Kitabı oku: «Devolution»

Yazı tipi:

Ralph Denzel

Devolution

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Ralph Denzel

Devolution - Roman

ISBN 978-3-941717-19-0

November 2013

Titelgestaltung: Magical Media

Titelfoto: © privat, CC

Layout / Korrekturen: Mirjam Hecht

Contents

Tom

Tom und Chris

Noah

6 Stunden bis zum Einschlag

5 Stunden bis zum Einschlag

4 Stunden bis zum Einschlag

3 Stunden bis zum Einschlag

Mick

2 Stunden bis zum Einschlag

1 Stunde bis zum Einschlag

Tom

»Hängen Sie das Ornat bitte ordentlich auf!«, sagte Pfarrer Wutknecht mit brüchiger und müder Stimme. Der Krebs in ihm fraß an seinen Kräften wie an einem Festmahl und raubte ihm immer wieder seine eigentlich sonore und bestimmende Stimme. Er streckte sich, und seine alten Glieder knackten wie morsche Äste. Mit einem gequälten Gesichtsausdruck streichelte er sich selbst über die Schulter.

»Natürlich«, sagte Tom in einem leicht entschuldigenden Tonfall und strich das Priestergewand glatt, bevor er es in den Holzschrank in der Sakristei hing. Manche Tugenden starben wohl nie, so wie die Ordnungsliebe und auch der Respekt vor seinem Amt von Pfarrer Wutknecht, dachte Tom grinsend. Er konnte nicht genau sagen, welches von den beiden Dingen dafür verantwortlich gewesen war, dass er das Ornat nochmals ordentlich aufhängen musste.

Danach schloss er den Messwein und die Hostien weg und zog sein Messgewand aus. Er hatte sich wie die letzten Tage immer für Grün entschieden, auch auf Anraten Pfarrer Wutknechts hin. Vielleicht wäre Schwarz eher angebracht gewesen, aber er hatte sich immer gefühlt, als würde dies der eigentlichen Botschaft, die sie in den letzten Wochen immer wieder verbreitet hatten, zuwiderlaufen.

Grün wie die Hoffnung.

Der Raum war düster. Der Pfarrer hatte die Rollen hinuntergefahren, damit die Sonne die kleine Sakristei nicht aufheizen konnte. Ein sanfter Duft nach Weihrauch und Hustenbonbons schwebte in unsichtbaren Fäden durch den Raum. Der Priester hatte immer darauf geschworen, dass es ihm vor der Messe guttat, ein scharfes Eukalyptusbonbon zu lutschen: »Merken Sie sich das! Sie können Ihre Stimme immer viel besser nutzen, wenn die Stimmbänder geölt sind!«

Und so hatte er sie auch benutzt, jeden Tag, manchmal fast zwanzig Stunden lang.

Die Menschen wussten, was sie wollten und sie hatten es hier in der Kirche bekommen: Sterbesakramente waren in Fließbandarbeit verteilt worden. Immer wieder hatte er die spirituelle Wegzehrung bestehend aus Brot und Wein gereicht, hatte den Gläubigen Mut zugesprochen und ihnen sanft seine arthritisch geschwollenen Finger auf die Schulter gelegt. Es war eine winzige Geste, aber viele Menschen hatten erst dort scheinbar Frieden gefunden und die Hände des Pastors umklammert wie ein Ertrinkender einen Rettungsring.

Die unzähligen Gesichter waren irgendwann verwaschen gewesen, konturlose Menschen, die sich alle nach dem gleichen sehnten. Nur wenige Kirchenmitglieder waren Tom im Gedächtnis geblieben, die meisten waren anonym für ihn geworden, eine angsterfüllte Masse, die wie im Zeitraffer an ihm vorbeigezogen war.

Hoffnung – das war es, was sie gebraucht hatten in diesen Stunden, so hatte es sein Mentor immer wieder erklärt.

Nein, es war wirklich besser, Grün zu tragen als schwarz.

