Kitabı oku: «a tempo - Das Lebensmagazin»

Yazı tipi:


1 – über a tempo

a tempo - Das Lebensmagazin

a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.

a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.

Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.

2 – inhalt

1 – über a tempo

2 – inhalt

3 – editorial Einen Anfang finden von Jean-Claude Lin

4 – im gespräch Du darfst dein Leben ändern Josef Ulrich im Gespräch mit Michael Stehle

5 – thema Impulse. Spielen lernen für eine freundliche Welt von Wolfgang Held

6 – augenblicke Die Raußmühle. Eine Insel im Meer des Vergessens von Uschi Groß & Wolfgang Schmidt

7 – herzräume Die kleine Elli von Brigitte Werner

8 – erlesen Astrid Seeberger – Lebensliteratur gelesen von Anne Overlack

9 – mensch & kosmos Was durch Merkur geschehen kann von Wolfgang Held

10 – alltagslyrik – überall ist poesie … süße Beeren im Schnee … von Christa Ludwig

11 – kalendarium Januar 2021 von Jean-Claude Lin

12 – was mich antreibt Was treibt mich an …? von Caroline Grafe

13 – unterwegs Was ist wesentlich? von Daniel Seex und Jean-Claude Lin

14 – kindersprechstunde Nur ein Schnupfen – oder doch Corona? von Genn Kameda

15 – blicke groß in die geschichte Ziemlich beste Feinde von Konstantin Sakkas

16 – von der rolle Ein amerikanischer (Alb-)Traum: Taxi Driver von Elisabeth Weller

17 – hörenswert Spätromantische Entdeckungen von Thomas Neuerer

18 – wundersame zusammenhänge Hören von Albert Vinzens

19 – literaratur für junge leser «Die Magie von Winterhaus» von Ben Guterson gelesen von Simone Lambert

20 – mit kindern leben Omaglück – Kinderglück von Bärbel Kempf-Luley und Sanne Dufft

21 – sehenswert Die Kammer des Schreckens. Ein neuer Fernsehfilm nach Ferdinand von Schirach von Konstantin Sakkas

22 – eine seite lebenskunst Alles wird gut. Ein Rezept

23 – sudoku & preisrätsel

24 – tierisch gut lernen Rosa und der eigene Wille von Renée Herrnkind und Franziska Viviane Zobel

25 – suchen & finden

26 – ad hoc Eine gemütliche Geschichte von Uchris Schmidt-Lehmann

27 – bücher des monats

28 – impressum

3 – editorial

einen anfang finden

Liebe Leserin, lieber Leser!

Wie kann ich hier überhaupt beginnen? Das frage ich mich den ganzen Tag schon und habe es eigentümlich schwer, darauf eine passende Antwort zu finden. Aber ohne Anfang kann ich gar nicht beginnen. Nichts geschieht ohne Anfang. Wie andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor ihnen müssen Judith Hermann und Martin Mosebach ein befreiendes Glücksgefühl erlebt haben, als sie den ersten Satz ihrer Geschichten fanden:

«Mein erster und einziger Besuch bei einem Therapeuten kostete mich das rote Korallenarmband und meinen Geliebten.»

So heißt der erste Satz der ersten Erzählung Rote Korallen des ersten Werkes Sommerhaus, später von Judith Hermann. Und beim älteren Martin Mosebach heißt der erste Satz seines Romans Der Mond und das Mädchen nicht minder, wenn auch anders, bestimmt:

«Wer eine Wohnung sucht, hat es mit einem der seltenen Augenblicke zu tun, in denen der Mensch wirklich einmal glauben darf, über die Zukunft seines Lebens zu entscheiden, denn im Wohnen, so vieldeutig dies Wort eben ist, liegt doch das ganze Leben beschlossen.»

