Kitabı oku: «Ein unvergessliches Jahr»
1. Auflage Februar 2018
Copyright © 2018 by Ebozon Verlag
ein Unternehmen der CONDURIS UG (haftungsbeschränkt)
Alle Rechte vorbehalten.
Übersetzung: Vanessa Kayling
Covergestaltung: Ebozon Verlag
Coverfoto: Raoul Ribot / Vanessa Kayling
Layout/Satz/Konvertierung: Ebozon Verlag
ISBN 978-3-95963-492-2 (PDF)
ISBN 978-3-95963-490-8 (ePUB)
ISBN 978-3-95963-491-5 (Mobipocket)
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Raoul Ribot
Ein unvergess-
liches Jahr
Roman
Aus dem Französischen
von Vanessa Kayling
Ebozon Verlag
Ein unvergessliches Jahr
Prolog
Zugegeben: Ich glaube nicht an Wunder, aber wenn es mir vergönnt wäre, ein Jahr meines Lebens noch einmal zu erleben, so würde ich das Jahr 1944 erwählen. Ein Stück Leben noch einmal durchlaufen - das wäre mein Traum. Ein unmöglicher Traum… und doch versuche ich ihn zu verwirklichen, indem ich auf den folgenden Seiten einen Teil meiner Vergangenheit auferstehen lasse. Im Jahre 1944, mitten im Krieg, erreichte ich mein 18. Lebensjahr, während ein großer Teil der Gleichaltrigen ihr Leben bereits verloren hatte. Die Umstände erlaubten mir, meines zu behalten - ein Privileg, ein unglaubliches Geschenk, was mir damals durchaus nicht bewusst war, zumal ich keine Vorstellung davon hatte, was die Zukunft bescheren würde. Dieses Jahr hat mir Lebenskraft geschenkt, Demut und ebenso den unbändigen Willen, Momente des Glücks zu genießen, trotz und zugleich wegen ihres vergänglichen Wesens - eine Haltung, wie sie gewissen jungen Menschen meines Alters entspricht, die mehr Zynismus als Resignation verrät. Ich ließ mich eher durch den Gedanken Carpe diem leiten als durch irgendwelche Zukunftspläne. Die Zeit war kein Schlupfwinkel, sie bedeutete keinerlei Schutz, vielmehr bot sie sich als ein Rätsel dar, als eine Unbekannte, mit der man lieber keine Wette eingehen sollte. Jede Voraussage oder Vermutung bezüglich dessen, was sich ereignen würde, war schlicht unmöglich.
Was die Beunruhigung noch verstärkte, war die Besetzung unseres Gebietes und insbesondere unserer Heimatstadt im Languedoc. Hier muss ich nebenbei bemerken, dass sich das Verhalten der deutschen Truppen, die sich seit dem 11. November 1942 intra muros befanden, nicht derartig tragisch ausgewirkt hatte wie in anderen Gegenden Frankreichs.1 Ihre Anwesenheit löste keine Begeisterung aus, bei weitem nicht, vielmehr bedeutete sie eine moralische Kränkung und eine materielle Belästigung. Die Besatzer wachten darüber, dass man jede ihrer Anordnungen und Vorschriften genauestens einhielt. Besonders eine davon sollte für mich eine tiefgehende Verletzung bleiben: der Befehl zur Evakuierung der Bewohner der Hafengegend von Mèze, wo unser Haus stand, das wir im Jahre 1943 den Nazihorden überlassen mussten, die sich dort bis zum Tag der Befreiung festsetzen sollten. Zu den auferlegten Zwängen gehörten die Aufforderungen zur obligatorischen Arbeit für die Truppen. Von der Rationierung der Lebensmittel waren offensichtlich, wie überall in unserem Land, die Ärmsten und Hilflosesten am stärksten betroffen, die nicht vom Schwarzmarkt profitieren konnten. Ich werde die Ausgehsperre nicht vergessen, die für den größten Teil der Bevölkerung sehr frustrierend war. Ich erinnere mich an die Heimkehr zu nächtlicher Stunde, mit dem Fahrrad oder zu Fuß, was