Kitabı oku: «a tempo - Das Lebensmagazin»
1 – über a tempo
a tempo - Das Lebensmagazin
a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.
a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.
Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.
2 – inhalt
1 – über a tempo
2 – inhalt
3 – editorial Wenn ich schon lebe ... von Jean-Claude Lin
4 – im gespräch Unternehmertum ist ein mächtiger Hebel Sabine Bohnet-Jaschko im Gespräch mit Ralf Lilienthal
5 – augenblicke Tim und Merlin. Über eine Freundschaft am Abgrund von Ralf Lilienthal
6 – verweile doch ... Birne à la Brigitte von Brigitte Werner
7 – erlesen «Die Chance ihres Lebens» von Agnès Desarthe gelesen von Albert Vinzens
8 – thema «Dass die Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.» Zum 250. Geburtstag des Philosophen G.W.F. Hegel von Günther Dellbrügger
9 – mensch & kosmos Feuer am Himmel von Wolfgang Held
10 – das gedicht Hölderlin 8 / 12
11 – kalendarium August 2020 von Jean-Claude Lin
12 – der himmel auf erden Ein Tag am See von Christian Hillengaß
13 – erfinder & visionäre Ignaz Philip Semmelweis. Händewaschen, Bitte! von Daniel Seex und Wolfgang Held
14 – sprechstunde Covid-19 als Apokalypse von Markus Sommer
15 – warum ich ohne kafka nicht leben kann Wild und weise. Dylan Thomas «Geh nicht gelassen in die gute Nacht» von Elisabeth Weller
16 – kulturtipp Ein Bild von einem Garten von Christian Hillengaß
17 – aufgeschlagen Marietta und der Bär von Jan Ormerod & Freya Blackwood
18 – wundersame zusammenhänge Der Himmel über uns von Albert Vinzens
19 – literaratur für junge leser «Als ich die Pflaumen des Riesen klaute» von Ulf Stark, gelesen von Simone Lambert
20 – mein buntes atelier Molly Sprenkelnas taucht ab von Daniela Drescher
21 – sehenswert Das vergessene Väterliche von Konstantin Sakkas
22 – weiterkommen Wie entstehen meine eigenen Gedanken? von Michael Stehle
23 – sudoku & preisrätsel
24 – tierisch gut Von wegen Muckies! von Renée Herrnkind
25 – suchen & finden
26 – ad hoc Dino oder Gingko? von Uchris Schmidt-Lehmann
27 – bücher des monats & werbeanzeigen
27 – impressum
3 – editorial
wenn ich schon lebe...
Liebe Leserin, lieber Leser!
«Himmlische Liebe! wenn ich dein vergäße –», beginnt ein Entwurf Friedrich Hölderlins mit dem Titel «Sapphos Schwanengesang» aus den Jahren 1798/99. Da ist er also noch keine dreißig Jahre alt. Und in diesem zweiten Entwurf zu dem Gedicht, das später den Titel «Tränen» bekommen sollte, heißt es nach einer offen gelassenen Lücke:
Wenn von der süßen Jugend immermahnend die Erinnerung nur mir blieb?
Ja, was dann? – wie wäre es um den jungen Dichter bestellt, der sich hier die Stimme der griechischen Dichterin Sappho leiht? Sie lebte im 7. Jahrhundert vor Christus in Mytilene auf der Insel Lesbos, bevor sie von dort verbannt wurde und in Sizilien Zuflucht suchte, ehe sie nach Lesbos zurückkehren durfte. In den wenigen erhaltenen Gedichten, Oden und Hymnen und sonstigen Fragmenten von ihr besingt sie die Schönheit ihrer Freundinnen. Bei Hölderlin heißt es in dem Entwurfsfragment nur noch:
Ach!
Eines wüßt ich
Ja, was wüßte Sappho, alias Hölderlin dann? Der junge Dichter sucht noch nach seiner Bestimmung, nach seiner Stellung im Leben. Und er spürt, was ihm verloren ging, wenn er die himmlische Liebe vergäße. – Nur wenige Jahre älter ist Tim Quiter, von dem und von seinem Assistenten Merlin Welsch in dieser Ausgabe unseres Lebensmagazins erzählt wird.
