Kitabı oku: «Deutsche Humoristen»
Hans Hoffmann:
Eistrug
Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt aus dem Buche »Von Frühling zu Frühling« (Berlin: Verlag von Gebrüder Paetel, 3. Auflage 1898).
Eistrug
»Das ist wahr,« sagte Kapitän Kannenberg – Robert Kannenberg, der die »Pomerania« führte – »etwas anhängen bleibt einem immer von solcher jugendlichen Liebschaft, wenn auch sonst gar nichts dabei herausgekommen ist; und es passiert auch, wenn man sie längst vergessen hat oder bildet sich das doch ein, dann muckert sie hinterher noch 'mal nach, daß einem Hören und Sehen vergeht: und dafür bin ich selbst ein lebendiges Beispiel gewesen.
Also, ich war schon ein paar Jahre auf See und dachte gewiß und wahrhaftig nicht mehr viel an meine Jugendflamme, die hübsche Hersilie, kümmerte mich auch nicht drum, was aus ihr geworden wäre. Nun kam ich aus der Südsee zurück mitten im Februar. In den Hafen konnt' ich bequem einlaufen, den hielten die Dampfer offen, aber weiter 'rauf übers Haff ging's nicht mehr, das war fest zugefroren. Es war lange Tauwetter gewesen und dann auf einmal noch spät im Januar scharfer Frost.
Nun ist das eine komische Sache, wenn man von 'ner großen Fahrt zurückkommt und es riecht einem dann plötzlich alles so heimatlich, und wenn's auch bloß Teergeruch ist; es schlägt einem doch aufs Gemüt. Und hier war noch das Besondere, daß die ganze Gegend da herum so viel Ähnliches hatte mit der bei uns zu Hause, nämlich die Werften und die Schiffe und das Bollwerk und der Strom und besser hin die großen Wiesen zu beiden Seiten, die jetzt überschwemmt und mit blankem Eis bedeckt waren. Diese Erinnerung schlug mir erst recht aufs Gemüt, und ich mußte immer wieder an unser altes Nest denken, und daß doch immer noch die Gräber meiner Eltern da auf dem Kirchhof waren, wenn ich auch sonst nichts mehr da zu suchen hatte. Und so dämmerte ich schon tagelang in einer kuriosen Verfassung umher. Wenn ich aber sagen sollt', daß ich jetzt schon nach der hübschen Hersilie 'ne Extrasehnsucht gehabt hätte, müßte ich lügen. Wenn ich sie hier am Platz ohne Umstände hätte sehen können, wär's mir so wahrhaftig eine große Freude gewesen und hätt' mich auch inwendig aufgeregt; aber große Geschichten drum zu machen fiel mir nicht ein.
Da wollte aber der Teufel oder sonst wer, daß ich an einem Morgen bei unserem alten Radmann zu tun hatte, der sich jetzt hier niedergelassen hatte und reich geworden war, und daß er mich dann natürlich gleich zu Mittag da behielt. Das war ja so weit sehr schön von ihm; und der Hasenbraten war gut, und der Rotspohn war sehr gut: sie haben da so ihre stillen Quellen für diese Ware.
Und nachdem wir in Frieden vielerlei Geschäftliches gesprochen hatten, sagte Radmann so beiher:
»Merkwürdig ist's doch, wie sich das manchmal so zusammentrifft: heute sind Sie bei mir, und gerade gestern früh treffe ich Ihren alten Freund Heinz Wichards, Pastors ihren, den Sie ja nun auch wohl seit Jahren nicht gesehen haben.«
»I wo Donner,« rief ich ganz aufgeregt, »hier doch nicht?« Denn natürlich hatte ich ihn jahrelang nicht gesehen.
»Nein,« sagt er, »ich bin gestern erst mit der Post von Stettin gekommen; da hab' ich ihn getroffen.«
»Was zum Kuckuck hat der in Stettin zu tun?« rief ich. »Ich denke, der sitzt in Berlin bei seinen Museums und Gipspuppen.«
»Tut er auch,« sagte Radmann, »und sie wollen ihn da nun bald zum Professor machen. Aber jetzt ist er auf dem Wege nach Ellermünde, nämlich wegen dem alten Küper; Sie wissen doch, daß der tot ist?«
Ich wußte natürlich nichts davon, und es fuhr mir ordentlich in die Glieder. Es war doch immer Hersiliens Vater, wenn er mich auch sonst nicht viel anging. Und ich muß sagen, im stillen wurd' ich ganz rot vor Schreck; zu sehen war aber wohl nichts davon, weil ich so schon rot genug im Gesicht war, denn wir standen bei der fünften Flasche, und der leichteste war der Chateau nicht.
