Kitabı oku: «Gabriel», sayfa 2
Notizen
Ich glaube, dass ich zu viele Konsekutivsätze verwende.
18. Dezember 2009, 15:05 Uhr
»Mmmm … Das Zitroneneis hier ist echt am besten.«
»Quatsch, Zitrone ist doch viel zu sauer! Es geht nichts über Schokolade, so viel ist sicher!«
Sonja sah mich an, als hätte ich gerade bezweifelt, dass der Papst an Gott glaube. Ohne das geringste Verständnis. Dann schüttelte sie lächelnd den Kopf und gab mir einen kurzen Kuss. Ihre Lippen schmeckten nach Zitroneneis (wonach sonst?!) und plötzlich mochte ich den Geschmack. »Du hast ja keine Ahnung!«, meinte sie gespielt hochmütig.
»Wieso, weil ich Schokolade besser als Zitronen finde?«
»Genau!«
»Gerade eben fand ich Zitronen tatsächlich sehr geschmackvoll!«
»Gerade eben?«, fragte sie erstaunt. Dann trat in ihre Augen das Lächeln der Erkenntnis, welches ich so sehr an ihr liebte. Sie beugte sich zu mir und küsste mich noch mal, diesmal länger.
»Immer noch lecker?«, fragte sie, als sie sich von mir löste.
»Klar. Es wird von Mal zu Mal besser!« Sie lächelte wieder und mein Herz sprang in meinen Hals, wo es sich an der Aorta festklammerte.
Ich liebte Sonja. Nein, ich war nicht verliebt, ich liebte sie. Anfang dieser Woche war ich aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte bisher jeden Tag mit ihr verbracht. Und immer war ich traurig, wenn der Tag vorbei war. Und glücklich, weil ich mir sicher war, dass der nächste genauso schön, wenn nicht gar schöner werden würde.
Heute war Freitag. Ein perfekter Dezemberfreitag, mit allem, was dazu gehört: Eis, Schnee und Sonja.
Nach dem Eis essen gingen wir ins Kino. Eine Weihnachtsgeschichte. Natürlich in 3-D. Sonja sah mit ihrer Brille wunderschön aus. Wir saßen in der letzten Reihe, alberten herum, schossen mit unseren Handys Fotos von uns mit den 3-D-Brillen und lachten so laut, dass sich die Leute vor uns genervt umdrehten und uns ein kleiner Junge aus Rache mit Popcorn bewarf. Wir warfen zurück, trafen dabei weitere Menschen am Kopf, zettelten ein wahres Popcorngemetzel an und wurden schließlich rausgeworfen, weil sich irgendein Spießer über uns beschwert hatte. Ich bin noch nie aus einem Kino geschmissen worden. Trotzdem war der Tag perfekt. Sonja war perfekt. Wie immer. Mit ihr würde ich mir sogar das Weihnachtsfest der Volksmusik anschauen und es wäre in diesem Moment der schönste Augenblick auf Erden. Wie jeder mit ihr.
Über meinen Traum als Engel haben wir nicht mehr gesprochen. Er war mir egal geworden. Denn ich glaubte erkannt zu haben, dass die wahre Schönheit des Lebens direkt vor mir lag. Dass Sonja sie verkörperte. Wozu brauchte ich Flügel, wenn jeder Tag mit ihr mich direkt in den siebten Himmel trug? Wozu brauchte ich Adrenalin, wenn ein einziger Blick von ihr mein Herz zum Aussetzen brachte? Und wozu brauchte ich die Vogelperspektive, wenn ich mit ihr zusammen die gesamte Welt in warmen, leuchtenden Farben sah? Nein, ich brauchte keinen Engel in mir. Ich brauchte nur Sonja.
Und so lebten wir glücklich und zufrieden bis an unser Lebensende. Und hier ist die Geschichte vorbei.
Wie oft habe ich mir gewünscht, dass es so gelaufen wäre. Wie oft habe ich mir gewünscht, in einem Märchen zu leben. Doch leider lebe ich in der Realität. Und die verlief anders.