Wenn ich schon lebe, setzt Tim Quiter an bei der Befragung seine Existenz. Ja, was dann? Wie viel schwingt nicht an und mit in diesen vier Wörtern!? Wie unterschiedlich könnten die Fortsetzungen dieses begonnenen Satzes bei einem jeden von uns lauten! Denn selbst wenn wir die gleichen Wörter zur Vervollständigung des Satzes wie Tim Quiter verwenden würden, wir gäben ihnen sicherlich eine je individuell verschiedene Bedeutung. Das Leben auf dieser Erde können wir nicht hoch genug schätzen. Das lässt die «himmlische Liebe» wohl in uns spüren.
Auf dass wir sie also nicht vergessen, diese himmlische Liebe auf Erden in unserem Leben,
grüßt Sie von Herzen in diesem hochsommerlichen Monat August, Ihr
Jean-Claude Lin
4 – im gespräch
UNTERNEHMERTUM IST EIN MÄCHTIGER HEBEL
Sabine BOHNET-JOSCHKO
im Gespräch mit RalF Lilienthal
Fotos: Wolfgang Schmidt
Die Universität Witten/Herdecke nahm 1983 als erste private deutsche Universität den Lehrbetrieb auf. Neben Human- und Zahnmedizin, Psychologie und Pflegewissenschaft werden hier auch Management und Unternehmertum sowie Politik, Philosophie und Ökonomik (PPÖ) als Studiengänge angeboten. Unsere Interviewpartnerin Prof. Dr. Sabine Bohnet-Joschko ist Inhaberin des Lehrstuhls für Management und Innovation im Gesundheitswesen der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft.
Ralf Lilinethal | Frau Bohnet-Joschko, ein Schwerpunkt Ihrer eigenen Lehrtätigkeit ist der Bereich des Social Entrepreneurships – welchen Stellenwert hat dieses Thema für Ihre Studierenden?
Sabine Bohnet-Joschko | Ganz gleich, ob es um den Klimaschutz geht, um Bildung, Gesundheit oder Inklusion – viele junge Menschen wollen heute angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit einen Beitrag leisten und «die Welt retten». Für kreative Köpfe mit Gestaltungswillen ist deshalb die Verbindung ihres Fachstudiums – Management, Medizin oder Psychologie – mit wirksamem sozial-ökologischem Engagement selbstverständlich. Ob als Mitglied einer freien Initiative oder als Social Entrepreneur, indem unternehmerische Fähigkeiten und Logiken zur Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme eingesetzt werden.
RL | Wie wird das Thema in Ihrer Fakultät unterrichtet?
SBJ | Wir arbeiten seminaristisch mit Fallbeispielen und diskutieren mit Sozialunternehmern über die Chancen und Grenzen der verschiedenen Konzepte. Ein Beispiel ist Tausche Bildung für Wohnen, ein mit vielfach ausgezeichnetes Sozialunternehmen, das sich um Kinder in benachteiligten Stadtteilen kümmert und ihnen Bildungspaten – so etwas wie große Geschwister – an die Seite stellt. Durch Lernförderung und gemeinsame Aktivitäten können die Kinder ihr Potenzial entfalten, während die Bildungspaten dafür mietfrei wohnen und sich in den Brennpunkt-Stadtteilen etwas zum Guten ändert. Die Gründerin Christine Bleks hat an unserer Universität studiert, sie kommt regelmäßig vorbei und berichtet im Seminar sehr inspirierend von ihrem sozialunternehmerischen Engagement. Ein besonders beliebtes Format ist auch das Social Entrepreneurship Camp. In nur drei Tagen entwickeln studentische Teams die Eckpunkte eines sozialunternehmerischen Geschäftsmodells, beispielsweise Supermärkte mit eigenem Vertikalanbau von Obst und Gemüse oder Fitnessmatten und Gartenmöbel aus recycelten Altreifen. Die Ergebnisse werden zum Abschluss dann vor Experten präsentiert und mit ihnen diskutiert.
RL | Drei Tage für eine «Unternehmensgründung» – das ist ambitioniert!
SBJ | Die Studierenden genießen die Intensität des Prozesses. Einige sind mit dieser Art zu arbeiten auch schon vertraut. Etwa durch die «Gründerwerkstatt», einem Lehrangebot, das nach dem gleichen Prinzip funktioniert, aber über ein ganzes Semester geht und eine klassische Business-Gründung zum Thema hat. Denn wer sein eigenes, wenn auch nur fiktives Unternehmen plant, für den sind Strategie, Marketing und Controlling nicht nur prüfungsrelevant, sondern unmittelbar nützlich. Manchmal wird dann auch tatsächlich gegründet: Apollon unterstützt die Verbreitung von Solarenergie, Quick Doctor vermittelt kurzfristig freigewordene Arzttermine. Das sind zwei studentische Teams, die heute am Entrepreneurship Zentrum Witten noch während des Studiums ihre Gründungsideen in die Tat umsetzen.