»Aber was hat der Heinz Wichards damit zu tun?« fragte ich ganz schüchtern.
»Der will sich die alten Marmorscharteken ansehen, die der Küper hinterläßt – Sie wissen doch, das Zeug, das er aus Griechenland eingeschleppt hat – vielleicht, daß er sie für sein Museum kaufen kann. So hat er mir gesagt. Möglich ist ja aber auch, daß er das lebendige Marmorpüppchen, die hübsche Hersilie, mal wieder unter die Lupe nehmen will; man hat so Exempel von Beispielen. Anzumerken war's ihm schon, wie nahe es ihm ging, daß die arme Person jetzt so verwaist dastände. Und verdächtig sind diese Art Mitgefühle immer, wenn solche arme Person so verteufelt hübsch ist wie die kleine Hersilie und noch obendrein eine alte Jugendflamme. Man hat Exempel von Beispielen.«
So redete er ganz ruhig und hatte keine Ahnung, daß mir dabei etwas in den Kopf gefahren war wie ein Wirbelwind. Ich sage nicht, daß nicht auch der Rotspohn sein Teil daran gehabt hat, denn es kam zu plötzlich und zu toll. Und wenn ich ehrlich sein soll, es war eine richtige Gemeinheit und nicht um ein Haar was Besseres, was mich da gepackt hatte; nämlich der niederträchtige, giftige Neid und Eifersucht auf den alten Freund und friedlichen Nebenbuhler, daß der nun doch zu guter Letzt bei unserer gemeinsamen ehemaligen Flamme sollte zum Ziele kommen können.
Und mit einem Schlage war die ganze alte Leidenschaft in mir wieder da, toller als je, und ich hätte in diesem Augenblick einen Finger darum gegeben, wenn ich der süßen Hersilie nur die Hand hätte küssen können. Wie das so auf einmal möglich war nach all den ruhigen Jahren, verstehe ich noch heute nicht; es kam über mich wie ein Gewitter. Schwere Angst! Und wenn ich mir nun vorstellte, daß der Heinz das Mädchen vielleicht zu dieser Stunde schon in den Armen hielt als seine Braut! Und ich hätte das ebensogut haben können, wenn ich eher daran gedacht hätte!
»Wann wollte er denn fahren?« fragte ich so gleichgültig als möglich, denn von Stund' an war ich heimtückisch und hinterhaltig geworden.
»Heute mit der Post,« sagte Radmann.
»Wann kommt die an?« fuhr ich hastiger dazwischen, als ich wollte.
»So gegen Abend. Um sechs herum, denk' ich. Natürlich mit der üblichen Verspätung.«
Ich sah nach der Uhr. Ein sonderbarer Gedanke zischte in mir auf. Ich dachte an das zugefrorene Haff.
Währenddem sah mich der alte Sünder, der Radmann, mit einem verdammten Grinsen an. Da wurde ich wirklich noch um einen Strich röter im Gesicht, denn ich glaubte, er müßte all meine nichtsnutzigen Gedanken in mir gelesen haben. Doch er sagte nur ganz gemütlich:
»Wissen Sie, Kannenberg, was ich anfange zu merken?«
»Na?« grunzte ich halb wütend, halb verlegen.
»Daß Sie keinen Bordeaux vertragen können, Sie haben ja eine tolle Fahne aufgezogen nach den paar Buddeln.«
Dieser infame Verdacht hätte mich sonst ganz aus dem Häuschen gebracht; jetzt aber kam er mir recht zupaß, und ich log flott darauf los:
»Ja, wissen Sie, Radmann, ich hab' heute schon ein bißchen viel Sherry hinter mir; wissen Sie, bei Eggebrecht ist es immer so schwer, 'rauszukriegen, ob der Sherry oder der Portwein besser ist, und da wird es leicht etwas viel mit dem Proben, bis man es mit Halb und Halb versucht und endlich zur Ruhe kommt: ich glaub' selbst, ich hab' einen kleinen Hieb weg; der Kopf ist mir merkwürdig benommen.«
»Na,« sagt' er in seiner Gutmütigkeit »das kommt vielleicht auch von dem Wetterumschlag; es liegt was von Schnee oder Tauwetter in der Luft; ich spür' das allemal in der Hüfte; mancher spürt's wieder im großen Zeh' und mancher in der Lunge und mancher sogar im Gemüt.«
»Das muß denn wohl mein Fall sein, das mit dem Gemüt,« dacht' ich im stillen. Ich sagte aber ganz was andres.