In Wahrheit lebten wir tatsächlich glücklich und zufrieden. Wenn man das so sagen kann. Die Formulierung fand ich schon immer ein wenig eigenartig.
Für uns existierten nur wir zwei, alles andere war uns egal, alles und jeder. Luft und Liebe – es stimmt tatsächlich, mehr brauchten wir nicht.
Ja, wir waren glücklich. Bis zu jenem Tag.
11. Juni 2010, 14:01 Uhr
Es war ein Freitag. Ausgerechnet. Ein schöner, warmer, sonniger Freitag.
Ich saß auf unserem flachen Garagendach, ließ die Beine baumeln und starrte in den wolkenlos blauen Himmel. Vor mir erstreckten sich die Hochhäuser Frankfurts dreckig, grau und drohend. Deshalb starrte ich nach oben. Meine Mutter hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und mich hysterisch angebrüllt, ich solle runterkommen, das Dach würde einbrechen oder ich würde das Gleichgewicht verlieren, ich sei lebensmüde. Ich musste lächeln. Lebensmüde. Im Moment gab es für mich nichts Schöneres als das Leben. Das Leben mit Sonja. Außer heute.
Meine Eltern waren nicht da. Auf Geschäftsreise. Wo auch sonst? Ich erwähnte ja bereits: Sie werden in dieser Geschichte keine Rolle spielen.
Aber dass sie weg waren, fand ich nicht schlimm. Dass Sonja weg war, umso schlimmer. »Mädelstag«. Toll. Ich konnte es ja verstehen. Irgendwie. Seitdem wir zusammen waren, hatte sie immer weniger Zeit mit ihren Freundinnen verbracht. Und das wollte sie jetzt nachholen. An einem Tag. Gutes Gelingen!
Ich glaube, ihre Freundinnen mochten mich nicht besonders. Die Art, wie sie mich ansahen, wenn ich mit Sonja über den Pausenhof ging. Wie sie tuschelten, sobald wir vorbei waren und dachten, wir merkten es nicht. Mir war das egal. Sonja, glaube ich, nicht. Aber sie redete nie darüber. Und ich wollte es auch nicht tun.
Ich hatte keine Freunde. Scheiße, wie abgedroschen mitleiderregend dieser Satz klingt. Soll er aber nicht. Ich hatte keine und auch nie das Verlangen, welche zu brauchen. Seit letztem Dezember erst recht nicht. Und im Moment war ich sogar ganz froh drum.
Jedenfalls saß ich auf dem Dach, dachte an Sonja und wurde trotz des schönen Tages immer trübsinniger, als plötzlich mein Nacken schmerzte. Ich ließ den Blick also nach unten schweifen, sah die dreckige Stadt, die Häuser – und einen Mann. Er stand auf einem Häuserdach, ein paar Straßen entfernt. Gefährlich nah am Rand. Als gehorchte ich einem fremden Impuls, beugte ich mich weiter nach vorne, um ihn besser sehen zu können – und verlor das Gleichgewicht. Unter mir war nur noch Luft, dicke, schwere Luft, so dick, dass sie mich eigentlich hätte auffangen müssen. Aber sie tat es nicht.
Ich fiel. Mein Herz lag reglos irgendwo in meiner Magengegend. Bilder schossen an meinen Gedanken vorbei, die versuchten, sie festzuhalten, es aber nicht schafften. Ich wollte sie ordnen, meine Gedanken ordnen, es gelang mir nicht. Sie purzelten übereinander und es entstand das reinste Chaos, ein großer, unorganisierter Berg aus Gedankenchromatin. Der Boden kam näher. Na ja, immerhin hatte ich ein schönes Leben!, meldete sich ein Gedanke, der es scheinbar geschafft hatte, sich aus dem Gewirr zu befreien. Ich schloss die Augen und wartete auf mein Ende.
Es kam nicht. Eine gefühlte Ewigkeit lang hatte ich gewartet. Waren es Sekunden? Minuten? Stunden? Ich hätte es nicht sagen können. Als ich die Augen wieder öffnete, saß ich auf dem Dach. Unbewegt. Wie zuvor. Was war passiert? Träumte ich? Hatte ich geträumt? Ich blickte zu dem Haus ein paar Straßen weiter. Der Mann stand noch immer da. Unbewegt. Starrte in den Abgrund. Dann sprang er. Mein Herz zog sich tiefer in Richtung Magen zurück.