Tom blickte Pfarrer Wutknecht an, der eigentlich aus einem kleinen Ort im Schwarzwald gekommen war. Er wusste nicht, was ihn genau hierher verschlagen hatte. Vielleicht hatte ein Gemeindemitglied ihn darum gebeten, nachdem der eigentliche Pfarrer völlig unerwartet gestorben war. Eines Tages, Tom war gerade vom Bischof zu einer Art Pfarrhelfer ernannt worden, hatte Wutknecht vor der Tür gestanden und ihm eröffnet, dass sie beide ab sofort zusammenarbeiten würden. Dabei hatte er gütig und friedvoll gelächelt und einige Sekunden später quälend trocken Blut in ein weißes Taschentuch gehustet.

Tom hatte kurz vor seinem Abschluss im Priesterseminar gestanden. Nicht mehr lange, und er hätte sein Vikariat beginnen können. Nun war jedoch alles anders gekommen. Aber die Kirchen, genauso wie jede andere Organisation, auf die sich Menschen in der Not verlassen wollten, waren dankbar für ihn gewesen, denn er war immerhin hier geblieben, auch als es offensichtlich war, dass Konstanz der gefährlichste und auch tödlichste Ort der Welt geworden war.

So hatte er mit Pfarrer Wutknecht zusammen gearbeitet. Er blickte den Mann an und fühlte Mitleid in sich, auch wenn er das niemals zugeben würde. Der Pfarrer war ein zu stolzer Mann, als dass er dies akzeptieren würde. Er sah fahl und abgemagert aus und sein graues Gesicht wirkte ebenso eingefallen wie das der meisten Menschen, die hierhergekommen waren.

Er hustete erneut in sein weißes Stofftaschentuch, welches er immer zur Hand hatte. Schnell steckte er es wieder in seine Tasche, aber nicht schnell genug, sodass Tom das Blut sehen konnte. Er wollte sich nicht die Schwäche eingestehen, die manchmal so deutlich in seinen Worten zu hören war.

Wutknecht litt an einem Lungentumor, der ihn langsam im Inneren auffraß. Man merkte ihm mit jedem Schritt und jeder Bewegung seiner schwachen Hände an, dass er starke Schmerzen litt, aber er machte weiter, wie ein Uhrwerk, auch wenn er nur noch der Schatten seines früheren Selbst war. Tom hatte einmal ein Foto von ihm gesehen, als er noch gesund gewesen war. Dort hatte er ausgesehen wie der Schauspieler Anthony Hopkins, was vielleicht nicht die besten Voraussetzungen für das Amt eines Pfarrers waren. Tom erinnerte sich, wie er sich das erste Mal bei einer Predigt Wutknechts vorgestellt hatte, dass Wutknecht wie Hannibal Lecter »Ich genoss seine Leber mit einem ausgezeichneten Chianti« sagen würde und dabei verschmitzt grinsen müssen.

Diese Vorstellung war jedoch verflogen, als er den Mann hatte predigen hören. Wie ein Donnerschlag hatte er die Gemeinde in seinen Bann gezogen und sie getröstet. Er hatte nicht vom Ende der Welt gesprochen, sondern vielmehr vom kollektiven Einzug ins Reich Gottes. Wenn wir alle sterben, dann werden wir alle im himmlischen Vater weiterleben, hatte er immer wieder betont. Manchen Menschen machte dies Mut und Hoffnung. Andere waren zum Seestadion gegangen – ihnen ging es wohl nicht schnell genug mit der Erlösung.

Auch dort war er tätig gewesen, hatte die Mitarbeiter vom Roten Kreuz gesegnet, ebenso wie die Leichen, die dort sein sollten. Tom kannte nur die Gerüchte, aber manchmal, wenn der Wind günstig stand, wehte von dort her ein grausamer Duft nach Verwesung,tot wie ein schreckliches Omen.

Der Pfarrer war eine beeindruckende Persönlichkeit für ihn und er wünschte sich von Herzen, er hätte diesen Mann unter anderen Umständen kennengelernt und von ihm lernen können.

»Was haben Sie jetzt noch vor, Herr Wutknecht?«, fragte er freundlich.

Dieser lächelte sanft, zumindest versuchte er es. Unter den Schmerzen, die er litt, kam das Lächeln nur als eine groteske Grimasse rüber. Er schob seine Füße wie ein Skifahrer über den glatten, schwarzen Boden und ließ sich aufseufzend auf einen Stuhl fallen, bevor er antwortete.