»Wissen Sie was, Radmann?« sagt' ich gemütlich, »können Sie mir ein Paar Schlittschuhe borgen? Ich möcht' ein Stündchen über die Wiesen laufen, das tut mir immer am besten, wenn ich im Kopfe Nebelwetter habe. Es ist eine gesunde Bewegung.«
»Da haben Sie wieder recht, Kannenberg,« sagt' er, »das ist es. Die allergesundeste Bewegung. Da kommt kein Turnen und kein Reiten gegen. Bloß jung sein muß man wie Sie und nicht zu dick; für mich ist's aus. Die Schlittschuhe sollen Sie haben, passen werden sie ja. Und mit dem Wiederbringen hat's keine Eile. Brauchen Sie die Dinger getrost, solange das Eis hält.«
»Hält's denn überall?« fragte ich so nebenher.
»O ja,« sagte er, »auf den Wiesen laufen sie ja überall, und auf dem Strom geht's auch.«
»Und das Haff?«
Er sah mich groß an. »Na nu, Sie wollen doch nicht aufs Haff? Was haben Sie da zu suchen? Das lassen Sie lieber bleiben; es ist auch schon zu spät am Tage.«
»Das wär' nicht schlimm,« meinte ich, »und sicher muß es doch sein; übrigens war es nur so 'ne Idee.«
»Gott, ja,« sagte er, »am Ufer lang soll ja gute Bahn sein; aber weiter 'rein ist's faul; es ist zu viel Sturm gewesen, daß es nicht richtig hat zugehen können; es haben welche 'rüberlaufen wollen, sind aber wieder umgekehrt, weil es zu ungemütlich war und überall knackte.«
Da schwieg ich still; und er kramte richtig ein Paar angerostete Holländer heraus, aber sonst leidlich im Stande und von guter Bauart. Und ich dank' ihm und mach' mich auf den Weg.
Was ich wollte, wußt' ich. Quer über's Haff nach Ellermünde. Wenn ich mich dran hielt, konnt' ich drüben sein vor Dunkelwerden und vor der Stettiner Post. Hätt' ich Extrapost ums Haff herum nehmen wollen, ich hätte mindestens die vierfache Zeit gebraucht – und morgen früh kam ich zu spät, daran war also nicht zu denken.
So ging's denn auf die Reise. Wie ein Donnerwetter den Strom hinauf und nachher über die Wiesen. Das Eis war wie ein Spiegel und so klar, daß man jeden Grashalm darunter sehen konnte. Es liefen ziemlich viel Leute, Fischer und andere, und ich hätt' noch manchen nach dem Haffeis fragen können, tat's aber nicht; ich hatte heimlich Angst, sie könnten die Köpfe schütteln und mir's ausreden wollen. Ich wollt' nun mal nichts sehen und nichts hören, ich ging drauf los wie der Bulle auf den roten Flicken.
Die Luft war schön und still wie in der Stube, der Himmel ganz blau: heißt das, im Südwest stand es grau und dick. Ach, Unsinn, dacht' ich, bei der Windstille kommt das nicht 'rauf, am wenigsten in zwei Stunden, und bis dahin bin ich drüben.
Also immer drauf los über die Wiesen weg. Und eh' ich mich's versehe, ist das Eis unter mir schwarz, keine Spur mehr von Gras und Kraut, und auch kein Mensch rundum; ich bin also auf dem Haff. Siehst du wohl, und es geht wunderschön. Kerneis durch und durch; das hält wie Balken. Also immer stramm weiter.
Und ein helles Vergnügen ist's und bleibt's doch, so dahin zu jagen, ganz allein; wie ein Adler kommt man sich vor, es ist gar nicht, als ob man den Boden berührt. Man fühlt sich so sicher; das Eis kann ja gar nicht brechen, weil man doch bloß so lose darüber streift. Ebensogut könnt' ein Vogel stolpern und ein Fisch sinken. Und immer vorwärts, immer vorwärts. Ja, das ist erst das Wahre, über solche Fläche zu schießen, die kein Ende hat und keine Unterbrechung; blankes, schwarzes Eis vor sich und hinter sich und rechts und links, und weiter nichts. Kein Mensch und kein Tier und kein Strauch und kein Pfahl und kein Halm. Und auch kein Ton; bloß die Schlittschuhe schurren leise, als ob das Eis singt, und die Luft streicht sachte an den Ohren vorbei. Es geht nichts darüber, sag' ich bloß.