Bei Judith Hermann handelt der erste Satz vom Verlust, aber darin findet sie den Anfang ihrer Erzählung. Bei Martin Mosebach handelt es von der sehr alltäglichen Suche einer Wohnung, in der aber ein «ganzes Leben beschlossen» werden kann, ja sogar auch ist. Für manche kann in einem winzigen Haiku über einen einzigen, flüchtigen Augenblick etwas wie eine halbe Ewigkeit «beschlossen» sein: Es ist ein Moment des Lebens, das uns voll aufnimmt, in dem wir eine Bleibe finden können. Zum Glück fand ich meinen Anfang für dieses Grußwort zum neuen Jahrgang unseres Lebensmagazins a tempo in folgendem Haiku der erst 1985 geborenen japanischen Dichterin Ayaka Satō: (Zitiert nach Du rouge aux lèvres. Haïjins japonaises, traductions de Makoto Kemmoku & Dominique Chipot, La Table Ronde, Paris 2008. Deutsche Fassung von JCL.)

初 春 の ア ッ プ ル パ イ や 窓 全 開

hatsu-haru no / appuru-pai ya / mazo zenkai

Apple Pie / zum Jahresbeginn / das Fenster weit geöffnet

Halten wir unsere Fenster weit offen für das, was das neue Jahr, im Frühling, Sommer, Herbst oder auch Winter uns Schönes, Erhebendes, Belebendes, Weiterbringendes, Erstaunliches und auch Beglückendes schenken kann! Dafür braucht es nicht so viel. Für Ayaka Satō genügte ein gedeckter Apfelkuchen. Wir alle, liebe Leserin, lieber Leser, werden das Kleine mit etwas Aufmerksamkeit finden, das uns die Weite und Frische schenkt. Und vielleicht ist ja auch unser Lebensmagazin für Sie wie ein geöffnetes Fenster zur Welt, die uns nährt und erfüllt!

Von Herzen grüßt Sie im neuen Jahr,

Ihr




4 – im gespräch

Du darfst dein änder leben

josef ulrich im Gespräch mit michael stehle

Fotos: Wolfgang Schmidt

Dieses Immer wieder stehen wir vor Herausforderungen – Krisen, Krankheiten und Schicksalsschläge verändern unser vertrautes Leben. Wie können wir dann unsere körperlichen und auch unsere seelischen Kräfte fürs Heute und Morgen stärken? Für Josef Ulrich, der sich nach dem Studium der Malerei und Kunsttherapie zunächst Projekten in sozialen Brennpunkten wie dem Jugendstrafvollzug widmete und später als Dozent für Kunsttherapie an Ärzteseminaren im In- und Ausland tätig war, können heilsame Entwicklungswege aus Krisen gemeinsam gefunden und begangen werden. 2002 absolvierte er die Ausbildung zum Psychoonkologen, baute in der Klinik Öschelbronn den Bereich Psychoonkologie auf und leitet dort Gesundheitsseminare mit dem Themenschwerpunkt Salutogenese und Krebs.

Michael Stehle | Lieber Herr Ulrich, seit 35 Jahren arbeiten Sie als Kunst­therapeut, seit vielen Jahren zudem als Psycho­onkologe und haben viel mit Menschen zu tun, die in ihrem Leben einen neuen Weg einschlagen – und aus ganz unterschiedlichen Beweggründen auch einschlagen müssen. Wenn Sie Rilkes Vers «Du musst dein Leben ändern» umformulieren würden in «Du darfst dein Leben ändern», wie ginge der Satz dann weiter? «Du darfst dein Leben ändern, weil …»