RL | Warum diese frühe Orientierung am Unternehmertum? Ihre Absolventen könnten sicher auch als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in bestehenden Betrieben Karriere machen.
SBJ | Das hat sehr viel mit unserem Selbstverständnis zu tun. Beruflicher Erfolg und gute Karriereverläufe sind wichtig. Aber wir fördern vor allem die fachliche und persönliche Entwicklung von jungen Menschen, die Verantwortung übernehmen und unsere Gesellschaft mitgestalten wollen. Unternehmertum ist ein mächtiger Hebel, mit dem man Dinge bewegen und verändern kann. Das zeigt sich besonders gut bei Gründungen, weil hier Neues durchgesetzt und mit Beharrlichkeit zum Erfolg gebracht werden soll. Für uns sind Gründungsveranstaltungen – ob klassisch oder sozialunternehmerisch – deshalb vor allem didaktisch wertvoll. Denn in jedem Studierenden steckt unternehmerisches Potenzial, das spielerisch geweckt und gefördert werden kann. Unternehmerische Orientierung heißt dann: ständig hinterfragen, neu ansetzen, nicht aufgeben, sich voll und ganz einsetzen, andere mitnehmen, immer weiter lernen und anwenden, für die eigene Überzeugung eintreten. Wenn unsere Studierenden die Universität verlassen, können sie diese Fähigkeiten bei der Umsetzung eigener Gründungsvorhaben ebenso gut einsetzen wie bei der Übernahme von Verantwortung in bestehenden Unternehmen und Institutionen, egal ob gewinnorientiert oder gemeinnützig.
RL | Was müssen Studierende aktivieren, wenn sie sich auf den Weg zu dieser «Qualität» machen wollen?
SBJ | Sie müssen eigene Fragen oder Anliegen haben. Die Idee für eine sozialunternehmerische Gründung kann ein solcher Antrieb sein, aber es gibt bei uns auch viele studentische Initiativen, etwa das Repaircafé oder ein Projekt zur Schulung von Buschzahnärzten in Gambia, die als unternehmerisches Engagement auf Zeit ebenfalls sehr gut geeignet sind, diese Fähigkeiten zu entwickeln. Deshalb haben wir die Möglichkeit, eigene Projekte durchzuführen, in all unsere Studiengänge integriert. Jedes Semester entstehen neue Projekte als Ergebnis sozialen Engagements genauso wie in Kooperation mit Partnerunternehmen.
RL | Wie viel davon ist spezifisch Witten/Herdecke?
SBJ | Es ist sicher ein Unterschied, ob man mit 200 und mehr Kommilitonen in einer Veranstaltung sitzt oder mit 20. Bei uns sind echte Gespräche möglich – ja, fast zwangsläufig. Eigene Überlegungen können vorgebracht werden, es entsteht ein sehr dynamischer Austausch, der Argumentationsfähigkeit und Sozialkompetenz gleichermaßen fördert. Und das gilt nicht nur für die Fachseminare, sondern auch für unser Studium Fundamentale, für die vielen Begegnungen auf dem familiären Campus und wird natürlich in den studentischen Wohngemeinschaften fortgeführt. Aus diesen Begegnungen erwachsen Freundschaften und Netzwerke, die weit über die Studienzeit hinausreichen. Dazu kommen über das Jahr verteilt zahlreiche Veranstaltungen und Konferenzen, auch diese häufig als Projekte von unseren Studierenden geplant und durchgeführt, zu denen vor allem unsere deutschen Partnerunternehmen, aber auch internationale Gäste mit Expertise zu aktuellen Themen mit uns ins Gespräch kommen.
RL | Können Sie Beispiele nennen?