Und dabei zu wissen und zu fühlen: mit jeder Minute kommst du ein langes Stück näher dahin, wohin du kommen willst! Und wenn es einen nun so gewaltsam dahin drängt, und jede Minute kostbar ist! – Wie ich so geradeaus vor mich hinsah, wo nun bald das Land aufsteigen mußte, da dacht' ich: Da drüben fährt er jetzt auch auf seinem Postwagen und hat auch solche Eile wie du und brennt auch inwendig lichterloh, aber er hat bloß Pferdebeine und kann nichts dazu tun, um schneller vorwärts zu kommen; wie muß ihn das prickeln in allen Gliedern, wenn der dumme Postillon 'mal Halt macht und trödelt und trödelt bei seinem Schnaps, und die Gäule haben auch ihren Eimer noch immer nicht ausgesoffen; und du hast deine eigene Kraft und hast Flügel an deinen eigenen Füßen und fliegst herrlich vorwärts, immer vorwärts! Ja, das war eine Freude. Und ich war nun ganz sicher, daß ich ihn überholen würde – um eine, um zwei Stunden – und versteht sich: wer zuerst kommt, mahlt zuerst, na, und die Augen, die er machen wird, wenn er die schöne Hersilie hübsch warm in meinen Armen findet, und er muß mit 'ner kalten Marmorpuppe ohne Kopf und Arme abziehen! Ja, das war ein Spaß, sich so was auszudenken und dabei zu fliegen, immer zu fliegen.
Gerade aber, wie dies Vergnügen am allergrößten war, kriegt es auf einmal einen Knacks. Erst nur einen kleinen. Ich merke nämlich erstens, daß die graue Wand im Südwesten – Gott's ein Donner ja, wie ist das möglich, daß die so schnell hoch gestiegen ist? Sie steht ja wohl längst nicht mehr im Südwesten, sondern gerade über meinem Kopf.
Und das zweite, was ich merkte: daß es mit dem Laufen nicht mehr so glatt vorwärts gehen will wie vorher. Warum? Weil die Luft so ganz allmählich stärker gegen mich an ging und eigentlich schon eine recht handliche Brise geworden war. Und natürlich, gerade wenn das Eis so schön glatt ist, wie es hier war, da merkt man jeden Hauch, der einen von vorn her anpustet. Und ich fing nun so wahrhaftig schon an zu schwitzen und zu keuchen.
Jetzt lief mir doch sachte was Ungemütliches übern Rücken. Sapperment, dacht' ich, auf die Weise kannst du ja wohl vor Nacht kaum drüben sein, und dann ist's 'ne faule Sache, überhaupt die Mündung zu finden, denn den Leuchtturm stecken sie doch nicht an bei Eiszeit. Und wenn dann noch Schnee dazu kommt von der verdammten Wolke da oben, oder das Eis fängt doch wo an zu knacken?
Ein bißchen schummrig wurd' es nämlich schon – mehr von der Wolke als von der Abendstunde – und vor mir war noch keine Spur von Land zu sehen und rechts und links auch nicht. Und wenn ich nach unten sah, kam mir das Eis auch so dünn vor, als müßt' es jeden Augenblick unter mir zerspringen. Eigentlich sah ich gar nicht, wie dick es war oder wie dünn, sondern bloß wie in einen leeren, schwarzen Abgrund; so durchsichtig war es.
Ob's nicht doch am Ende besser ist, umzukehren? fing ich an zu überlegen. Aber wie meine Schlittschuhe so über das Eis bullerten, mußt' ich an den verdammten Postwagen denken und den Heinz Wichards darin, und dann sah ich ihn vor mir, wie er die Hersilie im Arm hielt und sie tröstete, und ihre Tränen fingen an schon sachte zu fließen, bloß noch so, als wenn nach dem Regen das Wasser von den Blättern abtröpfelt. – Zum Donnerwetter, nein, dacht' ich, wenn ich das zuließe, müßt' ich all mein Lebtag vor mir selbst als dummer Junge dastehen!
Und weiter dacht' ich: I was, zurück kommst du immer noch. Mit dem Wind, der jetzt geht, bist du in der halben Zeit zurück, als in der du gekommen bist, und hast die sichere Bahn hinter dir!
So kriegt' ich wieder Mut; denn man hat immer Mut, sowie man den Rücken gedeckt hat; und lief stramm weiter, obgleich es immer weniger flecken wollte gegen den Wind.