Josef Ulrich | Weil du durch deine Selbsterkenntnis und durch deine mit Herzenskräften getragenen Willenskräfte Entwicklungen ermöglichst, die dazu führen, dass sich deine Lebensenergie heilsam entfalten kann. Viele Menschen, mit denen ich hier in der Klinik Öschelbronn arbeite, haben irgendwann völlig überraschend die Diagnose Krebs bekommen. Diese Situation kann man gleichsetzen mit vielen anderen Krankheiten, mit denen man ebenfalls überraschend konfrontiert wird. Weltweit gibt es ja immer wieder neue Ereignisse, mit denen wir umgehen dürfen. Die Frage, wie wir diese Ereignisse anschauen, wie wir sie bewerten und wieweit wir daraus Fragen entwickeln, habe ich als sehr individuell erlebt. Es gibt Menschen, die sagen: «Ich lasse alles tun, was mir gesagt wird. Dann bin ich so schnell wie möglich wieder die bzw. der Alte.» Andere sagen: «Ich habe das deutliche Signal der Krankheit bekommen, dass etwas aus der Balance geraten ist, da will etwas neu wahrgenommen, beobachtet werden.» Und es gibt Menschen, die sagen: «Ich weiß ganz genau: Wenn ich so weitermache wie bisher, wird sich das Gleiche immer wieder ereignen, ich brauche eine Verhaltensänderung.» Wenn ein Mensch hierher zu uns kommt, ist die nächste Frage, wie weit er seinen Wahrnehmungshorizont öffnet, wie weit er bereit ist, wahrzunehmen. Viele Menschen sind primär erst einmal in der Vergangenheit zu Hause und entdecken dann die eine oder andere Überforderung, die sie erkennen lässt: «Jetzt brauche ich andere Verhaltensweisen, meine bisherigen Gewohnheiten und Muster haben mich hierhin gebracht. Ich muss herausfinden, wie ich selbst das Steuer über mein Schicksal in die Hand bekomme.» Andere wiederum lassen solche Themen gar nicht zu.

MS | In Ihrem Büro hängt der Spruch: «Die Energie folgt der Aufmerksamkeit.» Was verbinden Sie mit diesen Worten?

JU | Der Fokus der Aufmerksamkeit spielt eine wichtige Rolle. Gerade in der Onkologie machen viele Patienten die Erfahrung, dass sie eine Computertomographie zur Diagnose­klärung bekommen. In der Regel gibt es dann zwei Möglichkeiten der Antwort: Man hat einen Tumor entdeckt – oder eben nicht. Ich habe in den letzten 35 Jahren gelernt, dass wir eigentlich fünf Antworten brauchen. Die ersten Antworten haben wir gerade gehört, das Ja oder Nein. Wenn die Antwort ein Ja ist, wendet sich der Fokus der Aufmerksamkeit sofort auf den pathologischen Aspekt, auf das, was da erkrankt ist. Ich habe aber die große Bitte, dass wir den Menschen deutlich machen: Wenn du zum Beispiel 80 Kilo wiegst und lebensbedrohliches Tumorgewebe gefunden wurde, wiegt dieses betroffene Gewebe vielleicht 80 Gramm. Und was ist mit dem Rest? Mehr als 79 deiner 80 Kilo bestehen aus gesunden Zellen! Diese zweite Antwort hat also mit der Aufmerksamkeit auf das Gesunde zu tun. Die dritte Antwort lautet: Du bist jetzt hier – und du bist lebendig. Und lebendig sein heißt: Nichts ist, sondern alles ist im ständigen Wachsen, Entwickeln und Werden. Aus zellbiologischer Sicht können wir heute sagen: Wenn du 65 Jahre alt bist, warst du davon wahrscheinlich viele Jahrzehnte lang gesund. Und dort, wo jetzt die Krankheit ist, hat sich dein Organismus möglicherweise sehr oft schon gesund reorganisiert. Da ist also sehr viel Gesundes in dir. Es gibt zahlreiche Regenerationsprozesse, die in jeder Sekunde milliardenfach im Körper stattfinden. Die vierte Antwort ist: Die Kraft, die dich über so viele Jahrzehnte gesund erhalten hat, ist mit dem Auftreten der Krankheit nicht aus deinem Organismus verschwunden, sondern sie ist ja nachweislich dokumentierbar und in über 99 Prozent immer noch existent. Der fünfte Aspekt hat etwas mit dem großen Panorama zu tun und ist sehr entscheidend: Die Art, wie du die Welt siehst, wie du denkst, was du fühlst, wie du handelst, welche Rituale du hast, welchen Lifestyle du pflegst – all das moduliert die ersten vier Punkte: Du bist wertvoll, wichtig und von zentraler Bedeutung. Es bedarf aber eben – um über die erste Antwort von Ja oder Nein hinauszukommen – der Hinwendung zu sich selbst, der Auseinandersetzung mit sich selbst.


MS | Ein Sprichwort sagt: Ärzte leben davon, sich mit einer Krankheit zu beschäftigen, Patienten leben davon, sich mit der Gesundheit zu beschäftigen. Wie sieht diese Hinwendung zur eigenen Gesundheit unter Berücksichtigung der Selbstheilungskräfte aus?