»Ich werde noch ein paar Minuten hier warten, ob vielleicht doch noch jemand kommt, dann werde ich mich schlafen legen.« Die Kirche war heute den ganzen Tag leer geblieben. Anscheinend hatte keiner mehr das Bedürfnis gehabt, geistigen Beistand zu empfangen. Vielleicht war auch einfach keiner mehr übrig.

»Ich freue mich darauf. Wenn ich aufwache, dann ist alles vorbei und ich bin bei unserem Herrn. Was machen Sie denn noch, wenn ein alter, viel zu neugieriger Mann das fragen darf?« Er versuchte ein Lächeln, was ihm jedoch wieder nicht gelang und in einem schmerzverzerrten Aufstöhnen endete.

Tom lachte auf, bevor er erwiderte: »Ich werde meine letzten Stunden mit meinen Freunden verbringen. Meinen besten Freunden.«

»Was ist mit Ihrer Familie? Haben Sie nicht vor heute bei ihnen zu sein?«, fragte Wutknecht überrascht und beugte sich etwas nach vorne. Seine Augen, in denen sich noch die Energie des Mannes spiegelte, fixierten Tom erwartungsvoll.

Er hatte lange überlegt, sich aber am Ende dagegen entschieden, bei seiner Familie zu sein. Er hatte seine Eltern nochmals besucht, vor drei Tagen, hatte einen ganzen Tag mit ihnen verbracht und ihnen dabei zu erklären versucht, warum er in seinen letzten Stunden nicht bei ihnen sein konnte. Seine Mutter hatte Rotz und Wasser geheult und ihn angefleht, doch bitte zu bleiben und auch sein Vater war den Tränen nahe gewesen, was für den stolzen Mann sehr selten war. Aber Tom war konsequent geblieben.

»Wir werden uns ganz bald wiedersehen, das könnt ihr mir glauben«, hatte er ihnen immer wieder gesagt und versucht sie zu trösten, was jedoch vergebliche Liebesmühe gewesen war. Es hatte gedauert, bis er sich endlich aufgerafft hatte zu gehen, doch als er es getan hatte, war er mit einem Gefühl der Erleichterung gegangen. Es war ihm so vorgekommen, als würden seine Eltern wirklich damit zurechtkommen, dass sie ihren Sohn gerade das letzte Mal gesehen hatten.

Was er nicht wusste, war, dass sein Vater, der jahrelang Apotheker gewesen war und auch sehr erfolgreich einen eigenen, kleinen Laden in Toms altem Heimatort geführt hatte, heimlich eine Überdosis Schmerzmittel zur Seite geschafft hatte. Seine Eltern waren, nachdem ihr Sohn fort gewesen war, wieder zurück in ihr Haus und in ihr Schlafzimmer gegangen. Sie hatten stundenlang dagelegen und sich einfach nur angeschaut, die Nähe des anderen genossen, genauso wie sie es als Frischverheiratete getan hatten, sich irgendwann noch ein letztes Mal geliebt und dann einen tödlichen Cocktail aus Schlaftabletten und Alkohol zu sich genommen. Während ein immer schneller werdender Schwindel sie umschlossen hatte wie ein schwerer Handschuh, hatten sie sich in die Augen geschaut, tief und voller Ruhe. Ihre Gedanken waren bei ihrem Sohn gewesen und ihr letzter, sehnsüchtiger Wunsch war gewesen, dass er sich nicht irren würde mit seinem Versprechen.

Tom würde nie erfahren, was mit seinen Eltern passiert war. Wenn er es getan hätte, dann wäre er glücklich in dem Wissen gewesen, dass seine Eltern Frieden gefunden hatten, als sie starben. Er wusste und würde es im Laufe des Abends erfahren, dass dieses Privileg nicht unbedingt jedem zuteilwerden musste.

Er fühlte sich, als wäre in dieser Richtung alles geklärt. In seinem Leben gab es noch unzählige lose Enden, die er zu kitten hatte, aber dieses eine Kapitel war abgeschlossen und eines der wenigen Dinge, die er richtig gemacht hatte.