Aber kaum hatte ich noch ein paar Minuten hinter mir, da kam etwas ganz Ekelhaftes. Erst so ein greulicher Ton von unten her, laut, lang, dumpf, genau als wenn jemand unter dem Eise jämmerlich schluchzte oder auch gurgelte wie beim Ersticken. Und der Ton lief dann immer weiter und weiter hin, als wenn da jemand mit fürchterlicher Schnelligkeit unten an dem Eise entlang führe und einen Ausweg suchte und dabei immer trostloser schluchzte und zuletzt in weiter Ferne erstickte.
Eigentlich wußt' ich ja ganz gut, was es war, bloß das eingesperrte Wasser, das gluckst, ich hatte das schon oft genug gehört; aber es ist noch etwas anderes, solche Töne ganz allein mitten auf dem Haff in der Einsamkeit zu hören, wo sonst alles still und leer ist wie das Grab. Und wenn der Mensch graulich werden soll, dann wird er graulich und kann sich nicht wehren dagegen.
Aber das war noch nicht das Schlimmste. Gleich darauf glitt etwas Weißes unter meinen Füßen hin, wie eine große weiße Gestalt. Wenn mich jetzt einer fragt, was es gewesen sein wird, so sag' ich: vielleicht ein toter Stör oder sonst ein großes Vieh oder meinethalben auch ein Stück Segeltuch, oder was weiß ich? – Aber damals schüttelte ich mich ordentlich vor Schauder und hätte darauf geschworen, es wär' ein Mädchen gewesen mit weißen Kleidern, und ich muß sagen, ich sah ganz genau Hersiliens weißes Gesicht vor mir, wie wir sie einmal halb ertrunken aus dem Wasser gezogen hatten. Und gleich darauf kam noch einmal das scheußliche Schluchzen unter dem Eise, gerade als wenn es von der armen Gestalt selbst ausginge. Und wenn mich einer auslacht, ich sag's doch: mir kamen die Tränen in die Augen vor reiner Angst.
Und es war auch in Wahrheit schlimm für mich; nicht von sich selbst, aber weil mich jetzt keine Macht der Erde mehr dahin gebracht hätte, umzukehren und noch einmal über die weiße Gestalt hinweg zu laufen. Sondern ich arbeitete vorwärts mit allen Kräften wie ein Wahnsinniger. Und ich tröstete mich und dachte: wenn's jetzt nicht bricht, bist du durch, denn du mußt jetzt ja wohl gleich über die Mitte weg sein, und nach dem Ufer zu ist's wieder ganz sicher: und da kommen auch wohl wieder Menschen! – Denn wahrhaftig, ich fing an, eine grausame Sehnsucht nach lebendigen Menschen zu kriegen.
Aber das Vergnügen war noch lange nicht zu Ende, sondern der kleine Schreck war bloß ein Vorspiel gewesen, bloß so zum langsamen Drangewöhnen. Jetzt kam erst das Reelle.
Nämlich auf einmal fällt mir etwas Naßkaltes ins Gesicht und dann etwas Weißes auf den Ärmel, und dann noch etwas und immer noch mehr, hier eine Flocke und da eine Flocke, und es tanzte immer lustiger vor meinen Augen, immer hübsch weiß, immer hübsch weiß; na ja, da haben wir die Bescherung!
Es braucht nämlich kein Mensch zu denken, daß es sich leichter auf Schlittschuhen läuft, wenn man mit dem Eisen durch den Schnee fegen muß, und die Decke alle Minuten höher und höher wird, und man alle Augenblicke in einen dick zusammengewehten Haufen gerät und fast stecken bleibt. Und dann noch einen steifen Südwest gegen sich! Und es braucht auch keiner zu denken, daß es sehr gemütlich ist, wenn man in solcher Einsamkeit nichts mehr um sich her sieht als Flocken und Flocken und Schnee und Schnee und Schnee und keine Spur mehr von dem festen Eis – von Land schon gar nicht zu reden.
Aber da kam's, das Allerschlimmste. Es war zwar bloß so ein ganz feines, schleichendes Knistern unter mir: aber verdammt, das kannt' ich! Weiter war es auch nichts gewesen damals, als ich auf unserem Wiesengraben einbrach: damals hatte ich nicht darauf geachtet, bis ich drin lag. Nur bis an den Bauch damals – aber jetzt! Na, es wird keiner denken, daß ich auch jetzt nicht darauf geachtet hätte! Und ob ich die Beine rührte! Aber das Knistern lief immer sachte hinter mir her, immer dicht mir auf den Hacken, wie so ein vermaledeiter Köter, der knurrt und knurrt und jeden Augenblick zubeißen kann. Und dabei war mir's, als käm' ich nicht von der Stelle, sondern säße da festgenagelt, wo das Eis am dünnsten war.