Bevor ich wusste, was ich tat, sprang auch ich vom Dach, breitete meine Flügel aus und schwebte lautlos hinüber. Packte den Mann unter den Armen und flog mit ihm auf sein Dach zurück, ohne meine neue Kraft zu bemerken. Ließ ihn los und setzte mich. Im Schneidersitz beobachtete ich, wie der Mann ein wenig torkelte, aber ein paar Meter weit vom Rand entfernt blieb. Ein paar Meter Sicherheit.
»Wie heißt du?«, fragte ich ruhig.
»Was?« Sein Gesicht hatte eine ungesund grünliche Farbe angenommen.
»Wie du heißt.«
Zuckend wandte er den Kopf. Blickte mir unsicher in die Augen. »Marc.« Seine Stimme schwankte.
Ich bemühte mich um ein beruhigendes Lächeln, was mir merkwürdigerweise auch recht gut gelang.
»Marc. Kannst du mir einen Gefallen tun? Kannst du dich zu mir setzen und mir erzählen, was passiert ist? Warum du dich umbringen wolltest?« Aufmunternd klopfte ich neben mir auf den Boden. Entschuldige, ich meinte, auf das Dach.
Marc reagierte nicht. Wie in Trance sah er zum Rand des Daches, zu der Leere, die sich dahinter erstreckte. Dann wieder zu mir.
»Ich träume«, nuschelte er kopfschüttelnd. »Ich träume.« Trotzdem ging er die paar Schritte in meine Richtung und setzte sich neben mich. Ich reichte ihm die Hand. »Ich bin Gabriel. Schön, dich kennenzulernen.« Als Marc nach einigem weiteren Zögern endlich meine Hand ergriff, schien er fast überrascht, sie berühren zu können. Ich übrigens auch.
»Also, Marc. Was ist geschehen?«, fragte ich, als er auch nach ein paar Minuten keine Anstalten machte zu sprechen.
»Ich … Es war gestern.« Seine Stimme stockte. »Meine Freundin, sie war … sie war schwanger. Aber vor einer Woche, da gab es Komplikationen. Sie hat das Kind verloren.« Er zuckte. »Sie hat mein Kind verloren. Vorgestern ist sie …« Seine Lippen zitterten und eine einzelne Träne löste sich aus dem linken Auge. Ich beobachtete, wie sie über seine Wange glitt. Langsam. Lautlos. »Vorgestern ist sie gesprungen. Hier.«
Mir stockte der Atem. Ich erinnerte mich an die Zeitungsmeldung, die ich noch heute Morgen eilig überflogen hatte, und schluckte.
»Tut mir leid«, flüsterte ich traurig.
Marc nickte nur heftig. »Wer bist du?«, fragte er leise.
»Gabriel.« Ich bemühte mich noch mal um ein leichtes Lächeln, doch jetzt gelang es mir nicht mehr; mein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse. Marc schien es nicht zu bemerken. Er starrte wieder gedankenverloren zum Abgrund vor uns.
»Marc. Du brauchst Hilfe«, begann ich vorsichtig.
Er lachte verzweifelt. »Klar brauch ich Hilfe! Ich sitze auf einem Dach und rede mit dem Erzengel Gabriel!«
»Der bin ich nicht!«, unterbrach ich ihn sofort. Er schüttelte nur resignierend den Kopf und begann, mit dem Oberkörper leicht vor und zurück zu wippen. Erst jetzt fiel mir auf, wie jung er war. Wahrscheinlich um die fünfundzwanzig.