Daher sagte er zu Pfarrer Wutknecht: »Ich habe mich von meinen Eltern schon verabschiedet – und ganz ehrlich, ich glaube, meine Freunde brauchen geistigen Beistand heute etwas dringender als meine Eltern.« Es war ein sehr schwacher Versuch eines Witzes, was Pfarrer Wutknecht sofort merkte.

»Seien Sie ehrlich, Tom: Sie und Ihre Freunde haben sicher nicht vor, heute in einer stillen Runde Rosenkränze zu beten, oder?« Er lächelte, dieses Mal etwas überzeugender als zuvor, und das müde Grinsen wurde nicht von einer neuerlichen Schmerzwoge hinweggespült.

Tom lachte zweimal kurz auf.

»Nein, das haben wir wirklich nicht. Wir wollen einfach noch einmal zusammen sein.«

»Das ist schön. Freundschaft ist eine wunderbare Sache.« Mühsam richtete er sich auf. Kurzzeitig schien es, als würde er nicht mehr die Kraft finden, aus seinem tiefen Stuhl hochzukommen. Tom überlegte für einige Sekunden, ob er helfen sollte, entschied sich dann aber dagegen, denn mittlerweile kannte er den Stolz seines Mentors nur zu gut.

Als Pfarrer Wutknecht endlich auf den Beinen war, trat er auf Tom zu und legte die Hand auf seine Schulter. »Ich hoffe, ich war Ihnen auch so etwas wie ein Freund.« Sein Blick war ernst und durchdringend. So durchdringend, dass Tom einen Kloß im Hals bekam. In den Worten steckte keine große Sentimentalität, sondern nur ein ernster Wunsch.

»Ja, das waren Sie«, erwiderte er aufrichtig.

Die beiden Männer, die fast fünfzig Jahre Altersunterschied trennten, waren in den letzten Wochen wirklich so etwas wie Freunde geworden. Während die Welt Stück für Stück zugrunde gegangen war, hatten sie in den wenigen Pausen. die sie gehabt hatten. zusammengesessen und geredet. Über Gott, über den Sinn des Lebens und über das nahende Ende – und wie es wohl danach weitergehen würde.

Wutknecht hatte ihm eines Tages bei einem Schluck Wein, etwas anderes war in der Sakristei nicht verfügbar gewesen, seine Vorstellung von einem Jenseits erklärt.

»Ich glaube, es ist ein Ort voller Ruhe.« Er war sich über seine Rippen gefahren und hatte eine kleine Pause eingelegt, bevor er fortgesetzt hatte. »Ohne Leid und Schmerz, ein perfekter Zustand, den wir Menschen gar nicht erklären können, weil wir ihn nicht kennen. Absolute Zufriedenheit. So stelle ich es mir vor.« Er hatte danach einen langen Schluck aus seinem Plastikbecher genommen und seine wachen Augen auf Tom gerichtet. »Es brennt mir unter den Fingern, es zu fragen, entschuldigen Sie bitte einem alten Mann seine Neugier: Was erwarten Sie, Tom?«

Tom hatte nicht eine Sekunde gezögert, bevor er antwortete. »Kennen Sie den Film »The Green Mile«?«

Wutknecht hatte genickt.

»Dort gibt es eine Stelle. Der erste Mensch, der in diesem Film hingerichtet wird, zeichnet ein Bild von einem Himmel, auf das auch ich hoffe: dass man in seinem Tod genau in den Momenten weiterleben kann, in denen man am glücklichsten gewesen ist.« Tom hatte kurz gezögert und dann hinzugefügt: »Ich habe unzählige traurige Momente erlebt in meinen Leben, aber genauso viele unglaublich intensive und wunderschöne. Mit meinen Freunden, die für mich wie Brüder geworden sind. Mit Menschen, die mich unglaublich berührt haben.« Er stockte kurz, als schien er seine nächsten Worte genau zu überlegen, bevor er fortfuhr: »So was möchte ich bis in alle Ewigkeit erleben dürfen. Das wäre mein Himmel.«

»Eine schöne Vorstellung, Tom«, hatte Wutknecht zugestimmt und ihm mit seinem Becher zugeprostet. »Auf den Himmel – und den Teil davon, den wir schon auf Erden haben können!«

Und nun standen sie hier in der Sakristei und Tom schien es, als würde sich ein schwarzes Loch in seinem Inneren auftun. Er spürte, wie Tränen in seinen Augen aufstiegen, als er den Pfarrer, seinen Mentor, ein letztes Mal ansah.