JU | Viele erleben das erst einmal als eine Öffnung des Raumes der Hoffnung, wenn sie sich bewusst machen, dass sie nicht nur krank, sondern auch gesund sind. In der Ausbildung der Onkologen existiert das Thema Selbstheilungskräfte aber leider nur minimalistisch, auch im Medizin­studium ist es kaum existent. Ich habe in meiner Arbeit mit Menschen, die mit einer prognostizierten Lebenserwartung von zwei Tagen oder drei Wochen zu mir kamen, immer wieder erstaunliche Krankheitsverläufe erlebt, die zeigen, was das Leben alles bereithalten kann. Die Öffnung für dieses ständige Wunder der Heilung in uns ist für viele Menschen eine enorme Kräftigung und Stärkung des Selbstvertrauens. Es ist für jeden Menschen wichtig zu erkennen: Ich bin wertvoll, ich bin von Bedeutung, ich bin zentraler Mitgestalter in meiner Entwicklung – und an der Entwicklung der Welt.

MS | Wie sieht für den Menschen Josef Ulrich die Welt aus, in der er leben möchte?

JU | Ich möchte in einer Welt leben, in der ich Respekt und Achtung vor der Würde des Menschen immer weiter entwickeln kann. Ich möchte in einer Welt leben, in der Wertschätzung für die Individualität und ihre Begabung existiert. Und ich möchte in einer Welt leben, in der wir Menschen uns wieder vom stark kognitiv und spezialisiert geprägten «Kopffüßler», die wir heute ja oft geworden sind, weg entwickeln und die Erkenntnis gewinnen: Alles Gestalten auf der Erde vollzieht sich durch den Menschen in dominanter Weise. Es sind, wie Rose Ausländer schreibt, immer die Menschen:

Immer sind es die Menschen

Du weißt es

Ihr Herz ist ein kleiner Stern

Der die Erde beleuchtet.

Und ich wünsche mir, dass wir diese Kräfte in uns mit­einander teilen können und auf diese Weise heilsame Entwicklungswege wahrnehmen und fühlen und erleben.Die Inder haben das in ihrem Gruß «Namaste». Sie halten die Hände vor dem Herzen und verneigen sich. Einstein hat einmal Gandhi gefragt: «Was bedeutet dieser Begriff Namaste?» Kurz zusammengefasst hat Gandhi geantwortet: «Ich verneige mich vor dem Göttlichen in dir.» Ich glaube, wenn wir uns in dieser Haltung begegnen, in der jeder Mensch dieses Namaste in sich trägt, die göttliche Kraft, dann darf der Mensch so sein, wie er ist, und dann findet eine Begegnung immer auf der Grundlage der Neugierde für den Mitmenschen statt.

MS | Als wir uns anlässlich des Films Sein gemeinsam mit dem Regisseur Bernhard Koch getroffen haben, hat er berichtet, dass Ihr Buch Selbstheilungskräfte der ursprüngliche Impuls für ihn war, diesen Film zu machen. Sie selbst sind dann ja ebenfalls im Film aufgetreten.

JU | Die Begegnung mit Bernhard Koch und die Möglichkeit, einen kleinen Beitrag zu seinem Film liefern zu können, war eine große Bereicherung für mich. Bei diesen fünf Menschen, die im Film portraitiert werden und die sich zur Verfügung gestellt haben, aus ihrem Leben die Tür zum Herzen zu öffnen, ist mir eine Gemeinsamkeit besonders aufgefallen. Jede bzw. jeder von ihnen ist in seiner Biografie mit einer Erkrankung an einen Punkt gekommen, an dem sie oder er gespürt und gewusst hat: Ich selbst darf mitgestalten! Ich selbst kann an der anstehenden Entwicklung aktiv teilnehmen. Es hat also eine Hinwendung zu sich selbst stattgefunden. Und das hat jeder dieser fünf Menschen genutzt und dadurch auch die Fähigkeit entwickelt, Antworten zu geben auf das, was er vorher war. Es hat mich sehr begeistert, dass das Potenzial der Selbstantwort, der Selbstverantwortung als unmittelbare Unterstützung des Heilungsprozesses vorhanden und erlebbar war.