»Marc. Du machst einen Fehler. Was dir passiert ist, ist schrecklich, keine Frage. Aber das ist nicht das Ende. Ich weiß, es fällt nicht schwer das zu sagen, aber ich … Ich kenne einen guten Psychiater. Wenn du willst, bringe ich dich gleich hin.«
Marc lachte wieder. Es klang schrecklich traurig. »Nach diesem Gespräch hier brauche ich wirklich einen.«
Ich stimmte in sein Lachen ein und hoffte, es ein wenig aufhellen zu können, aber es klang nur wie das kehlige Gelächter zweier Wahnsinniger. Er drehte langsam den Kopf. »Der beste Psychiater ist der Tod«, sagte er ruhig. Dann stand er blitzschnell auf, rannte die paar Schritte zum Dach und sprang.
Ich sah alles in Zeitlupe. Plötzlich war ich hinter ihm. Schlang meine Arme um seinen schmalen Körper. Und fiel, eng an ihn gepresst, mit in den Abgrund.
Wieder ging alles ganz schnell, wieder dachte ich nicht nach. Ich breitete meine Flügel aus, flog steil nach oben. »Du bringst dich nicht um!«, schrie ich gegen den Wind. »Hörst du? Du bringst dich nicht um!« Als Marc nichts erwiderte, schüttelte ich ihn und rief: »Versprich es mir!«
»Ja …«, kam endlich die leise Antwort. Fast trug der Wind sie davon. »Ich verspreche es.«
»Gut.« Ich nahm wieder Kurs auf den Boden, landete vor einem kleinen Backsteinhaus. Das weiße Metallschild blitzte so hell, dass es in meinen Augen schmerzte. Praxis Dr. Ludwig Finke, Psychiater. Daneben der kleine, runde Klingelknopf. Marc blinzelte. Die grüne Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und hatte einem fahlen Grauton Platz gemacht. Er sah plötzlich um zehn Jahre gealtert aus. Aber er lächelte. Zwar nur ganz leicht und nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber ich hatte es gesehen. Sicher.
»Danke«, sagte er ruhig, dann drückte er die Klingel.
Ich hatte einem Menschen das Leben gerettet. Natürlich weiß ich, wie abgedroschen sich das anhören muss. Ich als der große, coole Held, der alles weiß und den nichts und niemand aufhalten kann. Der immer bereit ist, das Gute zu tun. Dessen moralische Werte über allem stehen. Dem alles gelingt, obwohl er fast nichts dafür tut. Doch so ist es leider nicht.
Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist, als ich damals Marc rettete. Ich stand irgendwie neben mir und alles, was ich tat, tat ich nicht bewusst. Ich sah mir nur dabei zu, wie ich es tat. Es ging alles so schnell. Vielleicht hat »Es« die Kontrolle übernommen, das große Unbekannte (nein, nicht Stephen Kings Clown!). Oder einfach mein Unterbewusstsein. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich kein Superheld oder so was bin. Einfach, weil ich dafür zu feige wäre. Weil ich kein übergeordnetes moralisches Wertesystem habe. Weil ich die Bösen in Filmen und Büchern schon immer interessanter fand als die Guten. Es ist nur so: Wenn du eine ungerechte Situation siehst und weißt, dass das Leben eines Menschen in deiner Hand liegt, nur in deiner, und dass es dir ein Leichtes wäre, diese Hand auszustrecken und das Leben zu retten – würdest du es dann nicht tun?
Ich glaube und hoffe nicht, dass ich ein Held bin. Ich bin einfach nur ein Mensch wie du. Mit einem kleinen Zusatz. Über den ich in der folgenden Nacht viel nachgedacht habe.
12. Juni 2010, 02:13 Uhr
Ich lag in meinem Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und konnte nicht schlafen. Wollte nicht schlafen. Starrte an die andere Decke, die über mir. Sah, wie eine große Spinne langsam zwei kleinere fraß. Ein ekelhafter, kalter Schauer kroch über meinen Rücken, stagnierte in meinem Nacken und ich wandte den Blick ab.
Ich war also ein Engel. Der Traum im Krankenhaus hatte mir die Wahrheit offenbart. Deshalb hatte ich keinen Puls. Aber ein Herz. Gut. Schön. Aber wie war das möglich? Es gab keine genmanipulierte Spinne, die mich gebissen, keinen Zaubertrank, den ich getrunken hatte, nichts. Warum ich? Warum ausgerechnet jetzt? Was hatte sich verändert?