»Machen Sie es gut.« Er reichte ihm die Hand, die Pfarrer Wutknecht überraschend fest umklammerte. Seine Stimme wirkte brüchig, als er wieder sprach. Tom wusste nicht, ob es von Rührung oder vom Krebs kam.

»Sie auch, Tom. Sie auch. Wir sehen uns bald wieder.« Es klang nach einem Versprechen für Tom, welches nun auch ihm etwas Hoffnung geben würde. So standen sie eine Weile da, bevor Wutknecht Toms Hand losließ.

Wir sehen uns bald wieder.

Ich hoffe es, Pfarrer Wutknecht, ich hoffe es. Ich hoffe, ich habe meine Schuld bezahlt.

»So, und jetzt gehen Sie! Sie sind noch verabredet und ich will nicht, dass Sie diese Verabredung wegen einem altem, sentimentalem Pfarrer, der langsam an Krebs stirbt, verpassen!« Er machte mit seinen Händen scheuchende Bewegungen, als wollte er Tom zur Eile antreiben. »Gehen Sie, Tom! Gehen Sie!«

Dieser lächelte, stockte gleichzeitig einen Moment. Vielleicht war jetzt die einzige Gelegenheit, seine Beichte abzulegen. Nein, nicht jetzt. Dies würde er mit dem Herren persönlich ausmachen. Tom hatte zu viel Achtung vor Pfarrer Wutknecht und wollte, dass die Achtung, die der alte Mann für ihn empfand, ebenso bestehen blieb.

Er drehte sich um und ging. Die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloss.

Die Sonne schien noch sehr hell, als er auf die Straße trat, und die Hitze staute sich in den hohen Häuserschluchten. Es mussten gerade mindestens 36°C herrschen. Tom hatte kaum zwei Schritte gemacht, als er schon spürte, wie sich die ersten Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten und in kleinen Rinnsalen über seine Haut rannen.

Kein einziges Auto fuhr vorbei.

So etwas sah man hier in den letzten Wochen so gut wie gar nicht mehr. Wer eines besessen hatte, hatte damit nur zwei Richtungen gekannt: weg von hier, oder hierher, und zwar zum Seestadion. Tom hatte Geschichten gehört, die fast schon an Legenden grenzten. Ein Ort des Todes, hatte ihm eine Frau gesagt. Der Vorhof zur Hölle ein anderer. Er wusste, dass Chris dort gearbeitet hatte und hätte ihn auch gerne gefragt, was er dort gemacht hatte, hatte aber von Noah erfahren, mit dem Chris geredet hatte, er solle besser nicht darüber sprechen. Auch wenn es ihm unter den Fingern brannte, er entschloss sich, nichts zu sagen, bevor nicht Chris damit anfangen würde. Dies sah er als eine Art Freundschaftsdienst, bei dem auch manche Dinge unausgesprochen bleiben mussten.

Auch Pfarrer Wutknecht war mehrmals dort gewesen. Eines Tages, Tom hatte gerade die Sakramente gespendet, war der Pfarrer wieder zurückgekommen. Es war nicht möglich, dass wusste Tom, aber er hatte damals das Gefühl gehabt, dass der Pfarrer an diesem Tag noch kränker geworden war, oder zumindest um einige Jahre älter. Er hatte zerbrochen gewirkt, wie eine Statue, die man mit einem Hammer bearbeitet hatte. Seine Glieder waren steif und schwankend zugleich gewesen, er hatte sich immer wieder am kühlen Holz der Kirchenbänke festhalten müssen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Auf die Frage, was mit ihm los sei, hatte er nur erwidert, es sie die Hitze, die ihm zu schaffen machte.

Aber Tom hatte es ihm nicht geglaubt, und als er von Gemeindemitgliedern gehört hatte, was dort passieren sollte, wurde sein Verdacht zur bitteren Wahrheit.

Er würde Chris fragen müssen – viel Zeit hatte er dafür nicht mehr.