SBJ | Eine besonders «prächtige» Veranstaltung ist sicherlich der jährliche Familienunternehmer-Kongress, der eine lange Tradition hat. Die studentischen Teams setzen ungewöhnliche Themen wie «Glück» oder «Zukunftsmusik» und begeistern Mitglieder von Familienunternehmen jedes Jahr aufs Neue. Klein, fein und fast intim sind dagegen die Wittener Unternehmergespräche, bei denen einzelne Top-Führungskräfte sehr persönlich mit den Studierenden ins Gespräch gehen und danach zum Essen in eine studentische WG eingeladen sind – mit unschätzbaren Momenten für beide Seiten! Auch die oikos Winter Schools werden von unseren Studierenden als internationale Konferenzen ausgerichtet und thematisieren beispielsweise «Future of Fashion» oder «How to Feed the World».
RL | Und wer am Ende doch die Welt retten will …
SBJ | … der ist bei uns an einem guten Ort. Wenn ich das richtig einschätze, haben wir an unserer Universität tatsächlich einen überdurchschnittlich hohen Anteil junger Menschen, die sich engagieren wollen und dann auch wirklich etwas tun. Bestimmte Fragen stellen sich in Variation in jedem Tätigkeitsbereich: Wie erziele ich die von mir geplante Wirkung? Wie erreiche ich meine Zielgruppe? Aber auch kritische Fragen werden gestellt und erörtert. So etwa, wenn der Staat sagt: «Prima, hier entsteht so viel Engagement, jetzt können wir uns aus bestimmten Bereichen noch weiter zurückziehen» oder wenn soziales Engagement eher Deckmantel als Unternehmenszweck ist.
RL | Welches Bild von der Zukunft der Arbeit hängt in Ihrer Fakultät an der Wand?
SBJ | Die Zukunft der Arbeit wird sich dynamisch entwickeln – und dabei werden hierarchische Strukturen an Bedeutung verlieren, während Team- und Kooperationsfähigkeiten in bunt aufgestellten Teams immer wichtiger werden; ein wesentlicher Grund für die vielen Gruppenarbeiten in unseren Studiengängen. Aber auch die einzelnen Bildungsbiographien könnten weniger geralinig als in der Vergangenheit üblich verlaufen. Junge Menschen werden sich immer wieder umorientieren und sogar ganz neu erfinden müssen. Das Vermögen dazu wollen wir anlegen – nicht nur durch die Vermittlung von Fachwissen während des Studiums, sondern für die persönliche Entwicklung und ein lebenslanges Lernen.
Wer in Witten/Herdecke studieren will, braucht dazu keinen finanzstarken Hintergrund. Die Aufnahme erfolgt durch gemischte Auswahlkomitees nach dem «individuellen Potenzial» der Kandidaten. Die Studiengebühren können durch die StudierendenGesellschaft, einem gemeinnützigen Verein, mithilfe des «Umgekehrten
Generationenvertrags elternunabhängig und sozialverträglich» finanziert werden. www.uni-wh.de
5 – augenblicke
tim und merlin
über eine freundschaft am abgrund
von Rald Lilienthal (Text) und Wolfgang Schmidt (Fotos)
Nach allen Regeln rund um den «Virus-Schutz» in den ersten Tagen der «Corona-Zeit» recherchiert, ist die folgende Geschichte eine wunderbare Fabel über die lebensgefährliche Existenz des Menschen!
«Ich war ein ziemlich bockiges Kind. Aus Erzählungen weiß ich, dass ich mich mit zwei Jahren noch immer geweigert habe zu sprechen. Erst als meine Mutter gesagt hat: Tim, du kannst alles haben, was du willst, du musst es nur aussprechen – ab da, fing ich an zu reden.»