Ich war doch ein ganz normaler Mensch. Ich hatte Eltern, wie jeder … Meine Eltern. Ich war adoptiert. Wer waren meine leiblichen Eltern? Und warum hatten sie mir den Namen Gabriel gegeben?
Moment … Engel sind doch tot, oder?!
Und plötzlich wusste ich es. Ich konnte nicht sagen, woher ich es wusste, es war einfach so da. Das Wissen um die Wahrheit. Und die Gewissheit, dass diese auch wirklich wahr war. So sicher, wie sich die Erde um die Sonne dreht. Oder wie die Welt ohne Liebe trostlos wäre. Oder wie der Papst an Gott glaubt. Oder wie ich Sonjas Küsse am liebsten mag, wenn sie nach Zitrone schmecken. Ich wusste es einfach.
Ich wusste jetzt, dass ich tot war. Irgendwann einmal musste ich gestorben sein. War ein Engel geworden. Und dann kam ich zurück auf die Erde. In der Gestalt eines Menschen. Wurde sozusagen wiedergeboren. Ohne Gedächtnis. Doch meine Fähigkeiten behielt ich bei. Vielleicht waren sie jetzt ausgebrochen, weil ich ursprünglich mit fünfzehn gestorben war. Vielleicht auch nur einfach so. Weil die Zeit reif war. Weil ein bestimmter Moment sie ausgelöst hatte. Letztendlich ist es egal. Wichtig ist, dass ich diese Fähigkeiten habe. Und darum weiß.
Heute Nachmittag auf dem Dach war ich wahrscheinlich, als ich fiel, unwillkürlich zurückgeflogen. Zu irritiert, um es zu merken. Einfach nach Instinkt. Klingt bescheuert, ich weiß, aber wie soll es sonst gewesen sein?
Die Frage ist: Wenn ich schon tot bin – kann ich noch mal sterben? Den Unfall im Dezember hatte ich unbeschadet überlebt. Den Sturz vom Dach ebenso. Ich wollte Gewissheit. Ich brauchte sie. Bevor ich wusste, wie mir geschah, stand ich erneut auf dem Dach und sprang. Im Schlafanzug. Kontrollierte meinen Körper, um nicht wieder automatisch meinen Sturz abzufangen. Ich sagte ja, dass ich feige bin. Ich weiß auch nicht, woher ich plötzlich den Mut nahm. Vielleicht bekam ich ihn gratis zu meinen Flügeln. Vielleicht war ich auch einfach nur wahnsinnig.
Ich kam auf dem Boden an und wurde ohnmächtig, noch bevor ich den Schmerz wahrnehmen konnte. Diesmal begleitete kein Traum meine Besinnungslosigkeit.
Der Schmerz holte mich ins Leben zurück. Er war überall. Meine Beine, meine Hände, mein gesamter Körper. Alles war ein einziger, brennender – Fleck. Ein Fleck namens Körper. Scheiße, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Nichts. Warum dachte ich neuerdings nicht mehr? Ich versuchte, meine Beine zu bewegen. Es ging nicht. Ging einfach nicht. Scheiße, wahrscheinlich waren beide gebrochen. Der Schmerz war überwältigend. Ich hob die Hand vor meine Augen und erschrak. Sie war vollkommen mit Blut bedeckt. Über und über. Mir wurde schlecht und ich verlor endlich wieder die Besinnung.
Als ich erneut zu mir kam, sah ich den Sternenhimmel. Er war wunderschön. Ich lag auf dem Rücken und betrachtete einen Moment lang die Sterne, die Welt um mich herum vergessend, einfach nur so daliegend und den Augenblick genießend. Glaubte den Nordstern zu erkennen. Den großen Wagen. Aber vielleicht war es auch etwas vollkommen anderes. Kann man nicht alle Sterne irgendwie zu einer Art Wagen verbinden, wenn man unbedingt will?