einige Vorsichtsmaßnahmen erforderte, um unangenehme Begegnungen mit der feindlichen Patrouille zu verhindern, deren hämmernde Stiefel man zum Glück von weitem vernahm. Diese Bedrohung veranlasste uns, unsere Schuhe mit den verräterisch klappernden Holzsohlen auszuziehen und sie auf unseren Schleichwegen in der Hand zu tragen. Dennoch entkamen wir nicht; man brachte uns zur Kommandantur, wo wir je nach der Laune des Kommandanten 24 oder 28 Stunden verbringen mussten oder zu einer unbekannten Aufgabe oder Bestimmung entsendet wurden. Am verachtungswürdigsten waren die Razzien und Massenverhaftungen, da sie von Franzosen angezettelt und durchgeführt wurden, die der Miliz oder der Gestapo angehörten. Diese feigen Verräter schämten sich nicht, ihre eigenen Landsleute in die Vernichtungslager zu schicken. Es war ein Paradoxon, dass man die Kollaborateure mehr fürchten musste als den Feind.2 Wir werden niemals alle diese Massaker vergessen, die Kriegsverbrechen, die Deportationen und die vielen Todesopfer dieser Tragödie, die von derartigen Barbaren verursacht wurden. In diesem Kriegsklima mag man sich sehr wundern, weswegen ich mir das Jahr 1944 ausgesucht habe. Die Antwort darauf liegt vor allem in meinem Alter. Jung wie ich war, erlebte ich die Gegenwart, den Augenblick, so frei, wie es mir gefiel; auch wenn diese Freiheit keinerlei Sicherheit bedeutete, lag darin eine Ermutigung, sich gehen zu lassen, andererseits konnte man sich gegenüber diesem historischen Moment, den wir erlebten, nicht gleichgültig verhalten. In mir schwelte das Gefühl einer latenten Empörung. So zu tun, als ob nichts wäre, erschien unmöglich, ja geradezu unmoralisch.
Ich habe diesen Zeitabschnitt in einer anderen geistigen Verfassung erlebt. Ich hatte mir ein Temperament angeeignet, das mich befähigte, allen Herausforderungen, die mich zwangsläufig erwarten würden, zu begegnen und sie zu überwinden. Ich hatte weder Grund, mich selbst zu bemitleiden, noch mich mit der Gegenwart aufzuhalten, die ein Schlachtfeld war. Ich war jung, sportlich, also auch körperlich gesund und voller Tatendrang, um an einer Aufgabe, einem Auftrag mitzuwirken, den ich als eine von mir zu erfüllende Pflicht betrachtete. Ich träumte von besseren Zeiten, zunächst war es aber nötig, Opfer zu bringen, aufopferungsfähig zu sein, wie es einmal eine traurige Persönlichkeit formuliert hatte, aber nicht aus demselben Grund. Ich hatte nichts zu verlieren. Meine Situation war nicht gerade glänzend, ich kam zurecht, dank einer provisorischen Beschäftigung, hatte etwas zu essen und ein Bett zum Schlafen. Die Annehmlichkeiten, die ich in meiner Kindheit genossen hatte, waren in weite Ferne gerückt. Ich war kein Spross einer großen bürgerlichen und konservativen Familie, der sich in die Vergangenheit flüchtete, um die Bilder und Eindrücke wiederzufinden, die der Zeit entronnen waren und die es ihm ermöglichten, durch den Geschmack der Madeleine die Wohlgerüche der Orte wiederzuentdecken, die er einst durchmessen hatte.3 Letztlich alles, was ihn in einen anderen Zustand versetzte, in eine Parallelwelt, die ihn die Qualen des gegenwärtigen Lebens vergessen ließ. Nein, ich flüchtete nicht in die Vergangenheit: Je mehr ich mich an diesem Leben erfreute - so unsicher und heikel es sich auch darbot - umso mehr Hoffnung wuchs in mir heran.