Ein kurzer Blick auf die Kirchturmuhr über ihm zeigte an, dass er noch etwas Zeit hatte. Nun stand er vor einer für einen Menschen fast unlösbaren Aufgabe. Wie sollte man Zeit totschlagen, wenn man keine mehr hatte? Die Welt würde in wenigen Stunden untergehen, und er musste sich überlegen, was er tun sollte, bevor er seine Freunde traf, um auf das Ende zu warten.

Er lachte kurz über die Ironie und schüttelte den Kopf. Nach einer Weile hatte er sich entschlossen, die Zeit mit einem kleinen Spaziergang totzuschlagen. Er könnte ja einen Umweg hin zum Zähringerplatz laufen, dort, wo er sich mit Chris verabredet hatte.

Mick würde nachkommen, das hatte er ihnen schon angekündigt – wobei das implizierte, dass man verstanden hätte, was er gesagt hatte. Vielmehr waren es unartikulierte Laute gewesen, die irgendwie nach »ommm siiiiiiiiiiiibn« geklungen hatten, als sie mit ihm gesprochen hatten. Es war wohl so ziemlich die letzte Gelegenheit gewesen, als die Telefone noch funktioniert hatten, bevor es immer wieder zu Stromausfällen gekommen war und damit verbunden zu Netzschwankungen. Konstanz hatte überraschenderweise Glück gehabt und war davon weitestgehend verschont geblieben.

Ja, er würde am Zähringerplatz warten, wie er es früher auch immer gemacht hatte, als er noch sechzehn gewesen war. Damals hatten er und seine Freunde immer versucht, gleichaltrigen Mädchen mit Alkohol zu imponieren und, so viel Ehrlichkeit konnte er sich heute eingestehen, sie betrunken zu machen.

Da er am ältesten ausgesehen hatte, war er meistens derjenige gewesen, der vorgeschickt worden war und sich in einem Supermarkt im Kellergeschoss eines großen Einkaufszentrums in die Schlange einreihte und gehofft hatte, dass die Verkäuferin nicht so genau hinschauten oder heute ihre Brille vergessen hatten. Dummerweise war dies jedoch eher die Ausnahme gewesen und so war er meistens nur mit Bier und anderen weniger stark alkoholischen Getränken aus dem Laden gekommen, die er in seinem jugendlichen Alter hatte kaufen dürfen.

Er musste grinsen, als er sich daran erinnerte, wie Noah sich einmal mit einer Verkäuferin angelegt hatte, als diese ihnen wieder den Wodka verwehrt hatte.

Kurz vor ihnen war ein Alkoholikerpärchen an der Reihe. Die beiden hatten so unglaublich penetrant nach Alkohol gestunken, dass Mick damals, es war eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, wo alle vier Freunde sich in die Katakomben des Einkaufszentrums gewagt hatten, gesagt hatte: »Wenn die uns nichts verkaufen, dann schlecken wir einfach die beiden da ab! Das macht genauso besoffen, wetten wir?«

Die Frau hatte laut gelacht und dabei ihre gelben Zähne entblößt. Ihre fettigen Haare hatten gebebt, während sie das typische, krächzende Alkoholikerlachen angestimmt hatte. Keiner von den Freunden wusste, ob sie den Witz verstanden hatte oder einfach lachte, weil sie Aufmerksamkeit wollte.

Die Frau legte die sieben Flaschen Bier, die drei Flaschen Wodka und die zwei Flaschen Feigling in den Einkaufswagen und bezahlte die Verkäuferin in Pfennigstücken. Seufzend hatte die Kassiererin dies mit einem Blick über sich ergehen lassen, der darum bettelte, dass die Dame möglichst schnell wieder verschwinden würde. Damals gab es noch die D-Mark, aber sie war nicht mehr als ein Auslaufmodell, und die meisten Preise waren sowohl in Euro als auch in Mark ausgegeben.