MS | Eine solche Offenheit bringt sicher nicht jeder Patient mit, dem Sie begegnen. Wie gehen Sie auf Menschen zu, die es schwer haben, eine ernste Erkrankung als Tatsache anzunehmen?

JU | Die Entweder-oder-Mentalität, die Haltung, man sei entweder gesund oder krank, verbaut uns viel. Sobald wir das Leben betrachten, werden wir immer darüber hinaus­geführt – und hineingeführt in die Aufgabe, anzuerkennen, dass das Leben ein ständiger Wandel und eine ständige Entwicklung ist. Und wir werden hineingeführt in die Aufgabe zu erkennen: Jede Pflanze entfaltet sich anders, abhängig davon, wo sie steht und welche Erde, welches Licht und Wasser ihr zur Verfügung stehen. Ebenso ist es bei den Tieren, die abhängig von ihrem Lebensraum sind. Beim Menschen gibt es ein zweifaches Umfeld: Da sind die äußere Natur und die eigene innere Natur, die Innenwelt. Wenn wir alles zusammen wahrnehmen, ist das hilfreich für heilsame Prozesse – und hilfreich, aus der Polarisierung herauszukommen. Das würde bedeuten, das man anerkennen kann: Ja, ich bin krank – und gleichzeitig gesund. Es gibt eine Geschichte eines alten Indianers, der mit zwei Wölfen ringt und seinem Enkel davon erzählt. Der Enkel fragt seinen Großvater: «Welcher Wolf gewinnt?» Und der Großvater sagt: «Der, den ich nähre.» Es stellt sich also die Frage: Worauf richte ich meine Aufmerksamkeit? Pathologie will wahrgenommen werden, aber nachhaltige Heilung verlangt Salutogenese, Entwicklung von Heilungsprozessen. Und das wiederum verlangt das Gesamtbild, das Loslösen vom Entweder-Oder, das zuvor schon erwähnte Panorama. Der Begriff «Panorama» stammt aus dem Altgriechischen: pan steht für «alles, ganz», der zweite Teil kommt von horao, «sehen». Es geht darum, die Komplexität zu sehen, die Multidimensionalität wie an einem runden Tisch miteinander zu teilen und heilsame Prozesse zu entwickeln. Das Loslassen des Absoluten und des Wenn-Dann, das Schwarz-Weiß, das Krank oder Gesund.

MS | Was kann erreicht werden, wenn Ihre Patienten sich auf die Überwindung dieser Gegensätze einlassen?

JU | Es sind die ganz besonderen Momente, in denen ich im Gespräch mit Krebspatienten höre: «Sie werden mich jetzt für verrückt halten, aber ich bin der Krankheit dankbar, weil sie in mir Möglichkeiten eröffnet hat, eine Entwicklung zugelassen hat, die ich nicht für denkbar gehalten hätte.» Jeder Mensch, der zu dieser Erkenntnis gekommen ist, steht damit vor der nächsten Aufgabe. Und die ist verbunden mit der Frage: Was kann ich tun, damit diese Entwicklung Kontinuität bekommt, ohne dass ich dafür die Krankheit brauche? Es geht darum, aus der eigenen Ich-Erkrankung heraus eine Bewusstwerdung stattfinden zu lassen. Ein nachhaltiger Heilungsprozess ist immer auch Bewusstwerdung.


5 – thema

impulse

spielen lernen für eine freundliche welt

von Wolfgang Held


Eine Zugfahrt von Stuttgart nach Basel. Das Ticket mit dem Handy zu kaufen gelingt mir nicht, also warte ich auf den Schaffner, denn im IC kann man ja auch im Zug noch ein Ticket nachlösen. Wenig später kommen gleich «zwei Offizielle», eine jüngere Frau in Ausbildung und ein älterer Herr: «Wohin möchten Sie? Basel? Da kommen aber 17 Euro für die Buchung im Zug drauf.» Ich schaue etwas verwundert. «Wussten Sie das nicht?» – «Nein.»