Die entscheidenden Ereignisse im Frühling und Sommer 1944, die Landung der Alliierten in der Normandie und in der Provence, waren nicht länger ein Traum, sondern das Ende eines Albtraumes, obwohl dies noch nicht das Ende der Feindseligkeiten bedeutete. Von wahrer Freude konnte nicht die Rede sein, immerhin doch von einem gewissen Aufschwung, einem Auftrieb, der uns half, die künftigen Tage und Monate besser zu überstehen.
Wir gingen einer Zukunft entgegen, die uns mit einem wahren Glücksgefühl erfüllen, ja überschwemmen sollte. Am Abend des 6. Juni 1944 waren wir, so muss man es sagen, trunken vor Freude und von einer kleinen Menge Alkohol. Einen Moment lang währte unser Eindruck von einem besseren Leben trotz noch immer leerem Magen. Letzteres konnte die positive Gestimmtheit nicht schmälern, die unseren Tatendrang wachsen ließ, unser Bedürfnis, in Aktion zu treten.
Der Enthusiasmus, der uns am Abend zuvor entfesselt hatte, wich am Morgen der Ernüchterung beim Anblick des Strandes, der vom Blut unserer Befreier getränkt war.
Wohlgemerkt, bei meinem Wunsch, dieses Jahr noch einmal zu erleben, habe ich mich darauf beschränkt, diese Fakten des Krieges zu erinnern, aber ich habe die Vorstellung, dass sie sich jemals wiederholen, aus meinen Gedanken ausgeschlossen.
Mit 18 Jahren, als Zuschauer und, in meinem Fall, als Akteur, dienen solche Ereignisse dazu, den Charakter zu formen und eine mentale Stärke hervorzubringen. Dank meiner Jugend trauerte ich der Vergangenheit nicht nach, denn was ich bis dahin erlebt hatte, besaß keine wesentliche Bedeutung; es gab nichts zu bereuen. Vielmehr schien sich eine neue Zeit vor uns zu eröffnen, im Moment war es vor allem eine Erleichterung, die wir alle empfanden, da wir endlich von den deutschen Truppen befreit waren, die sich nun zum größten Teil an der russischen Front befanden und die letzten Kämpfe erwarteten. Es lag nun bei mir, mich auf die vor mir liegende Zeit vorzubereiten und eine bessere Zukunft zu erhoffen, ohne erahnen zu können, was sie mir bringen mochte. Es sind nicht allein die Katastrophen, welche die Zeiten beherrschen, es sind auch die Menschen, die ihr Schicksal gestalten, ihres Glückes Schmiede sind. Jedes Individuum muss ein Ziel verfolgen, und die Hoffnung beibehalten, sein Glück so lange wie möglich genießen zu können. Um nicht in diesem Sinne zu handeln, muss man Defätist sein - dies ist die beste Art und Weise, es zu verlieren; das Errungene zunichte zu machen.
Wozu sollten wir zerstören, was wir sorgfältig aufgebaut haben, und zugleich die vergangene Zeit auslöschen? Es ergibt keinen Sinn, denn die Vergangenheit ist Teil unserer Erinnerung, die bewahrt werden muss. Es kann heilsam sein, auf die Vergangenheit zu rekurrieren, ohne dass daraus eine Psychose entstehen muss - vielmehr lassen sich daraus Ressourcen schöpfen, die uns helfen, mit der Lebenszeit und mit der Zeit des Genusses und der Lebensfreude sorgsam umzugehen.