Die Alkoholikerin kreischte wieder vor Lachen über einen Witz, den nur sie hörte und schob wankend ihren Einkaufwagen weg. Ihr Begleiter, dem ein speckiger Dreitagebart im Gesicht stand, folgte ihr schlurfend und desorientiert. Er stolperte, als er auf eine Rolltreppe steigen wollte und landete polternd auf dem Hintern. Mühsam richtete er sich wieder, klammerte sich an die Haltegriffe ließ sich von der Treppe nach oben befördern. Seine Hose war ihm über seinen Allerwertesten gerutscht und entblößte seine verdreckte, zerschlissene Unterhose, die wohl irgendwann mal weiß gewesen war, jetzt jedoch einen ungesunden Grauton angenommen hatte.

Dann kamen die vier Freunde an die Reihe. Keiner von ihnen kannte die Verkäuferin, daher hofften sie, es wäre eine Neue, die nicht so streng vorging, wie es in diesem Laden meistens üblich war – aber sie hatten sich geschnitten. Wie eine Oberlehrerin blickte sie über ihre Kasse die vier Jungs an und dann auf ihre potenziellen Einkäufe. Zwei Flaschen Wodka und ein Kasten Bier, dazu mehrere Schachteln Zigaretten.

»Ausweise?«, fragte sie trocken.

»Schülerausweis?«, fragte Noah grinsend. Eine ihrer neusten Erfindungen. Da in ihren Schülerausweisen das Alter von Hand reingeschrieben worden war, hatten sie folgenden Plan verfolgt: Sie hatten im Sekretariat ihrer Schule behauptet, sie hätten ihre Ausweise verloren und einen neuen beantragt. In einer großen Schule mit fast tausend Schülern hatten die Sekretärinnen meistens Besseres zu tun, als sich die Namen und die Gesichter von jedem zu merken. Sie warfen einen kurzen Blick auf ihre Listen und waren zufrieden, wenn der Name darauf vermerkt war.

Daher hatte damals die Sekretärin ohne groß aufzuschauen ihnen ihren Ausweis rübergeschoben und »ausfüllen« gemurmelt, während sie weiter mit ihrer Arbeit beschäftigt war. Dann hatten die Freunde einfach ihr Alter um zwei Jahre nach oben gesetzt und dies in den Ausweis eingetragen. Die Sekretärin hatte kurz die Jungs gemustert und sich dann wohl entschlossen, dass das Alter stimmte. Sie stempelte den Ausweis und gab ihn den Jungs zurück, die sich alle vier auf einmal wie Al Capone fühlten und sich schon auf die schöne, neue Welt freuten, in der sie jeden Alkohol bekamen, den sie wollten.

Aber da hatten sie ihre Rechnung ohne die Verkäuferin gemacht.

»Nein, ich würde gern den Personalausweis sehen.« Sie machte eine minimale Pause »Bitte.«

»Aber wir haben nur unsere Schülerausweise! Schauen Sie, da steht es!« Tom zeigte auf die gefälschten Geburtsdaten. »Da steht es doch. Wir sind 18.«

»Ihr wohnt in Konstanz. Wir sind so nahe an der Grenze, dass man per Gesetz IMMER seinen Personalausweis dabeihaben muss«, erwiderte die Frau. Sie wirkte fast genüsslich dabei.

»Ja, aber wir gehen nachher an den See, da nehmen wir nur einen Ausweis mit, den man eventuell auch verlieren kann, sollte man beklaut werden, während wir baden«, konterte Mick gekonnt. Es war Noah, der diese Scharade verdarb, denn er warf Mick einen respektvollen Blick zu. Die Verkäuferin merkte dies, nahm die Flaschen vom Band und stellte sie zu ihren Füßen.

»Netter Versuch, Jungs. Netter Versuch«, gab sie kühl zurück.

»Kennen Sie das Wort Bigotterie?«, fragte Noah spitz. Die Frau blickte ihn verwundert an.