Jetzt geschieht das Überraschende: Der Uniformierte wendet sich an seine Auszu­bildende: «Jetzt haben wir hier einen sogenannten ‹schwierigen Fahrgast›. Er hat kein Ticket und müsste demnach diesen Aufpreis bezahlen.» Es folgt eine Gesprächspause, in der sich die Auszubildende und ich anschauen und wir dann beide den Blick zum Schaffner richten. «Du siehst aber», erklärt dieser weiter, «dass er es mit dem Handyticket versucht hat, einen netten Eindruck macht – und wir ihm diesen Aufpreis deshalb erlassen.» Dann zeigt er auf ihren Ticketcomputer. «Hier musst du drücken, damit der Zuschlag wegfällt.» Erstaunt nehme ich das Ticket zum regulären Preis entgegen, Zugbegleiter und Auszubildende wünschen eine gute Fahrt und wenden sich in aller Ruhe den anderen Reisenden zu.

Der Fahrschein ist im Lauf der Zeit zu Altpapier geworden, diese Erfahrung aber nicht. Jemand bricht aus seinem Regelwerk aus und macht, ohne eigentlichen Anlass, ohne eigenen Vorteil die Begegnung menschlicher. Tatsächlich: Wie oft vergessen wir, dass wir Menschen unter Menschen sind, dass das, was Partnerschaft und Familie im Kleinen sind, im Großen die ganze Menschheit ausmacht. Wenn aber in solch einem Moment, ein Mensch die Tür aufmacht zu dieser großen Gemeinschaft, dann ist es wie eine kleine geheime Geburt – die Geburt von etwas Neuem. Es lohnt sich, solche Momente festzuhalten, sie im Innern zu bewahren. Wenn die Mitwelt mal weniger nett ist, wenn man an Menschen, manchmal sogar an der Menschheit verzweifeln möchte, dann kann man sie hervorholen. Sie sind wie eine «seelische Apotheke» für alle Fälle.

Hier noch eine Geschichte überraschender Freundlichkeit (aus der Vor-Corona-Zeit): Ich bringe ein Ehepaar nach Zürich zum Flughafen. Viel zu selten machen die beiden Vielbeschäftigten Urlaub, und auch jetzt gibt es wieder viele Gründe, eigentlich zu Hause zu bleiben. Doch diesmal geben sie nicht den Pflichten nach, jetzt ist es endlich Zeit für eine Woche Griechenland. Beim Einchecken dann der Schock: Der Flug war schon gestern! Sie, denen nie solch ein Fehler unterläuft, hatten sich im Datum geirrt. Sie gehen zum Schalter, um neue Tickets zu kaufen. So einfach wollen sie den Urlaub nicht aufgeben. Dann der Schock: «3.000 Schweizer Franken extra und die Reise könne losgehen», meint die Dame der Fluggesellschaft. Das Paar schaut sich an und dann denken sie laut miteinander nach: die Reise doch bleiben lassen und sich den Papierstößen zu Hause am Schreibtisch widmen …Die Dame am Flugschalter folgt dem Gespräch der beiden, schaut zu ihm, zu ihr, und sagt plötzlich: «Na gut, 300 Schweizer Franken!» Als wären wir auf einem Bazar bietet sie die Tickets für ein Zehntel an. Das Paar staunt nicht schlecht und fragt, wie das denn möglich sei. «Ein solcher Sonderpreis sei eigentlich für ‹renitente Passagiere› gedacht. Beschwerden seien schlecht für die Stimmung, schlecht fürs Geschäft und mit einem günstigen Ticket könnte man sie am einfachsten beruhigen, wenn es notwendig würde», erklärt die Dame am Schalter. Und sie ergänzt: «Ich sehe nicht ein, dass ich dieses Geschenk immer nur für solche ‹Stinkstiefel› nehmen soll. Jetzt bekommen Sie das, weil Sie sonst ja gar nicht in den Urlaub fahren.» Wieder schiebt jemand kurzentschlossen die Regeln zur Seite und folgt seiner Eingebung. So sehr die Ersparnis natürlich das Paar erfreute, noch mehr war es der Entschluss zur Verwandlung. Die Erinnerungen an den Urlaub würden irgendwann verblassen – diese Anteilnahme und Improvisation des Musters tut es nicht.

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