I
Die Zeit, die ich gern noch einmal erleben würde, war also eine zunächst düstere Epoche, und man konnte nicht behaupten, dass Heiterkeit und gute Stimmung in der Stadt herrschten, in der es zahlreiche Frauen und Männer gab, von denen man wenig oder gar keine Kenntnis hatte, der Missmut hatte sich in zahlreichen verlassenen Haushalten ausgebreitet, überall, wo ein oder mehrere Familienmitglieder fehlten. Das gemeinsame Essen, das die Familien am Sonntagstisch vereint hatte, wurde immer seltener, einige hatten nicht einmal etwas, was sie auf den Tisch bringen konnten. Die Menschen begnügten sich mit einem kleinen Ausflug in die Stadt, wo ihnen oftmals die Eintönigkeit der Uniformen begegnete, und in einer so kleinen Stadt merkt man besonders die Enge, die Tuchfühlung, die nicht angenehm wirkt, wenn sie von einer Art ist, an die man sich nicht ohne Weiteres gewöhnen kann. Jung wie wir waren, Mädchen und Jungen, hatten wir keinerlei Skrupel, man ignorierte diese Fremden, behielt sie aber dennoch im Auge. Einige Male mussten wir nämlich eingreifen, um ein Mädchen von einer höchst unangenehmen Begleitung zu befreien, jedenfalls aus unserer Sicht. Ich muss bemerken, dass die jungen Mädchen unserer Stadt zum größten Teil keinen Gefallen an einer Kollaboration fanden. Wir waren stolz auf sie wie auch auf uns selbst, da wir uns verteidigt hatten. Tatsächlich war eine Gruppe von Jungen, die sich nicht ungeschickt anstellten, in der Lage, sogar einen bewaffneten Chleu abzuschrecken.4 Wir bildeten eine beachtliche Clique von etwa zehn Jungen zwischen 18 und 25 Jahren, wenn sich die Mädchen hinzugesellten, kamen wir leicht auf 20 Personen, die nicht unbemerkt blieben, sogar wenn wir gar nicht vollzählig waren. Der Geist dieser Gruppe war angenehm; unsere Devise lautete Solidarität, Zusammenhalt, Freundschaft. Allabendlich fand sich mindestens ein halbes Dutzend zusammen, zweifellos nicht immer dieselben, wir liefen auf dem schönen, mit großen Platanen umgebenen Vorplatz, auf der Esplanade, auf und ab, um Pläne zu schmieden und mehr oder weniger erlaubte Streiche auszuhecken. Unser Interesse an allem, was verboten war, bedeutete eine Art von Rebellion gegenüber der Besatzungsmacht. Wenn man einem Offizier oder Kommandanten nicht gehorchte, was wir nie taten, wurde dies mit einem Tag Arbeit geahndet. Aber es machte uns nichts aus, einige Stunden im feindlichen Lager zu verbringen; wir beobachteten alles, denn man konnte nie wissen, wofür dies einmal dienlich sein würde. Aber es gab auch andere Vergnügungen, wir mussten unsere Jugend genießen, wir fanden, dass wir das Recht dazu hatten, und wir hätten es nicht ertragen, daran gehindert zu werden. Wir alle fühlten uns frei, ungeachtet der Umstände.
Diese Freiheit erhielt übrigens ihre volle Bedeutung an einem sonnigen Tag im Spätsommer des Jahres 1944. Gegen meine Gewohnheiten überquerte ich eines Morgens den Kai, um mich zu meiner Arbeit in die Stadt zu begeben. Ich war überrascht, diesen Ort, der gewöhnlich belebt war, menschenleer vorzufinden. Einige Boote lagen noch am Ufer, aber der größte Teil der Flotte, mitsamt Fischern und Netzen, hatte bereits den Teich erreicht, während nur noch zwei oder drei Männer ein Floß mit Fässern beluden. Ich bemerkte plötzlich, dass alle Häuser, die bisher von der Truppe jenseits des Rheins bewohnt wurden, ihre Läden geschlossen hatten. Als ich einen der Arbeiter fragte, erhielt ich die Antwort, dass die „Mieter“ am frühen Morgen mitsamt Waffen und Gepäck aufgebrochen seien. Wenig später wurde mir ihre Abfahrt bestätigt, die sicherlich im Rahmen des offiziellen Abzugs der deutschen Armee geschehen war, die sich nun auf dem Weg in den Osten befand.5