»Genau das machen Sie. Verkaufen uns, die alle alt genug sind und auch clever genug, um Alkohol zu trinken, keinen Alkohol. Wir machen alle Abitur und ja, wir wissen, dass es kein Garant ist, dass wir keinen Blödsinn machen. Aber überlegen Sie sich mal eines. Für wen ist der Alkohol wohl gefährlicher: Für uns vier, die aufeinander aufpassen, auch wenn wir etwas zu viel trinken, die am Montag wieder zur Schule gehen und für unser Abitur arbeiten? Oder für die beiden, die gerade hier waren?« Er zog die Nase hoch und verzog angewidert das Gesicht. Die Duftwolke der beiden klebte noch an dieser Kasse. »Man kann sie noch riechen. Die beiden werden sich wohl zu Hause irgendwann in den Tod saufen, sind irgendwo jenseits von Zurechnungsfähigkeit, aber die bekommen Alkohol. Meinen Sie nicht auch, dass das falsch ist?«

Die Frau funkelte ihn wütend an und stellte die Flaschen wieder auf das Fließband. Sie spuckte den Endbetrag geradezu aus und Noah gab ihr grinsend das Geld. Warum es geklappt hatte, wussten die Freunde nicht. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass Noah gerade wieder Luft geholt hatte und weiter ausführen wollte, warum sie jetzt unbedingt Alkohol brauchten, vielleicht hatte er die Frau auch einfach überzeugt.

Es war wunderschöner Abend geworden. Sie hatten Noah hochleben lassen, als sie aus dem Laden gekommen waren und dann an den See gegangen, dorthin, wo sie auch heute sein würden. Auch hatten sie ein paar Mädchen kennengelernt, die vor allem an Noah Gefallen gefunden hatten. Er war irgendwann gegen zwei Uhr morgens mit einer von ihnen verschwunden und eine Stunde später mit offener Hose und einem breiten Grinsen zurückgekommen.

Schöne Erinnerungen.

Während die Jungs älter geworden waren, hatte es immer wieder aufs Neue Sechzehnjährige gegeben, die versucht hatten, die Verkäuferin davon zu überzeugen, dass sie alt genug waren für Alkohol. Aber keiner schien es jemals wieder so geschafft zu haben wie Noah. Meistens saßen sie dann vor dem Einkaufszentrum, grimmig dreinblickend, und ließen ihren Frust an Fußgängern aus, die sie anpöbelten und denen sie Obszönitäten nachriefen.

Auch Tom, Mick, Chris und Noah hatten oft dort am Einkaufszentrum auf einer kleinen Mauer gesessen, geraucht, Frauen nachgeschaut und überlegt, was sie am Abend machen sollten, ob sie mit dem Bus in die Innenstadt fahren sollten, der direkt davor gehalten hatte, oder ob sie an den See gehen sollten.

Es waren schöne Zeiten gewesen.

Gewesen.

Sie waren vorbei. Seit Monaten saßen hier nun keine Jugendlichen mehr, die meistens mehr Kinder als Erwachsene gewesen waren, aber dies nicht hatten wahrhaben wollen und mit Unverständnis und sogar Wut darauf reagiert hatten, wenn man sie so behandelt hatte.

Auch sie waren so gewesen, alle vier, dessen war sich Tom mittlerweile bewusst, als er nun über die Straße ging, vorbei an einem Kiosk und dann vor der Mauer stehenblieb, auf der auch er so oft gesessen hatte.

Seufzend ließ er sich nieder und kramte in seiner Tasche nach einer Schachtel Zigaretten, nur um dann leise fluchend festzustellen, dass er keine mehr hatte. Eigentlich hatte er vor einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört, zur Fastenzeit, aber er sah darin keinen Sinn mehr. An Lungenkrebs konnte er nun definitiv nicht mehr sterben.

Enttäuscht warf er die Packung in Richtung eines Mülleimers neben sich und blickte auf seine Uhr. Es würde noch dauern, bis Chris hier auftauchte und sie dann zum See gehen könnten.

Die Hitze war in der Zwischenzeit etwas erträglicher geworden. Wahrscheinlich war ihm der Temperaturschock so extrem vorgekommen, nachdem er aus der kühlen Kirche getreten war und dann in den Backofen, in dem Konstanz derzeit gegart wurde.

»Wenn ich jetzt schon schwitze …«, murmelte er leise und lachte auf. Es würde noch viel, viel heißer werden. Ein paar Millionen Grad ungefähr, wenn die Wissenschaftler recht behalten sollten.

Er blickte sich um, ob vielleicht Chris irgendwo in der Nähe war, aber es war weit und breit nichts von ihm zu sehen oder von sonst einem Menschen, die zu normalen Zeiten hier über die Bürgersteige flaniert waren.

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