Und nun also gerade mitten auf dem Haff. Himmeldonnerwetter!
Und dann der Gedanke: mit dem Umkehren ist's jetzt vorbei, über das knackende Eis hinter dir läufst du ungestraft nicht zum zweitenmal. Dahinaus ist die Welt mit Brettern vernagelt!
Na, schön war's nicht: aber wenn einer eben vom hohen Gerichtshof zum Tode verurteilt wird, das soll ja auch nicht schön sein.
Also ich lief und lief wie besessen; und das Knistern lief immer sachte hinter mir her.
Aber das Eis hielt immer noch trotz alledem, und es wollte mir schon ein ganz klein bißchen besser zu Mut werden.
Ich laufe und laufe – da, bums, krach, da liege ich lang ausgestreckt, oder vielmehr, ich liege nicht, sondern fliege im Kreise herum, und der Schädel brummt mir so, daß ich eine schöne Zeit brauche, bis ich ordentlich zur Besinnung komme. Erst denke ich natürlich, ich bin eingebrochen und alles ist aus; und weiß Gott, einen Augenblick war ich ganz zufrieden, daß die Höllenangst ein Ende hatte, und ich das verfluchte Knistern nur nicht mehr hörte.
Allmählich aber merkt' ich denn doch, daß ich nicht unter dem Eise, sondern auf dem Eise lag, und daß ich bloß über einen losgegangenen Riemen gestolpert war.
Und da hatt' ich nun zuerst eine große Freude: wenn das Eis den Prall aushält, dacht' ich, dann hat's keine Not, dann war das ganze Knistern bloß Spiegelfechterei zum Bangemachen, und du bist hier so sicher wie auf dem Tanzboden. Das heißt, das war hauptsächlich so eine Art von Renommage vor mir selber, denn ich wußt' doch ganz gut, daß solches Knistern und Knacken immer was zu bedeuten hat; ich war wohl bloß so davongekommen, weil ich so glatt hingerutscht war und sich die Last des Körpers im Liegen verteilte. Vielleicht war's auch aus Zufall eine festere Stelle gewesen.
Mit der Freude war's bald zu Ende: indem ich aufstehe und wieder meine Richtung nehmen will, ja, zum Schockschwerenot, wo ist denn meine Richtung?
Ich war beim Fallen so rundum geschmissen, daß ich nichts mehr wußte von Norden noch Süden, noch Osten, noch Westen.
Der Schreck war nicht schlecht! Der kalte Schweiß brach mir aus am ganzen Leibe, und ich wäre beinahe wieder umgefallen und liegen geblieben.
Aber natürlich faßte ich mich schnell und mußte ordentlich lachen über meine Dummheit. Wenn man eine so schöne steife Brise zum Wegweiser hat, braucht man wahrhaftig keinen Kompaß und keinen Leuchtturm. Immer nur stramm gegen den Wind an, und ich mußte notwendig irgendwo bei unserem Nest in der Nähe ans Land kommen; und dann fand ich mich schon zurecht, auch bei Nacht und Schneegestöber.
Also los. Immer gegen den Wind und gegen den Schnee. Und der Schnee wurde immer dicker, und der Wind immer toller, und manchmal gab's einen Wirbel, daß mir Hören und Sehen verging: ich arbeitete wie ein gepeitschter Gaul und merkte doch kaum, daß ich vorwärts käme. Das Ausschreiten mit den Schlittschuhen war eine richtige Schinderei geworden.
Und endlich war ich so weit, daß ich gegen Sturm und Schneedecke nicht mehr aufkommen konnte; ich mußte die Eisen abschnallen und auf Schusters unbeschlagenem Rappen weiter traben.
Doch ich tröstete mich: nach meiner Rechnung mußte ich jetzt doch ganz nahe am Lande fein. Freilich war ich auch müde zum Umsinken, ich hatte mich gar zu sehr abgerackert mit dem tollen Anstürmen gegen das Wetter. Und nun Schritt vor Schritt durch den dicken Schnee zu patschen! Eine schöne Geduldsprobe das nach dem Fliegen und Sausen im Anfang! Dazu war es jetzt dunkle Nacht geworden, und der Schnee fiel immer ruhig weiter, unaufhörlich, ohne Ende, als wäre es darauf abgesehen, mich bis an den Hals einzuschneien.