Es ist überflüssig zu betonen, dass den gesamten Tag lang und vor allem nachts in der Stadt eine einzige Euphorie herrschte. Die Einwohner trauten ihren Augen so wenig, dass einige von ihnen die gesamte Nacht schlaflos blieben, um sicher zu gehen, dass keine anderen fridolins an ihre Stelle rückten: Tatsächlich hatten wir derartige Manöver seit dem Beginn der Besatzung erlebt. Aber dies war nicht der Fall - die Befreiung war vollständig, sie war endgültig! Wir hatten das Glück wiedergefunden! Endlich ein kleines Stück Glück! Bei der Arbeit sprachen wir beinahe den ganzen Morgen über nichts anderes, danach gingen wir aus, denn ein solches Ereignis musste begossen werden! Wir waren nicht die einzigen im Café an der Esplanade, draußen auf dem Platz standen kleine Gruppen hier und dort, deren Gesprächsthema leicht zu erraten war. Gegen 18.00 Uhr traf ich mich wie gewohnt mit den Freunden zu unseren allabendlichen Gesprächen, und in dem Moment begriffen wir, dass dieses Außergewöhnliche, schier Unglaubliche wirklich geschehen war: die Befreiung. Wir wanderten schließlich wie Schlafwandler, geradeaus, vor uns lagen große, geöffnete Tore und Türen, sie waren tatsächlich geöffnet, wir traten ein und unterhielten uns mit den Menschen, die wir Jugendlichen kaum kannten und zu denen wir gewöhnlich keinen Kontakt hatten, da sie aus einer anderen Generation stammten als wir, wir lachten und weinten gemeinsam, überwältigt von einer Freude, die uns alle mitriss, denn wir erlebten gerade, so schien es, den Übergang von einem Zeitalter in ein anderes.
Dennoch blitzte, beim Anblick des alten Kiosks, das unseren Platz in Mèze belebte, in uns das Bild dieser ausländischen uniformierten Musiker auf, die einem sehr spärlichen Publikum Lieder ihres Landes präsentierten. Ebenso erinnerten wir uns allzu gut an diesen schwerfälligen Volkscharakter, den sie repräsentierten, ebenso wie uns das Geräusch eines Flugzeugmotors fieberhaft den Himmel absuchen ließ, in Erinnerung an das schrille Kreischen und Donnern der feindlichen oder alliierten Bombenflugzeuge. Man kann nicht behaupten, dass wir nicht durch die Kriegsjahre geprägt wurden. Auch die freche Unbekümmertheit der Jugend bietet keinen Schutz dagegen; selbst wenn sie es nicht zeigen will, so zieht sie daraus doch Lehren der Demut. Zweifellos fügt sie sich schneller in das Ganze ein, denn der Durst nach Leben ist glücklicherweise immer gegenwärtig. Obwohl wir noch nicht unserem Hunger entsprechend essen konnten, hatten wir nicht den Appetit auf die Annehmlichkeiten des Lebens verloren, das wir alle - die Mädchen ebenso wie die Jungen - bis zur Neige ausschöpfen wollten.
Wir organisierten Ausflüge zu Fuß oder mit dem Fahrrad in die ländliche Umgebung, jetzt fanden wir sie noch schöner, da wir uns in Frieden bewegen und wie junge Wilde in den ungemähten Wiesen herumtollen konnten. Wir hatten unsere geschützte Stelle am Strand wiedergefunden, am Rande des Étang de Thau, wo das Wasser nicht mehr von den Schmarotzerfischen, die wir vielsagend Fritz nannten, beschmutzt war, die aus der Ostsee stammten. Der Sommer ging zu Ende und damit auch für einige von uns die Ferien. Die meisten von uns blieben am Ort, ich fuhr nach Saint-Girons ins Ariège, um meine Eltern wiederzusehen, die sich vor einigen Monaten mit meinem Bruder Marcel und meiner Schwester Simone dorthin geflüchtet hatten. Wir waren sehr glücklich, wieder vereint zu sein, sicherlich, aber - leider! - nur für eine kurze Zeit. Ich musste meine Arbeit wieder aufnehmen und hatte auch das Bedürfnis, meine Kameraden wieder zu treffen. Die Clique, wie wir unsere Gruppe nannten, war gezwungen, sich aufgrund der Beschäftigungen einiger von uns ein wenig aufzulösen. Die einen begannen ihr Studium, andere unterrichteten an Grundschulen, andere blieben vor Ort und darunter noch genügend Mädchen, mit denen wir eine glückliche Zeit verbrachten.