Sagt wer? Irgendein heute Erwachsener, der sich an irgendeine ganz normale Kindheit erinnert? «Ich hatte immer gute Freunde, auf die ich mich verlassen konnte, mit denen ich durch die Gegend gezogen bin und mich stundenlang im Wald herumgetrieben habe.» Die typischen Vorstellungsbilder stellen sich ein. Ein paar Jungs, die mit ihren Rädern die Gegend unsicher gemacht haben – immer bereit, Abenteuer zu erleben, immer nur einen Schritt davon entfernt, sich das Knie aufzuschlagen oder Schlimmeres. An eine kongenitale Muskeldystrophie mit Merosin-Mangel und Laminin α2-Defekt denkt bei diesem Rückblick wohl niemand, nicht an einen schmächtigen dunkelhaarigen Jungen im Rollstuhl, der weder Fahrrad fahren, noch auf seinen eigenen Füßen mit den Kumpels durch die Gegend tollen kann, weil der angeborene «Baufehler» eines sogenannten «Neurotransmitterrezeptors» ihm zwar erlaubt, seine Muskulatur anzuspannen, nicht aber, sie dauerhaft aufzubauen und dabei Kraft zu entwickeln. Dass der heute dreiunddreißigjährige Tim Quiter dennoch halbe Tage mit seinen Freunden im Wald verbrachte und auch sonst eine von unmäßiger elterlicher Fürsorge weitgehend verschonte Kindheit und Jugend leben konnte, war keineswegs selbstverständlich – und, für alles, was in dieser Biographie dann folgte, ein echter Glücksfall. Und was «Inklusion» angeht – die Einbindung eines «Behinderten» ins «Normale» –, war im sauerländischen Kreis Olpe für Tim vom Kindergarten bis zur 10. Klasse hemdsärmelige Selbstverständlichkeit. Und das, obwohl zu dieser Zeit in jedem Einzelfall nachzuweisen war, dass ein behindertes Kind «leistungsbereit» und «leistungsfähig» sei, und obwohl das ganze Projekt gescheitert wäre, wenn auch nur ein einziges anderes «normales» Elternhaus «nein» gesagt hätte. Tim jedenfalls war bis zur Mittleren Reife immer mitten drin.
Als sich dann aber im ganzen Landkreis kein Gymnasium fand, das Tims Unterricht komplett im Erdgeschoß hätte durchführen können, war für den Sechzehnjährigen ein nächster Schritt in die Selbständigkeit fällig: Ein integratives Gymnasium samt Internat in der Großstadt Köln. Dabei macht der Junge schon bald eine Erfahrung, die gewissermaßen auf dem Kopf steht: «Ich habe zum ersten Mal Menschen kennengelernt, mit denen ich mich identifizieren konnte. Menschen, die alle behindert waren! So hatte ich mich selbst bis dahin gar nicht wahrgenommen. Ich war immer sehr eigenständig und so wie ich war – das war das Normale. Nicht normal waren die anderen um mich herum, und wenn einer behindert war, dann sie!»
Tatsächlich war mangelndes Selbstbewusstsein zu keiner Zeit Tims Problem. Schließlich lassen sich mit Intelligenz und Humor viele Einschränkungen kompensieren. «Wenn mir irgendjemand mit der Nummer ‹Oh, der arme Behinderte› gekommen ist, habe ich zuerst treudoof mitgespielt, lieb und brav gelächelt – nur um ihm dann mit Witz und Fantasie den Spiegel vorzuhalten.» Während Tim sich in Köln aufs Abitur und ein mögliches Studium vorbereitet, schreitet seine Erkrankung schubweise, wenn auch langsam, voran. Insbesondere das Atmen wird seit der Pubertät immer beschwerlicher und muss zuerst nachts durch ein Beatmungsgerät unterstützt werden. Schon aus diesem Grund hat der junge Mann mit seinem Auszug aus dem Elternhaus Anspruch auf eine Vollassistenz, also auf eine Begleitung, die ihm sieben Tage in der Woche, vierundzwanzig Stunden zur Seite steht.
«Rund um die Uhr eine Betreuung?» Wer so gedankenlos fragt, darf sich nicht wundern, wenn er von Tim und Merlin auf die Finger kriegt. «Tim wird nicht ‹betreut›. Er hat eine Assistenz engagiert. Tim ist der Chef! Und wir Assistenten sind dazu da, die Dinge zu tun, die er körperlich nicht selber tun kann!» Schaut man genauer hinter die soziale Einrichtung «Assistenz», begreift man sehr schnell den Unterschied. Denn es ist Tim, der sich an die Ämter wendet, Anträge schreibt und sich um sämtliche weiteren Formalitäten kümmert. Es ist Tim, der sich die Institution sucht, die ihm geeignete Helfer vermitteln kann. Er ist es, der die «Vorstellungsgespräche» führt und der schließlich, wenn irgendetwas nicht passt – genauer gesagt, wenn ihm etwas nicht passt! – sich wieder von einem Assistenten trennt. Wer, trotz berechtigter Ansprüche, alle diese Dinge nicht tut, landet am Ende in einer stationären Einrichtung, verzichtet auf die eigenen vier Wände und auf ein selbstbestimmtes Leben. So einfach ist das. Und so schwer!
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.