Und immer noch kein Land. Das wurde nachgerade unheimlich. Ich hatte mich denn doch schändlich verrechnet in Betracht meiner Geschwindigkeit. Zwar in jedem Augenblick konnte das Ufer auf zehn Schritt nahe sein; sehen konnte ich es kaum, ehe ich es unter den Füßen fühlte. Diese Hoffnung, die sich bei jedem Schritt erneuerte, hielt mich noch eine Zeitlang aufrecht; aber sie täuschte auch bei jedem Schritt.
Und endlich packte mich's; siedendheiß lief es mir über den Rücken; es war kein Zweifel mehr: ich hatte die Richtung verfehlt. Der Wind – nun ja, warum sollte der Wind sich nicht gedreht haben?
Ich schnappte nach Luft, mehr noch vor Entsetzen als vor Müdigkeit, blieb stehen und witterte hinaus. Man kann es der Luft so ungefähr doch anfühlen, woher sie bläst. Nord und Ost war's nicht, das stand fest, dazu war sie zu feucht und zu weich – aber Südost konnte es sein so gut als Südwest: vielmehr es war höchstwahrscheinlich Südost, denn er fühlte sich so sonderbar warm an, fast wie richtiger Tauwind. Südost! Also richtig Südost! Wenn ich aber gegen Südost gegangen war, so blieb kein Zweifel: dann steckte ich jetzt ganz genau im richtigen geometrischen Mittelpunkt des Haffs. Also noch mindestens je zwei bis drei Stunden Fußwanderung nach den nächsten Küstenpunkten im Norden und Süden. Das hielt ich gar nicht mehr aus nach all' der Quälerei, selbst wenn ich diesmal wirklich den richtigen Kurs faßte, und selbst wenn ich überall festes Eis fand und nicht wieder auf eine knisternde Stelle geriet.
Eine tolle Verzweiflung schüttelte mich; blind und kindisch rannte ich im Zickzack hin und her wie eine Maus in der Falle – da plötzlich knackt es unter mir, weit stärker als je vorher; ich bilde mir ein, ich fühle, wie die Eisdecke sich biegt und senkt!
Wie ein Messerschnitt ging mir der nichtswürdige Ton durch den ganzen Leib.
Ich tue einen wilden Sprung vorwärts, und im selben Augenblick steht etwas Schwarzes vor mir auf wie eine dunkle Mauer.
Erst krieg' ich einen mächtigen Schreck, und das war sehr dumm von mir: denn alles, was hier nicht Schnee und Eis war, konnte für mich doch nur etwas Gutes sein.
Und es war etwas sehr Gutes: nämlich ein rechter, echter Haffkahn, mit Torf beladen. Der hatte also vor dem Frost noch durchzukommen versucht und war mitten auf dem Haff eingefroren.
Ich kletterte an Bord und kroch das lange Ding entlang bis zur Kajüte. Sie war verschlossen, und auf ein kurzes Klopfen kam keine Antwort. Selbstverständlich, die Leute konnten doch nicht auf dem Kahn geblieben sein, da das Eis seit Wochen stand. Also nahm ich eine tüchtige Klobe Holz und sprengte die Tür. Es war natürlich nicht bloß stockdunkel in dem kleinen Loch, sondern auch kalt und feucht wie im Eiskeller.
Herr des Himmels! Noch ein letzter Schreck – ich fand meine Streichhölzer nicht. Entsetzlich: da hatte ich nun Torf genug, um mir jahrelang einzuheizen, und konnte bei all dem Reichtum jämmerlich erfrieren. Und das zu guter Letzt, wo ich sonst gerettet war und friedlich wie auf einer sicheren Insel saß!
Aber das war zum Glück nur ein blinder Schuß: man hat bekanntlich die Streichholzschachtel immer in einer falschen Tasche, wenn man sie gerade sehr eilig braucht.
Na, ich fand sie am Ende doch noch, und dann fand ich gleich die anderen schönen Dinge, die dazu gehören: nämlich eine kleine Lampe über dem Tisch und sogar etwas Öl drin, und einen eisernen Ofen und Torf daneben und sogar Kienspäne, alles, als wenn's auf mich gewartet hätte. In einer Minute schlug die Flamme auf. O du grundgütiger Himmel, wie schön war das Feuer, wie schön, wie schön! Ich stöberte weiter umher; und jetzt hatt' ich Glück auf Glück. Es kommt immer gehäuft, Unglück und Glück. Erst lag in der Koje ein tüchtiger Schafpelz; merkwürdig genug, daß der Schiffer den hatte liegen lassen. Na, ich hatte nichts dagegen, ich zog ihn an, und mir fing an mollig zu werden. Dann in dem Wandschapp eine Flasche Rum, nicht die feinste Sorte, aber immer Rum, und eben erst angetrunken. Komischer Kerl, dacht' ich, der Schiffer! So was dazulassen, wenn man den langen Weg übers Eis vor sich hat! Ein ordentlicher Seefahrer hätt' das nie übers Herz gebracht – aber na, so'n Kahnfriedel!