II
Trotz allem fühlte ich mich bedrückt, denn ich vermisste meine Kindheitsfreundin Sylvie Astre, deren Aufnahme in die medizinische Fakultät bevorstand. Wir kannten uns, seit wir etwa zehn Jahre alt waren, wir spielten in der Nähe ihres Hauses Verstecken oder Fangen, oder wetteiferten, wer die meisten von jenen kleinen Krabben sammeln würde, die sich am Ufer in den Algen verfingen. Oft spielten wir mit ihrer Puppe, die sie ein wenig mit einer Stecknadel malträtierte, unter dem Vorwand, sie zu behandeln. Eines Tages hatte sie beim Spielen zu mir gesagt: Wenn ich groß bin, will ich Ärztin werden. Dann kann ich nämlich meinen Papa heilen, wenn er alt und müde ist. Wie stolz musste ihr Vater Olivier nun sein, wenn er daran dachte, dass seine Tochter bald Ärztin werden könnte! Er hatte sich sein Leben lang abgerackert und nahm auch noch heute, denn er war erst 49 Jahre alt, seine gesamten Kräfte und seinen Mut zusammen und brachte reiche Fischfänge mit nach Hause, um seiner Familie ein angenehmes Leben und seiner Tochter Sylvie das Studium zu ermöglichen. Als sie ihm nach dem Abitur ihre Absicht verkündete, dass sie das Medizinstudium anstreben würde, hatten sich seine Augen vor Staunen und vor Glück geweitet, er hatte seine Tochter in die Arme genommen und herumgewirbelt, wobei er sie mit Küssen und Freudentränen bedeckte. Einige Tage später nahmen sie Onkel Jules' guten alten Bus, um sich zur Einschreibung an die medizinische Fakultät nach Montpellier zu begeben. Olivier hatte diese Fahrt zum ersten Mal anlässlich von Sylvies Eintritt ins Lycée Henri IV unternommen, aber dies war etwas anderes, vor allem, wenn man zur Besichtigung der Orte eingeladen wurde. Beim Anblick dieser großen Auditorien traute dieser schlichte Mann seinen Augen nicht; dort würde sein Kind bald studieren, in diesem ehrwürdigen, riesigen Hörsaal mit seiner beeindruckenden Höhe - dies, sagte er sich, musste das Wunderwerk sein, von dem sein alter Freund Honoré nach dem Besuch eines Vortrags über die Pyramiden berichtet hatte. Welch ein emotionales Erlebnis für den braven Olivier! Auch ich war sehr bewegt, als Syl - dies war die vertrauliche Koseform, die ich ihr vor allem auch aus Bewunderung verliehen hatte - mich in ihre Entscheidung einweihte, sobald die Abiturnoten bekannt waren. Ich wusste, dass sie nicht scherzte, denn sie war in der Lage, lange und intensiv zu lernen, ich kannte ihre Willensstärke, ihre Hartnäckigkeit, ihre Belastbarkeit, alle Fähigkeiten, die ihr Vater ihr vererbt hatte. Ich konnte nicht anders als ihr zu applaudieren und sie zu beglückwünschen, sie küsste mich lange auf beide Wangen und ich gab ihr diesen Moment der Zärtlichkeit sogleich zurück. Wir waren gute und wahre Freunde, darüber hinaus gingen wir nicht, wir pflegten und kultivierten diese Freundschaft ohne irgendeinen Hintergedanken. Als die Umstände uns trennten, füllten wir die Leere aus, überbrückten sie mit einigen Zeilen, deren Hauptthema darin bestand, dem anderen ein wenig Zeit zu schenken. Sicher schrieben wir uns nicht täglich, zumal sie sonntags jede Woche oder vierzehntägig nach Hause kam.