Moment – was war passiert? War ich tot? Ich musste unwillkürlich lächeln. Natürlich war ich tot. Erst jetzt fiel mir auf, dass etwas fehlte. Der Schmerz fehlte. Ruckartig richtete ich mich auf, blickte an mir herab. Alles heil. Ein paar Kratzer und blaue Flecken hatte ich noch. Das war alles. Beinahe konnte ich zusehen, wie auch diese verschwanden. Als hätte jemand die Zeit beschleunigt. Nur für mich. Meine eigene kleine, beschleunigte Zeit. Die alle Schmerzen vergehen ließ, bevor ich mir sicher sein konnte, sie gefühlt zu haben.
So schmerzhaft diese Erfahrung auch gewesen sein mochte, ich hatte eines herausgefunden – ich konnte nicht noch mal sterben. Mein Körper heilte in Sekundenschnelle. Schmerzen hingegen empfand ich sehr wohl. Wie musste sich erst der Schmerz anfühlen, wenn ich eigentlich schon längst hätte tot sein müssen? Wenn ich mich zum Beispiel erschießen würde. Mir wurde wieder schlecht und ich beschloss, den Gedanken zu verdrängen. Ich war nicht unverwundbar. Nur unsterblich.
Wie war es mit dem Altern? Würde ich auch ewig jung bleiben? Oder würde ich altern, ganz normal, nur niemals sterben? Oder würde ich tatsächlich sterben, aber erst, wenn die Zeit reif war? Aber können Tote überhaupt sterben? Die erste Möglichkeit gefiel mir irgendwie am besten, obwohl sie mich an einen dieser neumodischen, theatralischen Vampirfilme erinnerte. Aber wie dem auch sei, ich würde es mit der Zeit herausfinden. Zeit hatte ich ja jetzt genug.
Plötzlich wusste ich, dass mir die ganze Welt offenstand. Dass ich die große Freiheit hatte, von der andere nur träumten. Dass ich genug Zeit hatte, herauszufinden, was ich wollte. Wahrhaft alle Zeit der Welt.
Notizen
Puzzle
Das Puzzle hat 5.000 Teile. Ich weiß nicht, wie lange ich daran gesessen habe – es kommt mir vor wie mindestens ein Jahr, vielleicht war es auch nur eine Woche. Oder ein Tag? Eine Stunde? Kann sein, theoretisch; praktisch wohl eher nicht.
Jedenfalls hatte ich es geschafft, 4.999 Teile mehr oder weniger passend zusammenzufügen, es entstand ein Bild. Ich bin kein Typ der rohen Gewalt, soll heißen: Ja, die Teile passten tatsächlich zusammen, ich hatte sie nicht verbogen oder brutal ineinander verkantet.
Deutlich war nun zu erkennen, dass ein Bild entstanden war, doch was es genau darstellen sollte – keine Ahnung. Nur noch ein Teil fehlte, trotzdem war das Motiv nicht zu erkennen, es hätte alles sein können, alles und nichts. Eine Windmühle? Eine Stadt? New York vielleicht? Oder ein Dorf? Ein Meer, das Meer? Abstrakte Farben? Ich wusste es nicht. Müsste ich die Farbe des Puzzles beschreiben, ich hätte es nicht gekonnt.
Nein, auf der Packung war es nicht vollständig abgebildet. Nein, ich habe die Packung nicht mehr, ich kann mich nicht mehr an sie erinnern, wahrscheinlich hat sie nie existiert.
Wo das letzte Teil ist? Hier in meiner Hand. Warum ich es nicht endlich einfüge? Nun, ich habe es versucht. Schon seit einer Stunde versuche ich es, vielleicht auch schon seit einem Jahr. Ich habe rumtelefoniert und niemanden erreicht. Das Puzzle ist ausverkauft, ich kann es nicht mehr bekommen, vielleicht hat es ebenfalls nie existiert. Ein Puzzle, eine Schachtel – was macht das für einen Unterschied?
Es passt nicht. 4.999 Teile passen, eines nicht. War denn alles umsonst? Sind alle 4.999 anderen Teile nichts wert ohne das eine, letzte? Ich könnte eine Ecke abschneiden, dann würde es halbwegs passen und wenigstens nicht verloren in meiner Hand liegen. Aber wozu?
Egal, wie ich es drehe und wende; es passt nicht.
Produktionsfehler.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.