Ich setzt' einen kleinen Topf auf den Ofen, tat Schnee hinein, und bald war mein Grog fertig. Aber steif wie nie, Halb und Halb ist Kindermilch dagegen. Und dann setzt' ich mich auf die Bank daneben und taute inwendig langsam auf. Und wie wohl es einem Menschen um die Seele 'rum werden kann bei Grog und Feuer und Schafpelz, das kann bloß der nachfühlen, der gerade so ein kleines Sommervergnügen wie ich hinter sich hat.
Da saß ich also in meiner Gemütlichkeit, duselte vor mich hin und dacht' an viel und dacht' an gar nichts.
Wenn jetzt einer hier vorbeikäm', dacht' ich, und säh' den fidelen Rauch aus dem ollen eingefrorenen Torfkahn aufsteigen! Aber hat sich was mit dem Vorbeikommen. 'Ne Landstraße ist hier gerade nicht und ein Aussichtspunkt auch nicht. – Und wenn der Kahnfriedel selber käm'? Ob er wohl hauen würd'? Ich denke, nein; und wenn, dann haut' ich wieder. – Und was mag denn wohl jetzt die Uhr sein? – Richtig, sieben Uhr auf'n Knopf. Also jetzt hat sich der Schlingel, der Heinz, gerade aufgewärmt von der Postreise und geht über die Brücke und das Bollwerk entlang zu unserer kleinen Hersilie. Und jetzt tritt er ein, und Hersilie, ganz in Schwarz, aber sehr schön, erschrickt und wird rot und gibt ihm die Hand; und er küßt die Hand und wird auch rot und stammelt etwas; und sie wird noch röter und schlägt die Augen nieder und nickt ganz leise; und er faßt sie rundum mit aller Macht und küßt sie auf die Stirn und den Mund, und sie weint, und er weint auch, und sie lacht, und er lacht auch –
So deutlich sah ich die ganze Geschichte vor mir, richtig wie ein lebendes Bild oder ein Schauspiel. Aber das war nun ein reines Wunder Gottes dabei, daß ich das mit ansehen oder mir doch einbilden konnte, ohne aus der Haut zu fahren! Wer mir das vor ein paar Stunden gesagt hätte! Aber es war so: ganz ruhig blieb ich und gemütlich, und fiel mir gar nicht einmal ein, daß ich doch eigentlich aus keinem anderen Grunde hier auf dem Torfkahn saß, als weil ich eben diesem Heinz eben dieses Mädchen abjagen wollte.
Küßt ihr euch nur! dacht' ich jetzt recht seelenvergnügt, und bildet euch wunder was für Süßigkeiten dabei ein: meinen Schafpelz und meinen Ofen und meinen steifen Grog habt ihr doch nicht! – Und wenn jetzt der Teufel selbst in Person zu mir gekommen wär' und hätt' gesagt: Nimm du die schöne Hersilie und gib dem Heinz dafür die drei Stücke! – »Den Teufel auch,« hätt' ich gerufen, »nicht eins von den dreien geb' ich her! Und wie werd' ich denn meinem alten Kameraden seine Liebste abjagen? Pfui Teufel! So ein Schuft bin ich mein Lebtag nicht gewesen. Jedem das Seine! Ihm die Braut und mir die dreifache Heizung, das ist christlich und kameradschaftlich geteilt.«
So war's und so blieb's. Es ist die ganz buchstäbliche Wahrheit, mag es klingen wie es will: meine ganze Liebe und meine ganze Eifersucht waren alle beide im Haffeis eingefroren wie ein alter Torfkahn. Und sind auch festgefroren geblieben für Zeit meines Lebens. An die hübsche Hersilie hab' ich nie mehr anders gedacht, als an andere nette Mädchen; aufgeregt hat's mich nicht mehr. Von diesen Frühlingsgefühlen hat mich die lustige Badereise kuriert: eine Pferdekur ist's gewesen, aber geholfen hat's.
Ja, aber nu: wie ich wieder 'rausgekommen bin aus dem alten Torfkahn? Na, das war auch man so; und 'ne besondere Sache war's.