Aber auch nach diesen Ferien, wie jedes Mal, bemerkten wir die Distanz, die zwischen uns entstanden war: die lange Zeit, die wir nicht miteinander verbracht hatten, hatte sich wie etwas Fremdes zwischen uns geschoben. Es gab eine so starke Affinität, die aus unserer kindlichen Beziehung entstanden war, in einer Zeit, als wir uns in einer ständigen Gemeinschaft befanden, und die durch einen Mangel an Austausch und Kommunikation gefährdet war, auseinanderzubrechen. Wir hatten eine Menge an Gesprächsthemen, und nicht immer waren wir gleicher Meinung. Aber wir erreichten immer nahezu eine Synthese, die uns erlaubte, das Thema abzuschließen. Wenn wir auf Politik zu sprechen kamen, für die sie sich nicht besonders interessierte, aber dennoch eine bestimmte Sicht einnahm, und ich versuchte, sie von der meinigen zu überzeugen, antwortete sie mir, indem sie sie mir ihren Zeigefinger auf den Mund legte, dass ich warten solle, bis sie ihre Lektionen in diesem Fach absolviert hätte. Schließlich gab sie mir einen leichten Klaps auf die Wange, gefolgt von einem schelmischen Lächeln. Wenn wir über Literatur sprachen, hatte sie etwas, woran sie sich freuen konnte, sie las sehr viel mehr als ich in dieser Zeit, vor allem die Klassiker oder auch moderne Autoren, ich ging eklektischer vor, von Agatha bis Zola, der mich begeisterte. Sie war immer guter Laune, freute sich über die kleinsten Alltagsdinge und ich liebte sie deswegen über alles. Wenn ich ihr eine Blume schenkte, die ich an einem Feldrand gepflückt hatte, fiel sie mir um den Hals, wobei ihr Kuss eine Spur auf meiner Wange hinterließ. Es war eine Art, sich in aller Freundschaft zu lieben. Es mochte wie ein Spiel erscheinen, aber das war es nicht: Schließlich ist die Freundschaft ein höchst ernsthaftes und kostbares Gut, das durch einen leichtsinnigen Fehler für immer zerstört werden kann. Es ging uns gut, das war das Wichtigste und unsere Freundschaft reichte uns vollkommen aus. Unsere Freunde hatten fatalerweise immer geglaubt, dass es da noch etwas anderes oder noch mehr zwischen uns gab oder geben musste, wir selbst haben untereinander niemals die Tatsache angesprochen, dass diese Situation dergleichen vermuten ließ, dass sie sogar ein anderes Gefühl als das der Freundschaft hervorrufen konnte; dass Liebe oder sogar Abneigung entstehen konnten. Ein Außenstehender hätte nichts anderes wahrgenommen als ein gewöhnliches Paar, das dafür geschaffen war, sich zu verstehen und zu lieben, und es war tatsächlich so, außer dass wir uns nicht liebten wie Liebespaare. Syl war großartig, auch in ihrer äußeren Erscheinung - sie besaß die Anmut und den Körper einer Elfe. So gab es einige Anlässe, die die Eifersucht um uns herum entfachten. Dies bedeutete etwas wahrhaft Unangenehmes und Frustrierendes, was unsere Kommunikation mit fremden Mädchen und Jungen erschwerte, manchmal sogar mit denjenigen, die wir kannten. Trotzdem blieb unser gegenseitiges Vertrauen davon unberührt, was bewirkte, dass sich unsere gegenseitige Wertschätzung noch steigerte.
Wir hatten uns die Frage noch nicht gestellt, ob diese Freundschaft der Zeit Widerstand leisten und sie überdauern würde. Sollte die Tatsache, dass wir Heteros, ein Mann und eine Frau waren, künftig ein Hindernis für die Fortsetzung dieser Art von Beziehung bedeuten? Man konnte nicht voraussehen, was geschehen würde. Letzteres war übrigens Gegenstand der Unterhaltungen zwischen Syl und mir, denn wir waren übereingekommen, nichts voreinander zu verheimlichen.
