konzentration charakteristisch. Die hier gewählte Form der Erörterung ist, wie in einem Großteil der wissenschaftlichen Literatur nach Nationen geordnet und hat daher ihre Schwächen, denn innerhalb der verschiedenen europäischen Nationen gab es immense regionale Unterschiede. Süd- und Nordwales oder das Ruhrgebiet und das nördliche Westfalen beispielsweise, geografisch jeweils nur wenige Dutzend Kilometer voneinander getrennt, unterschieden sich in nahezu allen wirtschaftlichen und sozialen Parametern sehr stark voneinander. Dagegen ähnelten sie tausenden von Kilometern entfernten anderen Industrieregionen oder ländlich geprägten Gegenden in anderen Ländern. Dennoch erscheint eine nationale Betrachtung der Industrialisierung relativ alternativlos. Abgesehen davon, dass sehr viel Quellenmaterial auf nationaler Basis existiert oder von auf gesamtstaatlicher Ebene operierenden Institutionen produziert worden ist, sind stets die staatlichen politischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die eine Industrialisierung möglich machten oder verhinderten. Außerdem ist die industrielle Entwicklung immer nur Teil einer größeren Wirtschaftsgeschichte, die ebenfalls wiederum Teil einer – ganz überwiegend national erforschten – Gesamtgeschichte ist. Die Industrialisierung eines Landes oder einer der Regionen eines Landes lässt sich nicht verstehen, ohne Einblick in die weiter gefassten politischen und sozialen Verhältnisse, kulturellen Prägungen, religiösen Strukturen oder gegebenenfalls die Bedeutung imperialer Besitzungen zu nehmen. Dazu gehört auch die Interaktion – nicht nur, aber auch durch Migration – zwischen den durch die Industrie bestimmten Regionen des Landes, ihren ländlichen Hinterlanden und Städten, die durch den Handel oder Verwaltungstätigkeiten geprägt worden sind.

3.1 Flandern / Belgien

Eine in mehrfacher Hinsicht ähnlich frühe industrielle Entwicklung wie in Großbritannien fand sich auf dem Kontinent nur im flandrischen Raum, dessen politische Situation äußerst wechselhaft war. Bis 1794 waren jene Gebiete, die später das Königreich Belgien bildeten, Teil der

[<<50]

österreichischen Niederlande, standen also unter der Herrschaft der Habsburger. Dann verleibte sich der französische Staat das Territorium ein, welches nach der endgültigen Niederlage Napoleons 1815 kurzfristig Teil des Königreichs der Vereinigten Niederlande wurde. 1830 spaltete sich dieser südliche Teil von diesem Staatsgebilde durch eine Revolution wieder ab und fand seine bis heute andauernde nationale Gestalt als Belgien. Über alle politischen Wechselfälle hinweg industrialisierte sich die Region früh, weil viele der Parameter, die in Großbritannien die Industrialisierung herbeigeführt hatten, auch hier galten. Primär über seine größeren Hafenstädte war Flandern stark in den kapitalintensiven internationalen Seehandel eingebunden. Als traditionelle Handelsregion verfügte es über ein fortschrittliches Bankensystem; zahlreiche Privatbanken waren in Brüssel, Antwerpen und Gent im 18. Jahrhundert etabliert worden, und schon 1822 wurde mit der Société Générale de Belgique die erste Aktienbank gegründet. Außerdem investierten viele durch den Tuchhandel reich gewordene Kaufleute in zunächst kleine und dann immer größere Fabriken. Wie in Großbritannien zeigten sich viele Angehörige des Adels aufgeschlossen gegenüber einer Geldanlage in Industrieunternehmen. Darüber hinaus war Flandern dicht besiedelt und verfügte über ein ausgebautes Netz von Straßen, Flüssen und Kanälen. In den Ardennen existierten nicht nur größere Erzvorkommen, sondern auch Flüsse, die ausreichend Wasserkraft für den Betrieb von Schmiedehämmern für die Metallbearbeitung boten. Südwestlich von Brüssel, in der Region Hainaut, wurden schon im 18. Jahrhundert erhebliche Mengen Kohle aus geringer Tiefe abgebaut. Die vergleichsweise kleinen und wenig ertragreichen Flächen für den Ackerbau hatten dafür gesorgt, dass auch hier effiziente Verfahren der Bodenbewirtschaftung entwickelt worden waren, ohne dass jedoch eine Agrarrevolution im britischen Sinn stattgefunden hätte. Dennoch wurden auch in Flandern im späten 18. Jahrhundert zahlreiche ländliche Arbeitskräfte freigesetzt, was jedoch vorrangig der Besitzstruktur geschuldet war: Selbständige Bauern waren in der Minderzahl, und das meiste Land gehörte einigen wenigen Großgrundbesitzern, die es von Pächtern bewirtschaften ließen. Die Grundherren konnten bei sinkendem Bedarf an Arbeitskräften aufgrund verbesserter Bewirtschaftung ihren Pächtern einfach kündigen,

[<<51]

was ausreichend viele Arbeitskräfte für einen frühen industriellen take off zur Verfügung stellte.

Wie in Großbritannien war die Textilindustrie die wichtigste Stütze der belgischen Industrialisierung. Wolle und vor allem Leinen waren in Flandern seit Jahrhunderten gehandelt und verarbeitet worden. Es gab also bedeutende gewerbliche Traditionen, auf denen eine Industrialisierung aufbauen konnte. Flachs, der Rohstoff für Leinen, wurde vor Ort auf 5 % der landwirtschaftlichen Fläche angebaut. Für viele Landbewohner war die Flachsspinnerei und Leinenweberei in Heimarbeit ein wichtiger Nebenerwerb, was zur Folge hatte, dass dieser Sektor der Textilherstellung lange protoindustriell blieb. Baumwolle bezogen die Belgier dagegen vor allem aus den niederländischen ostasiatischen Kolonien, und bereits im 18. Jahrhundert entwickelte sich um Gent herum eine teilmechanisierte baumwollverarbeitende Industrie. Englische Mechaniker hatten die Technologie von der Insel exportiert. Auch Newcomens Dampfpumpe, die Spinning Jenny oder das „Puddle-Verfahren“ in der Stahlherstellung tauchten bald nach ihrer Popularisierung in Großbritannien in Flandern auf, wenn auch nur in Teilen der dortigen Industrie. Der schnelle Technologietransfer lässt sich spekulativ einerseits durch die geografische Nähe erklären, andererseits fehlten anderswo in Europa meistenteils noch die Strukturen, um solche Neuerungen ähnlich früh einzusetzen wie in Großbritannien.

Schließlich muss erwähnt werden, dass die verschiedenen Zweige der Textilindustrie viele Familien ernähren konnten, was bereits im späten 18. Jahrhundert zu einem linearen Bevölkerungsanstieg führte. Wie in Großbritannien standen daher in Flandern immer mehr Arbeitskräfte für Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft zur Verfügung, was die industriellen Strukturen weiter festigte. Im Unterschied zu den britischen Inseln konsumierte diese wachsende Bevölkerung allerdings nicht automatisch auch einen Großteil der im Land hergestellten Produkte. Die flandrische Textilindustrie war sehr stark exportabhängig; im 18. Jahrhundert ging ein Großteil der Produktion in Kolonialgebiete, sowohl ins spanische Südamerika als auch in die niederländisch beherrschten Teile Asiens. Als dieser Markt im frühen 19. Jahrhundert größtenteils einbrach, kam es zu einer kurzzeitigen Absatzkrise, die durch verstärkte Nachfrage aus Frankreich ausgeglichen werden konnte.

[<<52]

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.