Als Schülerin hatte Syl eine sehr enttäuschende Beziehung erlebt und bisher, soweit ich weiß, keinerlei intime Erfahrungen mit Jungen gehabt. Sie kannte meine früheren und jetzigen Abenteuer, die sie jedoch nicht zu stören schienen. Seit etwa zehn Jahren gedieh unsere Freundschaft, sie festigte sich schnell, besser ging es nicht. Es war nicht möglich, darüber hinauszugehen. Die Harmonie zwischen uns konnte eine gewisse Spannung nicht überschreiten, ohne Gefahr zu laufen, dass eine der Saiten, die sie hielt, zerbrach. Wir hatten mit unserem Gewissen vereinbart, dass wir uns an unsere Gewohnheit hielten. Man muss den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen. Es gab keinerlei Grund, das Verhalten des anderen nicht zu respektieren, denn dies hätte bedeutet, dass sich der Schatten des Zweifels über unsere Aufrichtigkeit legte. Von Aufrichtigkeit zu sprechen, scheint mir unpassend, da man an der meinigen durchaus zweifeln konnte, und vor allem Sylvie, zumal ich es war, der unsere Freundschaft missachtet und verraten hatte für ein Liebesabenteuer mit einem Mädchen, das sogar einige Jahre älter war als ich. Ich muss sagen, dass keine von beiden den Eindruck machte, als würden sie mir diese Geschichte übelnehmen. Thérèse, meine damalige Freundin, hat Syl anlässlich eines Alarms kennengelernt, der einen Luftangriff ankündigte und der uns zwang, uns aus der Stadt zurückzuziehen. Dies war einer jener Momente, die dem Zufall geschuldet sind, dass die beiden einander sympathisch fanden. In der folgenden Zeit begegneten sie sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Beschäftigungen nur selten. Thérèse, 24 Jahre alt, war Kontrolleurin bei der Leitung der Post in Nîmes, was erklärt, weswegen unsere Begegnungen nur sporadisch erfolgten. An ihren freien Tagen, an drei oder vier Tagen im Monat, kehrte sie in ihre Geburtsstadt Mèze zurück. Auf diese Weise gelang es mir, meine Zeit der einen wie der anderen zu widmen, ohne Ärger heraufzubeschwören. Es geschah, dass Syl und ich manchmal zum Mittagessen bei Thérèses Eltern eingeladen wurden, umgekehrt ließen Letztere und ich uns zu den Astres einladen, was mir die Freude bereitete, einige Themen aus der Vergangenheit aufzugreifen. Dazu zählte unter anderem die Geschichte meines kleinen Cousins Raoul, der während des Ersten Weltkrieges 14/18 verschwunden war, und von dessen kurzem Leben ich in einer meiner früheren Schriften berichtet habe.
Alles verhielt sich bestens, denn diese Situation änderte weder etwas an der Freundschaft, die mich mit Syl verband, noch beeinträchtigte sie meine Beziehung zu Thérèse. In Thérèses schönen Augen verlor ich mich wie in einem Meeresgrund. Für einen Moment schien ich wie entrückt, eingehüllt in eine Intimität, in der ich völlig aufging. Ich kam erst wieder zu mir, als ich den Druck ihrer Lippen auf den meinigen spürte. Wir verbrachten einen Teil der Nacht damit, uns zu lieben, jedes Mal, wenn sie mir einen ihrer freien Tage schenkte. Es war die Liebe, die diese unsere Beziehung bestimmte und welche die Freundschaft überstieg, die wir füreinander empfanden. Sie war vor allem körperlich, fleischlich, sinnlich, erotisch. Ich finde nichts Spirituelles darin, obwohl dieser Akt sicherlich von einem gegenseitigen Empfinden von Zuneigung und Sympathie begleitet ist. Dennoch war es völlig verschieden von dem, was mich und Syl verband, mit ihr gab es keinerlei Zweifel, keine Unwägbarkeiten, die Art der Beziehung zu ihr besaß den Vorteil der Klarheit. Die wahre, wirkliche Freundschaft impliziert ein natürliches Vertrauen zueinander, eine Zuverlässigkeit, eine Art Komplizenschaft, die es, wie ich glaube, bei Liebespaaren nicht gibt.